Aus(zeit) für Stange
Chiles kompromittierter Polizeichef tritt nicht zurück, sondern nimmt Urlaub
Noch keinen Monat im Amt, sah sich Freis Regierung unerwartet vor einem heiklen Problem: den Abgang des schwer angeschlagenen Polizeichefs, General Stange, zu erreichen, ohne über brauchbare verfassungsmäßige Instrumente dafür zu verfügen. Eigentlich hatte sich die Regierung vorgenommen, das Thema der unter der Diktatur begangenen Menschenrechtsverletzungen nicht offensiv anzugehen, um nicht die eigene Ohnmacht angesichts der von Pinochet hinterlassenen Verfassung vor Augen geführt zu bekommen. Als jedoch Stange die Behinderung eines Strafverfahrens zweifelsfrei nachgewiesen wurde, sah Frei die Gelegenheit für gekommen, im Konflikt mit der Polizei an Profil zu gewinnen.
Anlaß der Krise waren die Urteile in einem gegen Polizisten geführten Terroristenprozeß (s. Beitrag “degollados”). Der zuständige Richter erhob schwere Vorwürfe gegen die chilenische Polizeiführung. Sie habe unter der Verantwortung Stanges die Ermittlungen gegen die uniformierten Mörder gezielt sabotiert. Eine Tonbandaufnahme belastet den obersten Carabinero persönlich. Richter Juica forderte ein Verfahren gegen Stange und gegen weitere inzwischen pensionierte Polizeigenerale vor einem Militärgericht wegen “schwerer Verletzung militärischer Pflichten”.
Die von Pinochet hinterlassene Verfassung verwehrt dem chilenischen Präsidenten bis 1997 das Recht, die Oberkommandierenden der Streitkräfte oder den Polizeichef zu entlassen. Der Appell der Regierung, Stange solle aus freien Stükken zurücktreten, blieb erfolglos. In demonstrativer Provokation erklärten die obersten Generale Stange gegenüber ihre uneingeschränkte Loyalität sowie die des gesamten Polizeikorps.
Freis Schlappe
Angesichts dessen brachte Präsident Frei seine persönliche Autorität und die seines Amtes ins Spiel. In einer eineinhalbstündigen Audienz versuchte er vergeblich, Stange von der moralisch-politischen Notwendigkeit seines Rücktritts zu überzeugen. Trotzig trat Stange noch im Regierungspalast vor die Fernsehkameras und erklärte, er denke nicht an Rücktritt.
Nach Stanges Weigerung befand sich die Regierung in der Zwickmühle. Zwei verfassungsrechtlich mögliche Wege, die Einberufung des Nationalen Sicherheitsrates oder eine Verfassungsklage, wären voraussichtlich am Widerstand der extremen politischen Rechten gescheitert, die sich um Stange scharte. Ein Verfahren vor einem Militärtribunal wäre nicht nur langwierig gewesen. Darüber hinaus waren ernsthafte Zweifel an der Bereitschaft der Militärrichter angebracht, Stange zu verurteilen. War es typisch chilenisch, daß zwei Tage später zwischen Regierung und Polizeiführung doch noch eine Lösung ausgehandelt wurde?
Auf Antrag der Polizeiführung wird die Militärjustiz, aber unter einem zivilen Richter, nun die Vorwürfe gegen Stange und Konsorten untersuchen. Stange hat Urlaub genommen – ob dieser dreißig Tage dauert, wie er selbst erklärt hat, oder unbegrenzt ist, wie dies die Regierung verlauten ließ, ist ungewiß. Derselbe Stellvertreter Stanges, der noch am Karfreitag provozierend die Loyalitätsadresse an seinen Chef verlesen hatte, unterschrieb das Urlaubsgesuch seines Vorgesetzten und spricht inzwischen von “null Problemen” mit der Regierung.
