Guatemala | Nummer 330 - Dezember 2001

Alarmstufe Gelb

Die Bevölkerung in Guatemala leidet, die Regierung schaut zu

Der vergangene Sommer in Guatemala war geprägt durch die Hungersnot und soziale Proteste. Die diesjährige Dürre in Zentralamerika, die Kaffeekrise und die Unfähigkeit des Präsidenten Alfonso Portillo haben Guatemala in eine Krise gestürzt, die es voraussichtlich nicht so bald überwinden wird.

Anja Witte

Die Armut ist ein Problem, das uns beschämt.“ Mit diesen Worten eröffnete Präsident Alfonso Portillo Ende Oktober seine Rede auf einer Veranstaltung zum Thema „Verminderung der Armut in Guatemala“. Er bezog sich damit auf die frisch vorgestellte Studie der nordamerikanischen Hilfsorganisation USAID, nach der 80 Prozent der elf Millionen Einwohner Guatemalas unter der Armutsgrenze leben und 46 Prozent der Kinder an chronischer Unterernährung leiden. Der Ernährungsstand guatemaltekischer Kinder ist laut USAID vergleichbar mit dem in Ländern wie Mozambique und Bangladesh. Dass Armut und Hunger in Guatemala überhaupt Probleme sind, hatten der Präsident und sein Vize noch im August vehement abgestritten, als sich der Leiter des Gesundheitszentrums von Jocotán im Departement Chiquimula an die Medien wandte, um auf die katastrophale Ernährungslage in diesem Landkreis aufmerksam zu machen. Das kleine Krankenhaus von Jocotán, eingerichtet für 30 Patienten, war vollkommen überbelegt. Täglich trafen neue Menschen ein, vor allem Kinder mit den Merkmalen starker Unterernährung, Haut- und Atemwegserkrankungen sowie Diarrhöe. In dieser Region fehlten Grundnahrungsmittel und die wenigen vorrätigen Medikamente waren dermaßen überteuert, dass kaum jemand sie bezahlen konnte. Elektrizitäts- und Trinkwasserversorgung waren in den letzten Monaten nur sporadisch gewährleistet und über große Zeiträume ganz ausgeblieben. Die Zahl der Hungertoten stieg ständig.
Die plötzliche Medienaufmerksamkeit für das Departement rief eine Solidaritätswelle hervor. Nationale und internationale Hilfsorganisationen, die teilweise auch schon vorher in diesem Teil des Landes gearbeitet hatten, organisierten sowohl Lieferungen mit Medikamenten und Nahrungsmitteln als auch ärztliche Unterstützung für die Bevölkerung. Zwei Mal reisten kubanische Ärzte an, die nicht nur kostenlos Kranke behandelten, sondern auch Medikamente verschenkten. Privatpersonen, Wirtschaftsunternehmen und Unternehmerverband spendeten Gelder.
„Es gibt keine Hungersnot“ hatte die guatemaltekische Regierung zunächst noch kategorisch erklärt (siehe LN 327/328). Mit Verzögerung und durch das große öffentliche Interesse aufgeschreckt, trafen dann schließlich doch Vertreter der Regierung im Krisengebiet ein, um sich ein Bild der Lage zu machen. Unter anderem erschien auch Vizepräsident Francisco Reyes. Dieser Besuch in den nach seinen Worten „Modeorten“ Jocotán und Camotán rief Empörung hervor durch die rhetorische Kaltschnäuzigkeit des Politikers. So kommentierte er beispielsweise den aufgeblähten Hungerbauch eines Kindes mit den Worten, dass der Kleine doch „hübsch dick“ sei. Einen Arzt aus der Hauptstadt, der auf eigene Initiative angereist war, um zu helfen, beschimpfte er als „Urlauber“. Zu den Geldspenden meinte er, diese Leute, die da jetzt eine „Riesenshow“ abzögen, sollten lieber ihre Steuern bezahlen.
Immerhin wurde in der Folge des Besuchs alerta amarilla (Alarmstufe gelb) für Chiquimula ausgerufen und wenig später der nationale Notstand wegen Hungersnot für einen Zeitraum von 30 Tagen. Abgesehen von weiteren zynischen Worten und der Bekanntgabe, dass jetzt ein Plan zur Entwicklung der betroffenen Gegenden in die Wege geleitet würde, erschöpfte sich aber damit das Engagement der Regierung für längere Zeit.

Ursachen der Not

Chiquimula ist nur ein Beispiel für viele guatemaltekische Departements, die in diesem Sommer mit dem Hunger kämpften. Die Ursachen für die Notlage waren vielschichtig. In den Monaten Juni und Juli war der Regen ausgeblieben. Dadurch gingen in manchen Teilen des Landes an die 80 Prozent der ersten Ernte des Jahres verloren. Viele tausend KleinbäuerInnen konnten daraufhin keinen Handel mehr betreiben, ihre Familien nicht mehr ausreichend ernähren und das Saatgut für die zweite Ernte im November nicht einkaufen. Die nationalen Preise für Bohnen und Mais stiegen an und so betraf die Dürre indirekt weitere große Teile der Bevölkerung.
Die ohnehin hohe Zahl der Arbeitslosen wuchs weiter. In einigen Provinzen stieg die Arbeitslosigkeit parallel zur Kaffeekrise (siehe LN 329), da immer weniger Arbeitskräfte für die Kaffeeproduktion eingestellt wurden. Auch die wirtschaftliche Umstellung vom Kaffeeanbau auf andere Exportprodukte wie Gemüse brachte nichts, da auch in diesem Bereich die Preise ins Bodenlose fielen. In Panzos warfen Bäuerinnen und Bauern mehrere Tausend Kilo Erbsen auf die Straße, um gegen die Exportfirma zu protestieren, die nur noch lächerliche sieben Quetzal, also weniger als einen US-Dollar, für den Zentner bezahlen wollte. Die Regierung tat derweil nichts, um der Krise Herr zu werden.

Portillos „Modernisierung“

Gemäß der Regierungsstrategie, der Mehrheit der Bevölkerung, die ohnehin schon arm ist, auch noch den letzten Centavo aus der Tasche zu ziehen, drückte Portillo in diesem Jahr das stark umstrittene Steuerpaket durch. Die darin enthaltene Erhöhung der Mehrwertsteuer (IVA) von zehn auf zwölf Prozent und damit der Anstieg der Preise aller Konsumartikel traf die Guatemalteken hart. Landesweit kam es zu massiven Protesten, die Portillo einzudämmen suchte, indem er den estado de sitio ausrief, den Ausnahmezustand, der zahlreiche Grundrechte außer Kraft setzt. In Sololá und Cobán kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und DemonstrantInnen, die sich durch das brutale Vorgehen der Polizisten verschiedentlich „an frühere Zeiten“ erinnert fühlten. In Totonicapán ließ Portillo Panzer auffahren und in Jutiapa wurde ein Demonstrant von der Polizei erschossen. Der Präsident drohte, er werde keinen Deut von seiner Steuerpolitik abweichen, „bis zum Äußersten“ gehen und Guatemala dadurch modernisieren.
In der folgenden Zeit nutzten viele Händler die „günstige“ Gelegenheit und erhöhten die Preise für verschiedene Produkte des Grundwarenkorbes nicht um die gesetzlichen zwei, sondern gleich um fünf bis zehn Prozent. Nach Angaben von Wirtschaftsminister Marco Antonio Ventura wurden zwar Ermittlungen gegen Supermärkte, Großverteiler und auch kleine Läden eingeleitet, allerdings böte das KonsumentInnenschutzgesetz wenig Möglichkeiten, gegen diese Geschäfte vorzugehen.

Aussichten

Die USAID-Prognosen sind finster. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt werde sich extrem verschlechtern. Von 500.000 SaisonarbeiterInnen werden bei der kommenden Kaffeeernte etwa gerade die Hälfte eine Beschäftigung finden und mit ihrer Arbeit nur noch 50 Prozent des bisher bezahlten Lohnes verdienen. Die Rezession in den USA und die stetig abnehmenden Remesa Zahlungen (unterstützende Überweisungen von in den USA lebenden Verwandten) hinterlassen ihre negativen Spuren in der guatemaltekischen Ökonomie.
Portillos neue Rhetorik vom „vereinten Kampf gegen die Armut“ mutet an wie ein schlechter, bestenfalls zynischer Witz, angesichts seiner Politik, Guatemala systematisch zu verarmen und sich und seinen Parteikollegen in die eigene Tasche zu wirtschaften. Er hat die Guatemalteken bisher in jeder einzelnen Krise seit seinem Amtsantritt gründlich im Stich gelassen. Und daran wird sich wohl auch nichts ändern.
Wenigstens hat es inzwischen geregnet in Guatemala und die zweite Ernte von Bohnen und Mais wird voraussichtlich einigermaßen gut ausfallen. Ein Lichtblick für das mittlerweile winterliche Guatemala? Eigentlich nicht. Mit der jetzt einsetzenden Kälte wird die Zahl der Krankheiten stark zunehmen. Lungenentzündung ist eine der häufigsten Todesursachen zu dieser Jahreszeit. Ein Pullover kostet 10 oder 15 Quetzal in der Hauptstadt. Glücklich, wer sich einen leisten kann.

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