Musik | Nummer 243/244 - Sept./Okt. 1994

25 Jahre “Tropicália”

Zwischen Futurismus und unbestimmter Nostalgie

Ihre bedeutendsten Vertreter, Caetano Veloso und Gilberto Gil kamen allein – ohne Band. Gerade einmal mit einer Gitarre tourten sie durch Europa und ka­men dabei auch durch deutsche Städte. Wie zu erwarten, gastierten Gil und Caetano – zum ersten Mal gemeinsam in Berlin – im Tempodrom. Am Tag zuvor war Brasilien auch noch Weltmeister geworden. Die Gruppe Olodum und Ed­son Carneiro machten das brasilianische Sommerpaket in diesem Jahr kom­plett. Es hatte schon lange keine so guten Nachrichten mehr gegeben, so gute Gruppen übrigens auch nicht.

Claudio Guimaraes Übersetzung: Brigitte Müller

Die Produzenten kündigten Gil und Cae­tano mit einem “akustischen Konzert” an. Die Anweisung, das Publikum möge doch während des Konzerts sitzenbleiben, wi­dersprach den Erwartungen und dem Temperament der Exilgemeinde. Dennoch kam der Nationalstolz – gelegentlich uner­bittlich und hemmungslos – zum Aus­druck. Eine kulturelle Identität wurde her­ausgesungen. Eine Identität, die immer auf dem Prüfstein steht und die viel den immer neuen Varianten dessen schuldet, was sie schon immer war und weiterhin sein wird – “Tropicália”.
Zur allgemeinen Überraschung blieben fast alle sitzen, erst nach der Zugabe ex­plodierten die Begeisterungsstürme über die vierfache Weltmeisterschaft. Die Be­sucher hatten Fahnen, Rhythmusinstru­mente und Trommeln mitgebracht, die aber nur zwischen den Stücken den Ap­plaus anheizten. Getanzt wurde wenig – zu Freud oder Leid der ZuhörerInnen, wie bei jeder anderen Vorstellung der beiden Mu­siker. Alte und neue Klassiker wie “Avenida Sao Joao” oder “O Haiti é aqui” wurden im Chor von Sao Paulo nach Ba­hia getragen. Andere wurden von Caetano und Gil selbst von einem Ende zum ande­ren, von Süden nach Norden angestimmt, wobei sie einander abwechselten und das Publikum zum mitsingen animierten.
Ein magischer Moment des Konzerts war sicher der afro-brasilianische “Jodler” von Gilberto Gil. Ein spiritueller Widerhall, der bis in die Seele vordringt – durch Kontinente und Jahrhunderte hindurch. Gemeinsames Solo. Eine Wiederbesin­nung auf die Vorfahren, ein Kreisen um die Sterne. Ein Gefühl, als ob diese Zele­brierung der Stimmen plötzlich das Uni­versum in einen Klangraum für ein sehr langes Echo verwandelt. Ein in sich ge­schlossenes Verständnis von sich und der Welt, in dem die Ursprünge des Kosmos offenbar werden, losgelöst von dem Teil der Welt, in dem wir uns befinden. Diese ästhetische Erfahrung bringt auf den Punkt, was Gilberto Gil für die brasiliani­sche Musik und Kultur überhaupt ist.
Die Bedeutung von Caetano läßt sich vielleicht mit Hilfe einer kleinen Anek­dote aus dem Konzert beschreiben: Gil lädt einen Musiker aus dem Publikum spontan auf die Bühne ein. Irgendwann deckt dann eine brasilianische Fahne Caetanos Gesicht zu, das für einen langen Augenblick erstarrt. Caetano rührt sich nicht, bis man ihm die Fahne abnimmt. Ohne aus der Fassung zu geraten verwan­delt er den Zwischenfall in seine und nur seine Performance. Unter dem brasiliani­schen Banner, das sein Gesicht verdeckt hatte, hinterläßt er den Sarkasmus und das Rästel seines Lächelns.