Wie es dem Verteidigungsminister nach dem Affront gegenüber Frei gelungen ist, die Polizeiführung doch noch davon zu überzeugen, daß sie um ihres eigenen Images willen Stanges Abgang zustimmen müßte, ist bislang nicht bekannt geworden. Die Streitkräfte verhielten sich in der Öffentlichkeit zurückhaltend. Vermutlich hätten sie sich im Nationalen Sicherheitsrat, in dem sie über vier von acht Stimmen verfügen, auf die Seite der Carabineros geschlagen. Dennoch hat das Militär offenbar mit der – wenn auch geringen – Möglichkeit gerechnet, daß sich einer ihrer Vertreter im Sicherheitsrat gegen Stange wenden könnte. Immerhin waren es Informationen aus militärischen Geheimdienstkreisen gewesen, die zu den Verurteilungen im degollado-Prozeß geführt hatten. 1985 hatte sich die Militärjunta von der Ermordung Manuel Guerreros, Santiago Nattinos und José Paradas distanziert. Pinochet hatte seinerzeit sogar den für das Terrorkommando verantwortlichen Polizeichef Mendoza geschaßt. Zudem hat das Militär anscheinend kein großes Interesse an einer Konfrontation mit der Regierung. Das vordringliche Interesse des Militärs besteht in der Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Zustands der kontrollierten Demokratie. Allzu großer Wirbel um den angeschlagenen Polizeichef käme also durchaus ungelegen.
Mehrere Zeitungen spekulieren, wann und wo Pinochet seinen Kollegen getroffen habe, um diesen umzustimmen. Da das gespannte Verhältnis zwischen beiden allgemein bekannt ist, ist es eben nicht so, als würde ein Mann Pinochets geopfert. Der Urlaub Stanges, der ein erster Schritt zur Amtsniederlegung sein könnte, ist demnach in erster Linie als das Ergebnis interner Auseinandersetzungen innerhalb des Repressionsapparates zu werten.
Frei wird von der Presse gerügt
Das Krisenmanagement der Regierung erhielt in den Medien weitgehend schlechte Noten. Die zunächst gewählte Form der öffentlichen Auseinandersetzung, der Appell an Stanges Gewissen, die Tatsache, daß Frei ihm Bedenkzeit eingeräumt hatte: all das wurde als Fehler, als falsche Strategie gerügt. Doch zweifelsohne hat die öffentlich ausgetragene Debatte Stanges Position geschwächt und letztendlich dazu beigetragen, daß Polizei- und Militärführung ihn zu seiner Entscheidung drängten.
Es erscheint paradox, daß Pinochet als Präsident im August 1985 den damaligen Polizeichef und Putschkomplizen Mendoza zum Rücktritt zwingen konnte, der demokratisch gewählte Präsident heute jedoch machtlos bleibt und auf die Unterstützung der “Sicherheitskräfte” angewiesen ist. Frei hat den Versuch unternommen, aus der unter legalen Aspekten aussichtslosen Position politisch-moralischen Druck wirken zu lassen, mußte sich jedoch seine Grenzen zeigen lassen. Nun tritt der kompromittierte Polizeichef zwar nicht zurück, aber seinen Urlaub an.
Es wird sich jetzt zeigen, ob wichtige Fragen zwischen Regierung und Polizei geklärt werden können: die Entwicklung einer Politik der inneren Sicherheit, die mit demokratischen Zuständen vereinbar ist. Bislang entscheidet die Polizei autonom über ihre Einsatzpraxis – kein Minister ist weisungsbefugt. Zu klären wäre auch die eindeutige Zuordnung der Polizei unter das Innenministerium. Die doppelte Abhängigkeit von Verteidigungs- und Innenminister, Erbschaft der Diktatur, bedeutet in der Praxis Autonomie. Angesichts der herrschenden Verhältnisse kann die Regierung diese Fragen nur im Einvernehmen mit jener Polizeiführung lösen, mit der sie sich im Konflikt befindet.