Deutschland | Lateinamerika | Nummer 287 - Mai 1998

Ein wenig Befreiung von unten

Die unabhängige Solidaritätsbewegung in der DDR legte viel Hoffnung in das Modell

Große Dinge erwachsen oft aus geringen und zufälligen Anlässen. Wenn man denn die Entstehung der „Initiativgruppe Hoffnung Nicaragua“ (IHN) als ein solches „großes Ding“ bezeichnen möchte, so wird diese These bestätigt: 1981, die sandinistische Revolution hatte gerade zwei Jahre zuvor gesiegt, kommt es zwischen drei jungen „DDR-lern“ und einer US-amerikanischen Touristin in einer Ostberliner Gaststätte zu einem Streitgespräch über Nicaragua. Dieses Gespräch, in dem die DDR-Leute die Revolution verteidigen und in der Entwicklung Nicaraguas ein Zeichen der Hoffnung sehen, wird die Geburtsstunde der „Initiativgruppe Hoffnung Nicaragua” Leipzig.

Willi Volks

Nicht nur mit Worten die SandinistInnen verteidigen, sondern „konkret etwas für Nicaragua tun“ – so lautete die Quintessenz dieser Auseinandersetzung. Der Anlaß mag zufällig sein, die Motivation für unabhängige Gerechtigkeit war es nicht, meist hatte sie zwei Aspekte: Das Wissen von Elend in unserer Welt läßt Untätigkeit nicht zu. Und: Nur wer „etwas Sinnvolles tut“, konnte der Apathie und den vorgefertigten Strickmustern der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR entgehen.
Wie andere Basisinitiativen auch, standen die Mitglieder der IHN in einem generellen Spannungsfeld, denn charakteristisch und tragisch war, wie in fast allen Bereichen der ehemaligen DDR, die Trennung von staatlich bzw. gesellschaftlich kontrolliertem Vorgehen und dem innovativen, unabhängigen Engagement nicht weniger Bürgerinnen und Bürger. Nichts fürchtete das alte System mehr als klarblickende, nicht erpreßbare Menschen, die nicht aufgaben.

Engagement gegen den Staat

In dieses gesellschaftliche, besser noch Partei- und Staatsumfeld, pflanzte sich die Arbeit der IHN, deren Mitglieder mit durch das unabhängige Engagement für Nicaragua geschärftem Blick auch die gesellschaftliche Realität in der ehemaligen DDR kritisch reflektierten. Kunst und Kultur des Volkes, Befreiungstheologie und Dialog zwischen SandinistInnen und ChristInnen blieben somit nicht nur Begriffe aus einer fernen Welt, sondern wurden zu Instrumentarien für unser eigenes Handeln. Karim Saab, einer der Mitbegründer der IHN, brachte dies in einigen Thesen wie folgt zum Ausdruck:
– „Die Theologie der Befreiung verweist uns auf die Armen im eigenen Lebensbereich. … Christen in der DDR, die sich von der Theologie der Befreiung inspirieren lassen, müssen sich daher in ihrem eigenen Lebensbereich den Armen (Deformierten, Benachteiligten, Leidtragenden) zuwenden.
– Die Auseinandersetzung mit dem Elend in der Zweidrittelwelt provoziert Rückfragen an uns und unsere Gewohnheiten. … Hören wir von der Beteiligung salvadorianischer Christen am bewaffneten Befreiungskampf, sollten wir es nicht versäumen, unsere Haltung zur Gewaltfrage zu differenzieren….
– Wenn uns ein Mosambikaner von der Hoffnung erzählt, daß die neuen Verhältnisse in seinem Land einen „Neuen Menschen“ prägen werden, sollte uns das anregen, über die Verwirklichung dieses sozialistischen Ideals in der DDR nachzudenken….“
Diese Ausführungen spiegeln etwas vom Selbstverständnis der IHN-Arbeit wider. Innerhalb der quantitativ recht kleinen Gruppe der „unabhängigen“ Zweidrittelwelt-Engagierten waren Selbstverständnisdiskussionen eher die Ausnahme denn die Regel. Man war froh, sich überhaupt gefunden zu haben, kommunizieren und arbeiten zu können – möglicherweise „trennende“ Diskussionen wurden vermieden.
Aber klar war: Gruppen wie die IHN verstanden sich auch als entwicklungspolitisch Wirkende, die bewußt und gezielt das gesellschaftliche Konzept in der DDR, Normen und Wertvorstellungen mit Hilfe von Systemdiskussionen in den Zweidrittelweltländern in Frage stellten. Zugleich waren diese Gruppen Praxis- und Erprobungsfelder für Demokratieverhalten und alternative Ansätze für kommunikative und partizipatorische Strukturen. Neben der konkreten Zweidrittelwelt-Arbeit stellten sie ganz bewußt ein Stück Gegenöffentlichkeit in der DDR dar.

Zwischen Opposition und Anpassung

Eine solche Arbeit war ohne die Unterstützung der Kirche nicht möglich, da sich der realsozialistische Staatsapparat bekanntermaßen und paradoxerweise dem Bedürfnis nach echter Basisinitiative verschloß (was zweifelsohne auch zu seinem beschleunigten Verfall beitrug) und den bestehenden Gruppen das Leben schwer machte. Der Staat überließ sowohl die Legitimation der Gruppen als auch die Reglementierung in den meisten Fällen der Kirche, deren hierarchische Organisation er als Pendant zu sich (Staat im Staate) ansah und geradezu herausforderte.
Die Kirche nahm diese Rolle an – in Form einer Gratwanderung zwischen Opposition und Anpassung, als Konfliktvermittler und Stellvertreter. Mitunter war dabei die innere Zensur fast größer als die äußere staatliche. Diese politische Selbstbeschränkung stieß bei aktiven Basisgruppen zum Teil auf erhebliche Kritik. Dieser, im Verhältnis zwischen Kirchenleitung und Basisgruppen immer latent oder offen vorhandene Konflikt, verschärfte sich in den achtziger Jahren durch veränderte politische Rahmenbedingungen.
Die IHN war der Superintendentur Leipzig an der Nikolaikirche angegliedert. Dies bildete zum einen den Rahmen und die Voraussetzungen ihrer Arbeit, zum anderen aber befand sie sich damit auch in dem komplexen Spannungs-, Abhängigkeits- und Entsprechungsgefüge zwischen Kirche und Staat. Letztlich wurden viele Initiativen der Gruppen durch den Synodalausschuß bei der Superintendentur Leipzig mehr behindert denn gefördert, wie man heute aufgrund von Stasimit- und zuarbeit einzelner Mitglieder weiß. Auch die IHN war lange Jahre im Visier der Stasi. Mehrmals versuchte sie, Inoffizielle Mitarbeiter in die Gruppe einzuschleusen – manchmal mit Erfolg.
Unabhängig aber vom ambivalenten Verhältnis zwischen Basisgruppen und Kirchenleitung ermöglichte dieser Bezug der IHN eine Arbeit, die tatsächlich in die Öffentlichkeit getragen werden konnte und den vom Staat zuerkannten Rahmen sprengte. So zum Beispiel mit einer dreitägigen Veranstaltung zugunsten des Projektes der Gruppe, dem Landschulzentrum Monte Fresco in Nicaragua, an der sich eine ganze Reihe bekannter KünstlerInnen beteiligte, einschließlich einiger, die mit Auftrittsverbot belegt waren, oder durch die Veranstaltungsreihe „Hoffnung und Politik“, die zu einem Podium des Austausches über Innenansichten zur DDR wurde.
Auch nach außen, über die Ländergrenzen hinweg, wurde die staatliche Abschottung durchbrochen. So konnte jahrelang das Landschulzentrum Monte Fresco unterstützt werden, auch mittels des Erlöses aus einer mail-art-Ausstellung „Hoffnung Nicaragua“, an der sich KünstlerInnen aus etwa 20 Ländern mit ihren Arbeiten beteiligten und die in zahlreichen Kirchen zu sehen war.
Diese und andere Initiativgruppen wurden natürlich staatlicherseits nicht einfach hingenommen, sondern beständig behindert. So wurde eine Lichterkette der IHN vor dem Leipziger Capitol während der Internationalen Dokumentar- und Kurzfilmwoche 1983 zum Anlaß genommen, über die Botschaft den nicaraguanischen StudentInnen den Kontakt zur Gruppe zu untersagen, da diese vom CIA (!) unterwandert sei. An dieser Legende hatte die Gruppe jahrelang zu tragen, bis sie mit Hilfe eines neuen nicaraguanischen Botschafters ausgeräumt werden konnte.
Ähnlichen Behinderungen waren auch die anderen unabhängigen Gruppen ausgesetzt. Dies änderte jedoch nichts daran, daß die Nicaragua-Solidaritätsarbeit sich stark entwickelte. Wie im Westen, so im Osten: In der Soli-Szene war das „Modell Nicaragua“ Beispiel eines alternativen Gesellschaftsentwurfes. Anders aber als im Westen „strickte“ in der DDR der Staat selbst an diesem „leuchtenden Bild“ mit. Dies aber offenbarte die Absurdität nur um so offensichtlicher: Offizielle Solidarität mit Nicaragua war “in”, ließ sich davon aber eine Gruppe anstecken und initiierte ihrerseits Aktivitäten, so wurden diese argwöhnisch beäugt.
Die Nicaragua-Solidarität bildete nicht zuletzt wegen des „Modellcharakters“ den Schwerpunkt der Arbeit von unabhängigen Gruppen in der DDR. Aber es war nicht nur der Schwerpunkt, es war auch der einzige zu Lateinamerika: es gab nur Nicaragua. Es arbeiteten in den achtziger Jahren etwa zehn Basisgruppen und -initiativen zu diesem Land. Deren Aktivitäten waren sehr unterschiedlich akzentuiert und motiviert. Die IHN war eine der politischsten, andere hatten eher einen karitativen Ansatz und waren mehr durch eine „Paketpackmentalität“ geprägt. Zentren der Arbeit waren Leipzig, Jena, Berlin und Magdeburg.