Es ist bekannt, wie gut er die Bühne be­herrscht: Caetano Veloso der Begnadete, das enfant terrible. Anlaß für unzählige Interviews und wissenschaftlicher Ab­handlungen. Doch seine einzigartige und widersprüchliche Persönlichkeit kann ei­gentlich nur durch die Texte seiner eige­nen Musik ergründet werden: “Wenn du eine unglaubliche Idee hast, mach’ am be­sten ein Lied daraus – es ist bewiesen, daß Philosophieren nur auf Deutsch möglich ist.”
Caetano war zweifelsohne der Motor der tropikalistischen Bewegung. Er bedient sich der konkreten Poesie nicht nur für den Samba, oder bietet Fados, Tangos und Rock’n Roll. Er geht zurück zu den An­fängen von Oswald de Andrade und ver­körpert die kulturelle Identität der Anthro­pophagie. Eine Anthropophagie, die für die Einverleibung aller nur möglichen Einflüsse steht und sich nicht in der politi­schen Metapher “eat the rich” erschöpft. Die “Tropicália” wurde für sich politisch, weil sie aus der Kunst entstand. Mehr als bloße Metapher, entspringt die Anthropo­phagie, die Caetano wieder aufleben läßt, aus dem brasilianischen “Wilden Den­ken”. Reines Stückwerk: “Kaugummi mi­sche ich mit Banane”. Dieses Manifest, gemeint ist das “Anthropophagische Ma­nifest” von Oswald de Andrade, das am Beginn der Verquickung der städtischen und ländlichen Kultur steht, wird inner­halb des Landes nur selten verstanden, noch weniger allerdings außerhalb der Tropen.
Man muß sie sich erst vor Augen führen, die ständige Erneuerung des Populären und seiner Rhythmen: in der Literatur der Avantgarde (von Oswald de Andrade bis Paul Leminsky), in der ernsten Musik, in der Pop- und Folk-Musik. Es ist daher nicht verwunderlich, daß viele der anwesenden Deutschen die Dimension der Darbietung nicht zu verstehen schienen.
Caetano ist auch “blanker Ruhm”. Das je­denfalls behauptet er selbst und verab­schiedet sich damit von der Wiege seiner Lieder. Caetano, Vater dreier Kinder: “Ich bin ein Schwindler; drittes Geschlecht, dritte Welt, drittes Jahrtausend”. Es gibt in Brasilien keine andere berühmte Person, die so viele persönliche Deklarationen macht, ohne ihre Intimsphäre preiszuge­ben.
Er ist eine vielseitige Persönlichkeit, manchmal zwiespältig und sich seines Größenwahns bewußt. Ein Anarchist-Su­perstar, Sohn eines Heiligen des Candom­blé, der die religiöse Unterdrückung der sexuellen gleichsetzt. Caetano hat keine Gelegenheit ausgelassen, seine radikale politische, musikalische und parteiische Unabhängigkeit zu demonstrieren. Im po­litischen Exil stößt er die Linken vor den Kopf, indem er Nietzsche zitiert: “es ist notwendig, die Starken vor den Schwa­chen zu beschützen”.
Wenn er in Liedern wie “Haíti nao é aqui” von Rassismus oder auch in seinen poe­tisch-politischen Manifesten über Stra­ßenkinder und Aids singt; gegen “…Schürzenjäger, in Krawatte oder Prie­stergewand”, ist er immer weit entfernt vom nur Plakativen, von alten Stereotypen und Geschichten “vom Arsch der Welt”. Es sind musikalische Abhandlungen, auch über die Anthropophagie, über “die selben alten Menschen”: “Amerikaner fühlen, daß etwas verlorengegangen, am Zerbre­chen ist”. Seine Rolle ist heute immer noch die des Provokateurs, des Künstlers jenseits der schnellen Antworten, dessen, der die tau­sendjährigen Fragen noch ein­mal stellt. Caetano ist die narzißtische Sphinx des Textes und der Musik und durch all seine undefinierbaren Verknüp­fungen der re­gional-kosmopoliten brasi­lianischen Kul­tur … unerschöpflich.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren