Am Ende des französischen Traums
Der karibische Dichter und Politiker Aimé Césaire hat in seinem langen Leben viele Rollen gespielt. Ein Nachruf
„Mein Negertum ist kein Stein der taub den Taglärm zurückwirft
mein Negertum ist kein Fleck auf dem toten
Auge der Erde
mein Negertum ist kein Turm und kein Dom
Es taucht in das rote Fleisch des Bodens
Es taucht in das glühende Fleisch des Himmels
Durchbohrt die trübe Last seiner aufrechten
Geduld“.
Zeilen eines 1939 erschienen langen surrealistischen Gedichtes des damals unbekannten jungen schwarzen Dichters Aimé Césaire von der Karibik-Insel Martinique. Sie sollten eine deutliche Spur in der Geschichte der französischen und der Weltliteratur hinterlassen. Denn bei Césaire erschien erstmals das Wort Négritude (hier in der deutschen Veröffentlichung aus dem Jahre 1962 noch etwas ungeschickt als „Negertum“ übersetzt), das sich eine ganze Generation von schwarzen SchriftstellerInnen auf die Fahnen schrieb: Die Elite Afrikas und der Karibik forderte unter diesem Begriff schwarzes Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit ihrer kolonisierten Länder. Die Person des hochbetagten Aimé Césaire stellte die letzte Klammer der Erinnerung dar, die den Kolonialismus alter Prägung, den radikalen Protest und Kampf, aber auch die Tragödien der Entkolonialisierung in einer Lebenszeit verband. Am 17. April verstarb der große karibische Politiker und Schriftsteller im Alter von 94 Jahren auf seiner Heimatinsel.
Aimé Césaire wurde 1913 in dem Dorf Basse-Pointe im Norden von Martinique geboren, einem Gebiet, das zu jener Zeit Zucker für Frankreich erzeugte und heute Bananen für die EU. Damals, so bezeugte André Breton, der Papst der Surrealisten und berühmtester Besucher Martiniques, war noch alltäglich, dass „einige windbefächelte Personen, ausgerüstet mit einer sichtbaren oder unsichtbaren Peitsche, die schreckliche Müdigkeit der Schwarzen überwachten, die noch immer Sklaven waren und vor dem Hintergrund einer wunderbaren Natur weiterhin Zuckerrohr schnitten und banden“. Eben dieser André Breton sollte 1942 in Martinique auf eine obskure Zeitschrift stoßen, in der ein junger, hochbegabter Student jenes surrealistische Gedicht, Cahier d’un retour pays natal (Zurück ins Land der Geburt) veröffentlicht hatte. Breton wusste sofort, was er in den Händen hielt: Zeilen, in denen die neue schwarze Elite ihren Unmut über den altväterlichen französischen Kolonialismus herausschrie. Breton brachte das Gedicht als Buch heraus und versah es mit einem enthusiastischen Vorwort. Damit machte er Césaire nun schlagartig berühmt. Zusammen mit Léopold Sédar Senghor, Bretons Freund aus Pariser Studientagen, wurde Césaire zum Wortführer einer ganzen Generation, die für einen selbstbewussten und stolzen Umgang mit afrikanischer Herkunft eintrat.
Das Cahier, das in einer Wiederauferstehung schwarzen Selbstbewusstseins mündet, wurde zum Gründungstext der Négritude-Bewegung und zählt heute zur Pflichtlektüre an Schulen vieler „schwarzer“ Länder. Die Zusammenarbeit mit Senghor gab der Négritude eine universale Dimension. Dennoch gab es Differenzen zwischen den beiden Wortführern: Senghors Négritude war eine essentielle, sozusagen „angeborene“ Qualität des schwarzen Menschen; Césaire sah sie hingegen als politische Kategorie einer Schicksalsgemeinschaft derer, die von der weißen Welt unterdrückt wurden.
