ZWISCHEN FIKTION UND WIRKLICHKEIT

„Wer auch immer an einem schlechten Tag die Hölle erfunden hat, muss im Kopf eine genaue Vorstellung von Poso Wells gehabt haben“. So wird der Schauplatz des gleichnamigen Romans der ecuadorianischen Autorin Gabriela Alemán in dessen erstem Kapitel beschrieben. Poso Wells ist ein fiktiver Stadtteil der ecuadorianischen Hafenstadt Guayaquil.

Eine entsprechend düstere Stimmung zieht sich durch den Roman. Gleich zu Beginn kommt der verheißungsvollste Kandidat der anstehenden Präsidentschaftswahlen auf groteske Art und Weise ums Leben. Während einer Podiumsveranstaltung kann der Politiker seinen Harndrang nicht zurückhalten und da sein Mikrofonkabel mit einem Starkstrommast verbunden ist, kommt es zu einem Kurzschluss, und er und einige seiner Parteikollegen erliegen einem Stromschlag. Der einzige potenzielle Nachfolger verschwindet spurlos.

Der Journalist Gonzalo Varas nimmt sich des Falles an, doch schnell geht es um weit mehr als um den verschwundenen Kandidaten. Varas unterhält sich mit den Menschen im Stadtteil und findet heraus, dass seit Jahren immer wieder Frauen verschwinden, ohne dass irgendjemand Genaueres darüber zu wissen scheint. Schnell stellt er Verbindungen zum Verschwinden des Präsidentschaftskandidaten her und beschließt, eine Weile in Poso Wells zu bleiben. Doch die Geschichte wird nicht nur aus Varas’ Sicht erzählt.

Korruption, geschlechtsspezifische Gewalt, illegaler Raubbau an der Natur, all diese Thematiken verstricken sich in Gabriela Alemáns Roman ineinander. Es passiert viel in kurzer Zeit. Und so absurd der Roman doch an einigen Stellen anmuten lässt, so realistisch wirkt er auch an anderen. Während einige Charaktere – so wie der besagte Präsidentschaftskandidat oder der kanadische Investor Holmes, der auf der Jagd nach neuen Bergbauberechtigungen nach Ecuador gekommen ist – überspitzt, satirisch und unsympathisch dargestellt werden, so nahbar wiederum wirken zum Beispiel Varas und sein Freund Benito. Und so hoffnungslos und düster Poso Wells auch anmutet, so finden nicht nur die Figuren des Buches auch Schönheit darin.

Realität und Fantasie vermischen sich im Laufe des Romans besonders durch die eingebundenen Elemente aus der Erzählung Das Land der Blinden des Science-Fiction Autors H.G. Wells, dessen Name der Autorin wiederum zur Schöpfung des Romantitels diente.

Gabriela Alemán war 2007 Teil von Bogotá 39, einer Gruppe von 39 bedeutenden lateinamerikanischen Autor*innen unter 39 Jahren. Der Roman, der in Ecuador bereits 2006 erschien, ist das erste Werk der Autorin, das ins Deutsche übersetzt wurde. Der Maro-Verlag wurde für die Übersetzung mit der „Verlagsprämie 2021 des Freistaats Bayern“ ausgezeichnet. Wie die Autorin selbst im Nachwort zur deutschen Ausgabe schildert, ist der Roman inspiriert von politischen Entwicklungen rund um die Präsidentschaftswahlen 2006.

15 Jahre sind seit Erscheinen der Originalversion vergangen, dennoch lassen sich nach wie vor erschreckend viele Parallelen zum lateinamerikanischen Gegenwartsgeschehen ziehen.


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