Brasilien | Nummer 353 - November 2003

Agrarreform im Schneckentempo

In Brasilien nimmt die Gewalt gegen LandarbeiterInnen und LandlosenaktivistInnen erneut zu

Die erhoffte Wende im Kampf um Zugang zu Land verläuft stockend. Knappe Staatsfinanzen und erfolgreich mobilisierende GroßgrundbesitzerInnen verhindern den agrarpolitischen Durchbruch. Trotzdem herrscht weiterhin Optimismus – sowohl auf Seiten der Landlosen als auch auf Seiten der Regierung.

Gerhard Dilger, Laurissa Mühlich

Die brasilianische Landreform kommt kaum voran. Gerade 5.000 Familien haben unter der Regierung von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva seit Jahresbeginn ein Stück Land zugewiesen bekommen. Lulas Versprechen, er werde in diesem Jahr 60.000 Familien ansiedeln, lässt sich kaum mehr umsetzen. Schuld daran sind knappe Haushaltsmittel, die schwerfällige Bürokratie und der Widerstand, den Brasiliens Eliten jeglichem Anflug von Umverteilung entgegenstellen.
Um das Vertrauen der Finanzmärkte nicht aufs Spiel zu setzen, will der Staatschef auch im kommenden Jahr an seinem strikten Sparkurs festhalten. Mit umgerechnet 300 Millionen Euro wird der Etat des Ministeriums für ländliche Entwicklung noch unter dem Stand von 1995 liegen. Der zuständige Minister Miguel Rossetto vom linken Flügel der PT (Arbeiterpartei) hatte mit Regierungsbeginn zunächst zahlreiche SympathisantInnen der Landlosenbewegung MST mit ins Boot geholt, um die neue Agrarreformpolitik umzusetzen. Auf der Agenda stand, mehr als ‚nur’ Landbesitz für die etwa fünf Millionen landlosen Familien in Brasilien zu schaffen. „Das zentrale Element wird die Umwandlung der Landlosen in Agrarproduzenten sein, die landesweit technische Unterstützung und Kredite bekommen“, charakterisierte Rossetto Mitte des Jahres die Stoßrichtung der neuen Agrarreform. Von der Umsetzung der ambitionierten Ziele ist man jedoch weit entfernt. Der Projektetat ist von umgerechnet 136 auf 48 Millionen Euro zusammengestrichen worden – Qualität statt Quantität heißt nun die Parole. Doch in Wirklichkeit herrscht Stillstand.

Rückschlag in São Gabriel

Die Auseinandersetzungen um die Enteignung der Ländereien des Farmers Alfredo Southall in São Gabriel im südlichen Bundesstaat Rio Grande do Sul lassen den Stillstand nur allzu deutlich werden. Nachdem Lula die Enteignung dessen 13.200 Hektar großen Latifundiums verfügt hatte, kassierte das Oberste Bundesgericht das Präsidentendekret wegen angeblicher Formfehler bei der Begutachtung des kaum genutzten Landguts. Bereits 2001, unter der vorangegangenen Regierung Cardosos, hatten die Gutachter des Ministeriums für ländliche Entwicklung Southalls Landbesitz als „unproduktiv“ deklariert und so den Weg zur Enteignung frei gegeben. Das Dekret des neuen Präsidenten wurde nun jedoch annulliert. Die Gutachter hatten bei ihrem zweiten Besuch des Geländes – die erste Besichtigung scheiterte am Protest Southalls und anderen Großbauern, die die Gutachter am Betreten des Grundstücks hinderten – versäumt, den Besitzer vorab über ihr Kommen zu informieren. Statt der derzeit 42 bei Southall beschäftigten LandarbeiterInnen sollten nach der Enteignung rund 500 Familien der Landlosenbewegung MST die Länderein bewirtschaften – sie gingen nun leer aus.
Die GroßgrundbesitzerInnen der Region, allen voran der Bürgermeister der Stadt São Gabriel, Rossano Gonçalves, sehen sich in ihrer Auffassung vom „gescheiterten Modell“ der Landreform bestätigt. „Das sind Arbeitslose aus den städtischen Armenvierteln, die von Landwirtschaft keine Ahnung haben“, drückt es Gonçalves noch milde aus. Von „Chaoten“, „Revolutionären“ und „menschlichem Abschaum“ ist in den Kreisen der Agrarier die Rede, wenn es um die Landlosenbewegung geht. Zunehmend zeigen die GroßgrundbesitzerInnen ihren Unmut nicht nur mit Worten. Neben ihrem Einfluss auf lokalen juristischen Ebenen und der öffentlichen Kriminalisierung der Landlosen nimmt die Zahl bewaffneter Milizen zu, die die Agrarier gezielt gegen Landlose einsetzen. So wurde Ende September bekannt, dass eine der mächtigsten brasilianischen Mafiagruppen, das PCC (Primero Comando da Capital), nun auch gegen Landlose vorgehen werde. Zwei Anführer des MST erhielten bereits Morddrohungen. Nach kirchlichen Angaben starben allein in diesem Jahr bei Landkonflikten bereits 55 Menschen.