Solidarität zwischen Ost und West

Manche Projekte waren eigentlich „Dreiecksbeziehungen“ Ost-West-Süd. Es waren nämlich West-Gruppen, die diese beiden (Vor)-Schulprojekte wesentlich förderten (Auf- und Ausbau der Infrastruktur, Gehälter für Kindergärtnerinnen etc.) während die Ost-Gruppen vor allem didaktisches und Schulmaterial beisteuerten. Vor allem über diese (verbotenen) Westkontakte gelangten dann auch die Informationen, Dias und sonstige Medien zu uns, mit denen wir unsere konkrete Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit bestritten. Man brauchte für dieses Engagement also verläßliche Verbündete und schuf sich gleichzeitig selbst größere – und damit wirkungsvollere – Arbeitszusammenhänge und -strukturen.
Eine der wichtigsten war INKOTA (Information, Koordination und Tagungen zu Problemen der Zweidrittelwelt). Der Name war Programm: es wurden die in der Regel schwer zu beschaffenden Informationen besorgt, koordinierte Aktionen gestartet und zentrale und dezentrale Tagungen durchgeführt. Wenn dann zu einer solchen Tagung zum Beispiel Bernd Päschke aus Mainz auftauchte, einen Stapel seines El Salvador-Buches „Befreiung von unten lernen“ über die Grenze geschmuggelt hatte und wir mit ihm gemeinsam eine „lateinamerikanische Bibelstunde“ durchführten, dann war dies ein ganz besonderes Highlight und die TagungsteilnehmerInnen fühlten sich danach selbst ein wenig „von unten befreit“.
INKOTA hatte es sich in der DDR zur Aufgabe gemacht, die Kluft zwischen Basisinitiativen und Administration zu überbrücken. Dabei kam uns zugute, daß zumindest einige Leute beim damaligen „Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR“ die Arbeit unterstützten, so daß wir als ökumenischer Arbeitskreis unter seinem Dach arbeiten konnten. Dies eröffnete die Möglichkeiten für Verhandlungen mit dem Staat „auf höherer Ebene“, die für eine Basisgruppe allein nicht möglich gewesen wären. Dadurch wurde einiges ermöglicht, daß auch der Nica-Arbeit zugute kam und deren AkteurInnen motivierte, weiterzuarbeiten. So wurde beispielsweise erreicht, daß über das staatliche Solidaritätskomitee einmal im Jahr unentgeltlich ein Sammelcontainer unabhängiger Nicaragua-Gruppen zu ihren Partnern transportiert wurde. Das war ein „unheimlicher Erfolg“, ebenso das Zustandekommen einer Studiendelegation der Evangelischen Studentengemeinde und INKOTA 1986 oder mein halbjähriger Aufenthalt in Nicaragua 1989.
So wie INKOTA vor der Wende die Grundlage für die Arbeit der unabhängigen Nica-Gruppen war, gingen von dem Netzwerk nach der Wende wesentliche Impulse für den Auf- und Ausbau dieser Arbeit aus.
Paradoxerweise hatte die Mehrzahl der Nica-Engagierten erst nach der Niederlage der Sandinisten 1990 die Möglichkeit, dieses Land und seine Leute von „Angesicht zu Angesicht“ kennenzulernen. Diese Möglichkeit führte zu einem Motivationsschub im Osten just in dem Moment, in dem sich Soli-Engagierte aus dem Westen wegen des fracasos der Sandinisten aus der Arbeit zurückzogen.

Nach der Wende

Die Wende brachte den unabhängigen Soli-Gruppen im Osten zudem einen unverhofften Geldregen. Von den rund 16 Millionen Mark Soligeldern, die der FDGB veruntreut hatte, zahlte dieser, das schlechte Gewissen wog schwer, eine Million Mark auf das Konto von INKOTA. Über den „Nicaragua-Verteilerrat“ der unabhängigen Soligruppen wurde dieses Geld – nach der Währungsreform noch eine halbe Million DM – für Projekte vor allem in Zentralamerika zur Verfügung gestellt. Heute ist die 1994 gegründete Stiftung Nord-Süd-Brücken von großer Bedeutung für die Arbeit in den Neuen Bundesländern. Diese entstand aus übriggebliebenen Geldern des staatlichen „Solidaritätskomitees“ auf Intervention des „Entwicklungspolitischen Runden Tisches“, dem es gelang, diese Mittel der Treuhandgesellschaft zu entreißen – Theo Waigel wollte mit dem Geld Haushaltslöcher stopfen.
1990 führte INKOTA das erste und gleichzeitig letzte Workcamp zu DDR-Zeiten in Nicaragua durch. Das war der Ausgangspunkt für Kontakte, die über Nicaragua hinaus gingen, denn ein Teil der Gruppe besuchte auf Einladung des Lutherischen Bischofs Medardo Gómez auch El Salvador. Aus diesen Workcamps heraus – die bis heute Bestandteil der INKOTA-Arbeit sind – entstanden neue Projekt- und Partnerbeziehungen.
So haben heute INKOTA-Mitgliedsgruppen zahlreiche Kontakte nach Zentralamerika. Der „Eine Welt Laden am Dom“ in Brandenburg hat Projektbeziehungen nach El Paisnal, die Berliner Segensgemeinde pflegt eine Gemeindepartnerschaft mit der Gemeinde am Vulkan von San Miguel (beides in El Salvador) und das „Eine Welt Haus“ in Jena hat erreicht, daß es heute eine Städtepartnerschaft mit San Marcos in Nicaragua gibt.
Die Geschäftsstelle von INKOTA in Berlin begleitet heute Projekte in Nicaragua, El Salvador und Guatemala. Schwerpunkte sind die Menschenrechts- und Versöhnungsarbeit, Kommunalentwicklung und Frauenprojekte. Damit werden die Ansätze weiter verfolgt, die durch INKOTA noch zu Zeiten der DDR initiiert worden sind.

Willi Volks war in den achtziger Jahren Mitglied der „Initiativgruppe Hoffnung Nikaragua“ und ist seit 1994 Geschäftsführer des INKOTA-netzwerks.

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