Bolivien | Nummer 487 - Januar 2015

Afrobolivianische Identität im plurinationalen Staat

Afrobolivianer*innen zwischen Anerkennung, Monarchie und Diskriminierung

In Bolivien leben etwa 25.000 Menschen, die sich selbst als Afrobolivianer*innen identifizieren. Sie sind Nachkommen afrikanischer Sklav*innen, die im 16. und 17. Jahrhundert nach Bolivien verschleppt wurden, um zunächst in den Silberminen von Potosí, dann im Anbau von Kaffee und Zitrusfrüchten in den subtropischen Yungas ausgebeutet zu werden. Auch heute noch leben die meisten Afrobolivianer*innen von der Landwirtschaft und verdienen durch Anbau und Verkauf von Koka ihr oft spärliches Einkommen. Die junge Generation allerdings zieht es in die Städte, wo sie um politisches Gehör und die Anerkennung ihrer Community in der Gesellschaft kämpfen.

Jonas Schreijäg und María Blanco Cancho

Schotterstraßen, Serpentinen und steile Berghänge. Der Ort Tocaña liegt mit 160 Einwohner*innen rund drei Autostunden von La Paz entfernt im subtropischen Norden Boliviens. Die kleine Häusersiedlung erstreckt sich auf einem mächtigen grünen Hügel voller Vegetation: Lemongras und Lianen wuchern an den Abhängen. Der Blick vom Dorfplatz schweift über die benachbarten Berggipfel, die von dichten Wolken bedeckt werden. Eine mächtige Kulisse. Doch der Ortskern von Tocaña wirkt öde: eine verriegelte Kirche, ein überdachter Beton-Sportplatz, zwei winzige Lebensmittelläden, kaum Menschen. Auf den ersten Blick hat die kleine Gemeinde nichts zu bieten. Dennoch: Tocaña ist anders als die meisten Ortschaften in der Umgebung. Das liegt an den Bewohner*innen.
„Wir sind gar nicht ursprünglich von hier“, sagt Jhony Perez. Dabei ist der 39-Jährige in Tocaña aufgewachsen. Es ist Sonntagnachmittag, 17 Uhr. Etwa 15 Dorfbewohner*innen haben sich neben dem Bolzplatz versammelt und trinken Bier aus Plastikbechern. Jhony Perez sitzt auf einer alten Schulbank aus Holz, die als Sitzgelegenheit aufgestellt wurde. Mit „nicht ursprünglich von hier“ meint er seine Vorfahren. „Die wurden hergebracht“, sagt er. Wie fast alle Menschen im Dorf ist Jhony Perez Nachfahre afrikanischer Sklav*innen. Im 16. und 17. Jahrhundert verschleppten die spanischen Kolonisator*innen massenhaft Frauen und Männer aus Afrika nach Bolivien. Der Plan der Konquistador*innen: Sie sollten sich in den Silberminen von Potosí für den Reichtum des spanischen Königshauses abarbeiten. Doch Höhenluft, Kälte und miserable Arbeitsbedingungen trieben viele in den Tod. Daraufhin wurden die versklavten Afrikaner*innen in den wärmeren Norden verkauft, um in den subtropischen Yungas in der Landwirtschaft ausgebeutet zu werden – vor allem in Anbau von Kaffee und Zitrusfrüchten.
Jhony Perez erzählt, seine Vorfahren kämen wahrscheinlich aus Mosambik. Das hätte vor ein paar Jahren mal jemand anhand der Untersuchung seines Kiefers festgestellt. Bei anderen Dorfbewohner*innen sei das Ergebnis der Kongo, Angola oder Nigeria gewesen. „Die spanischen Kolonisatoren haben absichtlich Sklaven aus verschiedensten Ländern verschleppt“, sagt Perez. „Damit sie sich nicht verständigen konnten und keine Rebellion starteten“. Die Frage der Ahnenforschung – wer jetzt aus welchem Land kommt – interessiert in Tocaña aber ohnehin keinen so wirklich. Keiner ist je nach Afrika gereist.
Unter den damals verschleppten Sklav*innen war auch der Thronfolger einer senegalesischen Ethnie. So jedenfalls erzählt der Mythos unter den Afrobolivianer*innen und so berichten bolivianische Medien, die BBC und die ARD. Seit dem offiziellen Ende der Sklaverei im Jahr 1826 wird auch unter den Nachfahren der Sklav*innen in Bolivien wieder ein König gekrönt, der König für die ganze afrobolivianische Community sein soll. Zwar wurde der Thron lange nicht vom bolivianischen Staat anerkannt, aber die Königsdynastie gab Anlass zu einer gemeinsamen afrobolivianischen Identität. Der US-amerikanische Anthroploge Norman E. Whitten schrieb etwa über den im 20. Jahrhundert thronenden Bonifaz, er sei ein black leader gewesen, den die Afrobolivianer*innen noch bis nach seinem Tod verehrt hätten.
Bis heute währt das Königreich. Im Internet präsentiert sich die Casa Real Afroboliviana (Afrobolivianisches Königshaus) mit eigenem Wappen und Throngeschichte. Der amtierende König, Don Julio Pinedo, wohnt in Murrata, rund zwei Stunden Fußmarsch von Tocaña entfernt. Der 72-jährige ist seit 1992 auf dem Thron und seit 2007 staatlich anerkannt. Er soll in einem kargen Eckhaus nahe des Dorfplatzes wohnen. Doch die Tür öffnet eine alte, dunkelhäutige Frau im traditionellen bolivianischen Pollera-Rock. Der König sei nicht da, sagt Königin Angélica. „Er arbeitet schon seit dem frühen Morgen auf dem Feld“. Die meisten Afrobolivianer*innen in den Yungas leben von der Landwirtschaft. In einer Studie des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen von 2011 liegt der Verkauf von Koka als Einkommensquelle unter den Afrobolivianer*innen an erster Stelle, 75 Prozent der Befragten gab an, mindestens einen Teil ihres Einkommens durch den Verkauf der Pflanze zu erwirtschaften. So lebt auch die Königsfamilie von der Landwirtschaft. Die 70-jährige Angélica sitzt im Erdgeschoss ihres Hauses. Sie verkauft Sardinendosen, Nudeln und Koka-Blätter in ihrem kleinen Dorfladen und schaut dabei eine Telenovela. „Wir haben nur das Nötigste“, erklärt die Königin. Sie und ihr Mann stünden der Community zwar mit Rat und Tat zur Seite, leider seien die finanziellen Mittel aber begrenzt. Auch wenn der afrobolivianische König von der nationalen Regierung in La Paz offiziell anerkannt ist, hat er keine exekutive Macht. „Mein Mann hat repräsentative, aber keine politischen Funktionen“, resümiert Doña Angélica und ist erpicht darauf, jetzt weiter ihre Fernsehsendung zu schauen.
Zurück in Tocaña. Von den rund 35 Familien hier sind fast alle schwarz. Die Afro-Identität spielt eine entscheidende Rolle im Dorf. In ganz Bolivien gibt es nach Schätzungen der Vereinten Nationen zwischen 30.000 und 35.000 Afrobolivianer*innen. Beim bolivianischen Zensus 2012 gaben laut Nationaler Statistikbehörde INE rund 23.300 Menschen an, sich als Afrobolivianer*innen zu fühlen. Diese Daten wurden zum ersten Mal überhaupt erfasst, denn erst seit der plurinationalen Verfassung von 2009 sind die Afrobolivianer*innen eine der 36 staatlich anerkannten Ethnien in Bolivien. In der neuen Verfassung werden sie in Artikel drei explizit als Teil der Nation aufgeführt und in Artikel 32 werden ihnen die gleichen ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Rechte zugesichert, wie der indigenen Bevölkerung.
Allein wegen dieser formalen Anerkennung hat Verfassungsvater und Präsident Evo Morales auch bei den Menschen in Tocaña einen Stein im Brett. „Früher mussten wir beim Zensus die Kategorie „andere“ ankreuzen. Wir waren nicht existent – Jetzt sind wir wer!“, freut sich Jhony Perez. Evo Morales’ Wertschätzung der afrobolivianischen Identität hat dafür gesorgt, dass so gut wie jede*r im Dorf den Präsidenten unterstützt. Landesweite Statistiken zum Wahlverhalten der Afrobolivianer*innen gibt es laut nationalem Wahltribunal zwar nicht, dennoch: „Wir Afrobolivianer haben bei den Wahlen 2014 vollends Evo Morales und seine Partei MAS unterstützt“, sagt Zenaida Avendaño Vasquez, eine Mitarbeiterin des Afrobolivianischen Zentrums (CADIC) in La Paz.
In Bolivien herrschte auch nach der offiziellen Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1826 noch eine extreme Abhängigkeit vom Großgrundbesitz. Zwar änderten sich die Besitzverhältnisse mit der Agrarreform von 1953, trotzdem gehören die Afrobolivianer*innen auch heute noch zum ärmeren Bevölkerungsteil Boliviens. NGOs und Internationale Organisationen wie die Minority Rights Group International oder das Welternährungsprogramm der UN gehen davon aus, dass Afrobolivianer*innen im Vergleich mit anderen Gruppen weniger verdienen und schlechteren Zugang zu Gesundheit und Bildung haben. Auch die Diskriminierung ist immer noch ein Problem, auch wenn 2010 ein Gesetz (Ley 045) verabschiedet wurde, das rassistische und diskriminierende Äußerungen und Handlungen mit einem Strafmaß von bis zu sieben Jahren Haft ahnden soll. Von den 135 angezeigten Verstößen gegen das Gesetz in den ersten 10 Monaten von 2013 wurden laut der Tageszeitung La Razon nur sieben tatsächlich verfolgt. Auch der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen kam 2013 zu dem Schluss, dass die Umsetzung des Gesetzes noch nicht funktioniere. In dem UN-Bericht heißt es: „Eine große Zahl der Afrobolivianer ist systematischer Ungerechtigkeit ausgesetzt, sie leiden unter fehlenden Meldemechanismen und mangelnder Unparteilichkeit von Behörden und Polizei“. Racial Profiling sei beispielsweise auch weiterhin ein großes Problem für die schwarze Bevölkerung. Jorge Medina ist der erste und im Moment einzige Afrobolivianer in der bolivianischen Abgeordnetenkammer und hat selbst am Gesetz 045 mitgearbeitet. Vier Jahre nach Verkündung des Gesetzes hätten rassistische Sprüche wie „¡Suerte negrito!“ zwar abgenommen, resümiert Medina auf seiner Website. Ein latenter Rassismus sei aber weiterhin vorhanden. Der spöttische Spruch, dem „kleinen Schwarzen“ Glück dabei zu wünschen, wenn er sich etwas anderem als der Feldarbeit widmet, charakterisiert den schwierigen Zugang zu öffentlichen Ämtern und Institutionen für Afrobolivianer*innen. „Früher ging kaum einer auf die Universität“, erklärt Medina am Telefon. „Heute zieht es immer mehr junge Leute in die Städte, für ihre Ausbildung gehen sie nach La Paz, Cochabamba und Santa Cruz“. In der Hauptstadt verschaffen sie sich auch immer mehr politisches Gehör: Neben dem Abgeordneten Medina setzt sich auch das Afrobolivianische Zentrum für ihre Belange ein. „Bolivien befindet sich in einer Transformation,“ fasst Medina zusammen. „Es ist jetzt die Aufgabe von Politik und