Zweckoptimismus ist angesagt

Rund 27.000 GroßgrundbesitzerInnen kontrollieren und verteidigen derzeit in Brasilien etwa 178 Millionen Hektar Land, von dem rund die Hälfte als nicht bewirtschaftet gilt. Demgegenüber campieren nach amtlichen Angaben in ganz Brasilien 200.000 der etwa fünf Millionen Landlosenfamilien an Straßenrändern. Arbeitslose aus den städtischen Armenvierteln sind zu Tausenden dazugestoßen. Hilfe erhoffen sie sich seit Anfang des Jahres vom Hoffnungsträger im Präsidentenpalast. „Wenn Lula die Agrarreform nicht hinkriegt, dann schafft es keiner“, meint der Landarbeiter Hélio Dickel, der die letzten vier Jahre in diversen MST-Zeltlagern verbracht hat und gehofft hatte, in São Gabriel zum Zug zu kommen.
Ähnlich wie an der Basis zeigen sich die Führungsmitglieder des MST ebenso geduldig wie optimistisch. „Zum ersten Mal sitzen unsere Verbündeten in der Regierung“, sagt MST-Sprecher Miguel Stedile von der Regionalleitung in Porto Alegre. Durch Landbesetzungen und Protestkundgebungen helfe man dem Präsidenten dabei, den Konservativen auch innerhalb der Regierung etwas entgegenzusetzen, lautet die Sprachregelung bei der profiliertesten Basisorganisation im Lande. Stedile unterstützt den behutsamen Ansatz der Regierung. „Anders als Cardoso, der Brasilien in den Dienst des Latifundiums gestellt hatte, begegnet uns Lula nicht mehr mit Repressionen.“
Doch solche Beteuerungen klingen immer mehr nach Zweckoptimismus. In der Öffentlichkeit sind nämlich nun wieder die Konservativen in der Offensive, die die Landlosen denunzieren. Präsidialamtsminister José Dirceu, der starke Mann in der Regierung Lula, sieht hingegen „Klassenvorurteile gegen die sozialen Bewegungen“ am Werk. Angesichts der „dramatischen Situation“ Brasiliens werde in der Presse gezielt die Angst vor den Armen geschürt. José Genoino, der Vorsitzende der regierenden Arbeiterpartei, beklagt die „politische Verfolgung“ von MST-Aktivisten im Bundesstaat São Paulo. Ein Provinzrichter verurteilte den prominenten Landlosensprecher José Rainha und dessen Frau wegen „Bandenbildung“ zu mehrjährigen Gefängnisstrafen (s. Artikel in dieser Ausgabe). Wie ein Schwerverbrecher ist Rainha in einem Hochsicherheitsgefängnis untergebracht. Durch solche Urteile würden die Landkonflikte angeheizt, heißt es aus dem Justizministerium. Zwar seien viele Landbesetzungen illegal, aber auf der anderen Seite würden Milizen und Pistoleiros auch unrechtmäßig erworbene Ländereien verteidigen.
Wie lange die kooperative Stimmung zwischen MST und Regierung noch anhält, ist unklar. Denn die Strategie, durch Landbesetzungen und soziale Mobilisierung konservativen Stimmen in der Regierung etwas entgegenzusetzen, dürfte nur bei solch diszipliniertem Vorgehen der LandlosenaktivistInnen wie im südbrasilianischen Rio Grande do Sul lange gut gehen. Denn gerade im Nordosten wuchs der Druck der Landlosen in den letzten Monaten enorm. Fast täglich werden hier Lastwagen geplündert oder Farmen verwüstet.
Im vergangenen Jahr wurden insgesamt 103 Ländereien durch Landlose besetzt. In diesem Jahr haben allein bis Ende August 184 Besetzungsversuche stattgefunden.

KASTEN:

Südbrasilianische Lobby für Gensoja erfolgreich

Während die Agrarreform nur im Schneckentempo voran kommt, wurde Ende September ohne viel öffentlichen Aufsehens der Anbau von gentechnisch verändertem Soja in Brasilien zunächst auf ein Jahr befristet erlaubt. Ohne auf die Einwände von UmweltschützerInnen und einigen Abgeordneten einzugehen, kam die Anweisung zur Unterzeichnung des Dekrets von Präsident Lula selbst. Noch vor seiner Wahl im Oktober 2002 hatte er sich kritisch gegenüber genmanipuliertem Soja geäußert. Nun scheinen die Bedenken wie weggewischt zu sein – der wirtschaftliche Nutzen steht im Vordergrund der Argumentation.
In Südbrasilien duldete die Regierung bereits in wachsendem Umfang die illegale Einfuhr genmanipulierten Saatguts. Die Begründung der Bauern waren die Anbaukosten, die um ein Drittel unter denen konventionellen Anbaus lägen. Mit der Freigabe des Gen-Sojaanbaus wird sich die Rechnung jedoch verändern: der US-Konzern Monsanto, der das Saatgut vertreibt, wird nun Lizenzgebühren von seinen AbnehmerInnen verlangen können. Zudem drohen Umsatzeinbußen, da im Bereich des genmanipulierten Soja mit dem subventionierten Angebot der Sojabohnen aus den USA konkurriert werden muss. Zudem werden sich die Absatzmengen in Europa wahrscheinlich verringern, da die AbnehmerInnen hier bisher hohen Wert auf Sojaprodukte aus konventionellem Anbau legen.
Im Gegensatz zum Zweckoptimismus, der in Sachen Agrarreform zwischen der Landlosenbewegung MST und der Regierung noch hochgehalten wird, sind die Töne in der Frage genmanipulierten Sojaanbaus weitaus schärfer. Die Regierung Lula habe sich “zur Geisel von Monsanto und skrupellosen Landwirten” machen lassen, so Pedro Stedile vom MST in Rio Grande do Sul.

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