Chile | Colonia Dignidad | Nummer 283 - Januar 1998

Was kommt nach der Würde?

Hilfefonds und Dokumentationszentrum für Opfer der Colonia Dignidad gefordert

Am 18.11.1997 trat vor dem Bonner Landgericht das Erwartete ein. Die Klage der Colonia Dignidad und deren deutscher Zweig Private Sociale Mission, Siegburg, gegen Amnesty International und die Zeitschrift STERN wurde nach einer Prozeßdauer von 20 Jahren abgelehnt.

Jürgen Karwelat, Dieter Maier

“Ein später, aber teurer Sieg der Wahrheit” betitelte Amnesty International die Presseerklärung. Amnesty darf jetzt das wieder, was der Organisation vor 20 Jahren durch eine Einstweilige Verfügung verboten worden war: zu behaupten, daß in der Colonia Dignidad im Auftrag der chilenischen Militärregierung gefoltert worden ist. Juristisch muß dazu noch die vom Kölner Oberlandesgericht bestätigte Einstweilige Verfügung aufgehoben werden. Damit ist in Kürze zu rechnen. Das Urteil hat einen faden Beigeschmack, denn das Gericht hat nicht etwa in der Sache entschieden, sondern die Klage lediglich deswegen zurückgewiesen, weil beide Klägerorganisationen rechtlich nicht mehr existieren. Amnesty International wird höchstwahrscheinlich auf den für den Prozeß bisher ausgegebenen 160.000 DM sitzenbleiben, denn Organisationen, die nicht mehr existieren, können schlecht auf Zahlung der Gerichtskosten verklagt werden.
Für das weitere Schicksal der Colonia Dignidad, deren Mitglieder und deren Opfer stellt sich ein weiteres Problem. Es ist eine Frage der Zeit, bis der eigentliche Führer der Kolonie der Würde, Paul Schäfer, der sich seit fast einem Jahr versteckt hält, verhaftet wird. Was aber geschieht, wenn die Siedlung ohne Führung ist? Wie viele alte Wunden werden aufbrechen? Wie viele Panikreaktionen wird es geben? Fast alle deutschen und chilenischen BewohnerInnen der Siedlung sind Opfer Schäfers, wenn auch einige von ihnen seine Verbrechen gedeckt oder gefördert haben. Schäfer kontrolliert die Arbeit, die Gedanken, die Gespräche und die Sexualität seiner Anhänger. Die SiedlungsbewohnerInnen haben Jahrzehnte oder sogar ihr ganzes Leben hinter dem Siedlungszaun verbracht und kennen weder Deutschland noch Chile. Sie können, bis auf die Führungsgruppe und die in Chile zur Schule gegangenen Kinder, kein Spanisch und haben keine anerkannte Schul- und Berufsausbildung. Viele haben keine Alterssicherung. Die “Not- und Interessengemeinschaft für die Geschädigten der Colonia Dignidad” hat bereits erklärt, daß die Mehrzahl der Angehörigen in Deutschland nicht in der Lage ist, ihre Verwandten aufzunehmen, und daß deshalb zumindest für eine “Übergangszeit die Lebensgrundlage der Bewohner … auf dem Gelände der Colonia Dignidad” erhalten bleiben müsse. Auch die chilenischen Behörden und Menschenrechtsorganisationen stehen vor dem Problem, was sie mit der Siedlung einmal anfangen sollen, wenn diese kein Staat im Staate mehr ist. Es liegt nahe, die SiedlungsbewohnerInnen, die bleiben wollen, weiter in der florierenden Landwirtschaft zu beschäftigen und langsam mit den Realitäten der heutigen Gesellschaft vertraut zu machen. Die Colonia Dignidad könnte als ökologisches Gemeinschaftsgut mit einer starken therapeutischen Stütze weitergeführt werden. Berufliche Qualifikation und sichere Rentenansprüche müßten das urchristliche Gemeinschaftsunternehmen, das Schäfer aufzubauen vorgab, ergänzen und nach und nach zu einem Wirtschaftsunternehmen mit geregelten Arbeitsverhältnissen und geregelten Besitzanteilen für die AnwohnerInnen machen.
Unter den vielen tausend Folteropfern, die die Pinochet-Diktatur hinterlassen hat, verdienen die überlebenden Gefangenen des DINA-Folterzentrums in der Colonia Dignidad besondere Beachtung. Es gibt allein in der südchilenischen Stadt Talca etwa 80 von ihnen, meist gebrochene Menschen mit schweren gesundheitlichen und familiären Problemen. Fast alle haben durch die Haft ihre Arbeitsstellen verloren. Noch schwerer hat es die Angehörigen der “Verschwundenen”, die nicht aus der Haft zurückgekehrt sind, getroffen. Die Pinochet-Diktatur hat hunderte politischer Gefangener “verschwinden” lassen. Viele von ihnen wurden zuletzt in der Colonia Dignidad gesehen. Einige dieser “Verschwundenen” haben das Martyrium offensichtlich überlebt und geben sich jetzt als ehemals Verschwundene zu erkennen. Die Ehepartner und Kinder der “Verschwundenen”, die nicht zurückgekommen sind, haben neben dem Verlust von Mann, Frau, Vater oder Mutter besondere Schwierigkeiten in der Altersversorgung und Berufsausbildung oder Studienfinanzierung zu verkraften, wenn der Geldverdiener in der Familie ermordet wurde. Da die politischen Gefangenen auf dem Privatgelände und unter dem Schutz, wenn nicht gar mit aktiver Beteiligung der Colonia Dignidad gefoltert wurden, haben sie einen moralischen und vielleicht auch einen juristischen Anspruch auf Linderungen wenigstens ihrer materiellen Probleme gegen den Rechtsnachfolger der Colonia Dignidad. Es bietet sich an, einen Hilfsfonds zu gründen, der von Vertretern der Opfer- und Menschenrechtsorganisationen verwaltet wird. Ziel sollte es also sein, mit einem Hilfsfonds aus den Mitteln der aufgelösten Colonia Dignidad sowohl den unterdrückten ehemaligen Sektenmitgliedern als auch den chilenischen Folteropfern und ihren Verwandten Unterstützung zu gewähren.
Darüber hinaus muß ein zumindest zeitlich begrenztes Dokumentationszentrum errichtet werden. Wenn der Ring des Schweigens und der Lüge, der die Colonia Dignidad umgibt, einmal aufgebrochen ist, wird eine Menge neuer mündlicher und schriftlicher Informationen auszuwerten sein. Schon jetzt gibt es weit mehr Material über die Siedlung als ausgewertet werden konnte. In dem Buch “Colonia Dignidad – Von der Psychosekte zum Folterlager” von Friedrich Paul Heller sind Beweise und Vermutungen weit größerer Verbrechen als bisher bekannt beschrieben bzw. angedeutet worden. Möglicherweise ist die Wirklichkeit sogar noch erschreckender. Das Thema Colonia Dignidad ist ein einzigartiges Beispiel dafür, wie alltägliche Gewalt und die entfesselte Gewalt einer Militärdiktatur, Politik und Verbrechen, Folter und Sektenwahn ineinanderspielen. Die Sicherung und Auswertung der Dokumente ist ein Teil der Aufarbeitung des Themas Colonia Dignidad und ein substantieller Beitrag zur Folterverhütung und Menschenrechtspädagogik.
Wir fordern daher, nach dem Ende der Colonia Dignidad einen materiellen Hilfsfonds für die deutschen Sektenopfer und die chilenischen Folteropfer der Colonia Dignidad einzurichten. Daneben muß ein Dokumentationszentrum “Colonia Dignidad” errichtet werden.

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