Medien die Möglichkeiten der neuen Gesetze zu verbreiten, damit sie dann auch richtig angewendet werden“.Zurück in Tocaña. Hier sind es auch 188 Jahre nach Abschaffung der Sklaverei immer noch die Afrobolivianer*innen, die die Felder bestellen. Sie züchten heute vor allem la coca. „Die kann man drei bis vier Mal im Jahr anbauen“, sagt Reyna Ballivián, eine weitere Bewohnerin Tocañas, die seit sie denken kann auf dem Feld steht. Reich ist sie davon nicht geworden. Die 40-Jährige schaut aus einem kleinen Fenster ihrer Küche aus Lehmziegeln. „Mein Bruder arbeitet für die Regierung in La Paz, meine Schwester lebt in Spanien“, sagt Reyna. Auch sie wäre gern rausgekommen. Mit dem Koka-Anbau kann die alleinerziehende Mutter aber immerhin ihre zwei Kinder durchbringen. Früher habe die Dorfbevölkerung hauptsächlich Kaffee gepflanzt. Doch in den 90ern sei der von Schädlingen befallen worden. Ohnehin ist es in Bolivien – spätestens seitdem der Präsident selbst ein ehemaliger Koka-Bauer ist – lukrativer, die grünen Blätter anzubauen. Von den USA gestützte Anti-Koka-Kampagnen der Vorgänger-Regierungen beendete Evo Morales – auch deshalb sind ihm viele afrobolivianische Koka-Bauern und Bäuerinnen treu. In der neuen Verfassung genießt die Koka-Pflanze den Status eines Kulturerbes und ist in ihrer traditionellen Form ausdrücklich kein Betäubungsmittel. 2013 erreichte Bolivien für den legalen Koka-Anbau sogar eine Ausnahmeregelung im UN-Einheitsabkommen über die Betäubungsmittel.
Auch Jhony Perez lebt vom Koka-Strauch. Schon als Achtjähriger hat er auf dem Acker mitgeholfen. Während er spricht, kaut er immer wieder auf einem dicken Koka-Knäuel herum. In seiner linken Backenhälfte klemmen mindestens 20 Blätter, denen er den grasig schmeckenden Saft entzieht, die gegen Höhenkrankheit und Müdigkeit helfen. Diese kaubaren Energie-Booster kann Jhony Perez auch gut gebrauchen. Seine Ex-Frau ist mit einem anderen Mann nach Chile abgehauen und Perez muss seinen vier Kindern das Internat finanzieren. Tagsüber arbeitet er deshalb von 9 bis 17.30 Uhr auf den Koka-Feldern Tocañas. Nachts fährt er runter ins Tal, um in einer Mine Gold abzubauen. „Manchmal komme ich erst um sieben Uhr morgens nach Hause“, sagt Perez. Zwei Stunden später beginnt schon wieder die Feldarbeit.
Macht ihn die Schufterei nicht kaputt? „Nein“, betont der 39-Jährige später am Abend bei einer kleinen Feier in seinem etwa zehn Quadratmeter kleinen Zimmer. Es gibt Bier, Koka-Blätter und Gitarrenmusik. „Tocaña, meine Liebe, du bist meine Inspiration, singen Jhony, Reyna und die anderen. An der Wand hängen Fotos von Perez‘ Kindern. „Es ist schlicht hier, aber mir fehlt es an nichts“, sagt er gelassen. Zwei Mittzwanzigjährige kommen noch auf ein Bier vorbei. Sie sind in Tocaña aufgewachsen, aber haben sich in der nahegelegenen Provinzstadt Coroico mit einem kleinen Laden selbständig gemacht. „Das ist die neue Generation“, freut sich Jhony Perez, auch wenn sein eigener Alltag ein anderer ist: Am Tag nach der Feier in seinem Zimmer wollte Jhony Perez eigentlich zum Abendessen ins Dorf kommen. Aber dann kann er doch nicht. Es gebe viel Arbeit unten im Tal, sagt er am Telefon. „Ich muss heute Nacht in der Mine schlafen“.

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