Entsprechend unterschiedlich war auch die weitere politische Entwicklung der beiden: Senghor wurde 1960 der erste und langjährige Präsident der unabhängigen Republik Senegal. Césaire hatte schon früher anders seine Weichen gestellt: Er war Mitglied der französischen Kommunistischen Partei, und das bestimmte sein Verhalten im Jahre 1946, dem wohl wichtigsten Jahr seiner politischen Karriere. Frankreich hatte Martinique den Status eines französischen Departements angeboten, also die vollständige Integration in das Mutterland. Césaire und die Kommunistische Partei entschieden sich in der Abstimmung, für diesen Anschluss zu stimmen – nicht zuletzt, weil ihnen die Anliegen Martiniques in der damals herrschenden linken Regierung Frankreichs am besten aufgehoben schienen. So blieb dank Césaire die Insel weiter abhängig – eine zwiespältige Entwicklung, die einerseits die koloniale Wirtschaft Martiniques ruinierte, zugleich aber die Verluste durch Budgetausgleich, Staatshilfen und Sozialleistungen mehr als kompensierte.
Césaires Popularität auf Martinique wuchs. Das lag nicht an seinen literarischen Werke, die wegen ihres exquisiten Französisch und ihres komplexen Spiels mit Bildern und Genres den einfachen, kreolischsprachigen MartinikerInnen oft unverständlich blieben. Anerkennung erfuhr er vor allem als Bürgermeister von Fort-de-France bis 1993 und dann als Abgeordneter von Martinique in der französischen Nationalversammlung. Er stellte einen Garant der Stabilität und der Zugehörigkeit zu Frankreich dar, die die Insel zu einer der reichsten der Karibik machten. Niemand – die Splitterpartei der TrotzkistInnen ausgenommen – sprach noch von Unabhängigkeit.
Doch Césaire wäre nicht Césaire, wenn er auch nur den Verdacht der Manipulierbarkeit durch französische „Geschenke“ hätte stehen lassen. Das bewiesen die politisch-philosophischen Essays der folgenden Jahre: Césaire veröffentlichte die Schrift Über den Kolonialismus und den Brief an Maurice Thorez. Damit klärte er wieder die Fronten: Kolonialismus, Rassismus und Imperialismus seien die doktrinären Grundübel, denn sie höben die Menschlichkeit auf – sowohl der Unterworfenen als auch der Unterwerfer. Seine Kritik erstreckte sich auch auf linke Doktrinen: diese seien zu weit gefasst und steril, um sich mit den konkreten Ursachen des menschlichen Leides zu befassen: „Ich möchte, dass der Marxismus und der Kommunismus in den Dienst der schwarzen Völker gestellt werden und nicht die schwarzen Völker in den Dienst des Marxismus und des Kommunismus“.
Nach der surrealistisch-poetischen Phase des Césaire’schen Werkes in den 1930ern und 1940ern und der essayistischen in den 1950er Jahren wandte Césaire sich dem Drama zu. Den Zeichen der Zeit entsprechend widmete er es dem Thema Unabhängigkeit. Die Frage nach der Bedeutung von Unabhängigkeit in dieser Zeit der Entstehung vieler armer Staaten ließ Césaire nicht mehr los. Sie brachte ihn in den 1960er Jahren dazu, ganz im Sinne des klassischen Dramas im Theater die Tragödie der Dekolonisierung zu zeigen. Sein erstes Bühnenwerk, Die Tragödie des Königs Christoph (1962) bearbeitet die Geschichte Haitis, des Staates, in dem Unabhängigkeit zum Programm wurde. Dem folgte 1966 Im Kongo. Es erzählt die Geschichte des Freiheitshelden und ersten Präsidenten des Kongo Patrice Lumumba und dessen Scheitern am Widerspruch zwischen idealem und realem Politikverständnis. Sein drittes Stück von 1969 krönte Césaires Ruf als Theaterautor: Ein Sturm, eine Bearbeitung der Shakespeare-Komödie Der Sturm, das, angepasst an ein „schwarzes“ Theater, in ein vieldeutiges Beispiel des Emanzipationsdramas umgedeutet wird. Es endet damit, dass sich der Césaire’sche Caliban mit einem „Uhuru“-Ruf (Kisuaheli: Freiheit, Kampfruf der Mau-Mau-Bewegung) von seinen Herren verabschiedet, um die ihm zustehende Herrschaft über die Insel anzutreten.
Aimé Césaire hat in vielen Rollen das gelebt, was man, mit oder ohne Ironie, als den „französischen Traum“ bezeichnen könnte, der in der Literatur der Frankophonie und der Négritude immer wieder auftaucht: Er war der arme Junge aus dem Plantagendorf; der begabte und rebellische Student; der Schriftsteller, der zu den Klassikern der französischen Literatur zählt; der realistische Politiker, der hoch betagt und geehrt seinem Lebensende entgegen geht. Jede einzelne dieser Rollen hätte bei anderen für ein ganzes Leben gereicht. Césaire hat sie alle miteinander verbunden – mit einem kleinen Lächeln vielleicht, sicher aber auch mit dem Bewusstsein für die Großartigkeit, die Verwerfungen und Tragik seiner Zeit.
KASTEN:
UM WIRKLICH ZU LEBEN; MUSS MAN MAN SELBST BLEIBEN
Ein Plädoyer Césaires´ für schwarzes Selbstbewusstsein in der in der Zeitschrift der Négritude-Gründung L‘Étudiant-Noir
Die Assimilierung, die aus Angst und Schüchternheit heraus geschah, führt letztendlich immer zu Verachtung und Hass, und lässt die Bereitschaft zum Kampf aufkeimen, einem Kampf unter Gleichen, also der schlimmsten Art des Kampfes.
Deshalb wendet sich auch die schwarze Jugend von den Stämmen der Alten ab. Die Alten sagen: Assimilation. Wir antworten: Aufstand.
Was möchte die schwarze Jugend? … Leben. Aber um wirklich zu leben, muss man man selbst bleiben. Ein Schauspieler ist ein Mensch, der nicht wirklich lebt. Er erweckt eine ganze Menge an Menschen zum Leben – durch seine Rollen – aber lebt nicht selbst. Die schwarze Jugend möchte in keine Rolle hineinschlüpfen: sie möchte sie selbst sein. Die Geschichte der Schwarzen ist ein Drama in drei Akten. Die Schwarzen wurden zuerst geknechtet (Idioten und Dummköpfe, so sagte man)… Später dann betrachtete man sie mit größerer Nachsicht. Es hieß: Sie sind besser als ihr Ruf. Und man versuchte, sie zu bilden. Sie wurden assimiliert. Sie gingen auf die Grundschule für „große Kinder“, so hieß das. Denn nur Kinder gehen ewig auf die Grundschule.
Die jungen Schwarzen von heute wollen weder Knechtung noch „Assimilation“. Sie wollen Emanzipation. Erwachsene Menschen sein, müsste man sagen, denn nur der erwachsene Mensch wandelt ohne Lehrer auf den weiten Wegen des Denkens… Knechtung und Assimilation sind sich ähnlich: sie sind beide nur Formen von Passivität.
In diesen zwei ersten Phasen, war der Schwarze immer unschöpferisch: Emanzipation bedeutet hingegen Handeln und Schaffen.
Die schwarze Jugend will handeln und schaffen, sie möchte ihre eigenen Dichter, ihre eigenen Schriftsteller haben, die ihr von ihrem eigenen Unglück und von ihrer eigenen Größe erzählen: Sie möchte zum Leben an sich beitragen, zur Vermenschlichung der Menschheit. Und dafür, um es noch einmal zu sagen, muss man zunächst sich selbst bewahren oder sich selbst wieder finden: Es herrscht das Primat des Selbst.
Aber um man selbst zu sein, muss man zunächst gegen die irregeführten Brüder kämpfen, die Angst davor haben, sie selbst zu sein: Das ist die Altlast der Assimilierten. Dann gegen diejenigen, die ihr Selbst auslöschen wollen: Sie sind die wilden Vorreiter der Assimilierten.
Um schließlich man selbst zu sein, muss man auch gegen sich selbst kämpfen: man muss die Gleichgültigkeit auslöschen, den Obskurantismus beseitigen, die Sentimentalität bei den Wurzel ausrotten. Und vor allem gilt es das auszurotten, was Meredith zu uns gesagt hat: „Schwarze Jugend, es ist ein Haar, das euch hindert, zu handeln, es ist das Identische. Und ihr tragt es. Schert euch die Schädel kahl, aus Angst davor, dass das Identische verschwindet. Rasiert euch.
Das ist die erste Bedingung, um etwas zu schaffen.
Lange Haare, das bedeutet „Qual“.
// Aimée Césaire
// Übersetzung: Katharina Wieland
Auszug aus: Nègreries, zuerst erschienen 1939 in der Zeitschrift der Négritude-Gründung L‘Étudiant-Noir, in: Lilyan Kesteloot: Escrivains noirs de langue francaise. Brüssel 1963, S. 99-100.