Argentinien | Nummer 568 - Oktober 2021 | Wahlen

ARGENTINIENS REGIERUNG IM RICHTUNGSSTREIT

Schlappe bei den Vorwahlen lässt interne Konflikte eskalieren

Nach der krachenden Niederlage bei den Vorwahlen zum Kongress am 12. September ist in Argentiniens Mitte-links-Regierung ein offener Richtungsstreit ausgebrochen. Vizepräsidentin Cristina Kirchner drängte Präsident Alberto Fernández erfolgreich zu einer Regierungsumbildung und fordert eine Abkehr von der moderaten Ausgabenpolitik des Wirtschaftsministers Martín Guzmán. Fernández hält trotz Widerständen an Guzmán fest, der mit dem Internationalen Währungsfonds über eine Schuldenumstrukturierung verhandelt. Bestätigen sich die Ergebnisse der Vorwahlen bei den Teilwahlen zum Kongress am 14. November, wird dies den internen Richtungsstreit weiter anheizen.

Von Martin Ling

Gute Laune trotz schlechtem Vorwahlergebnis Präsident Alberto Fernández und Vizepräsidentin Cristina Kirchner wollen ihre Differenzen beilegen (Foto: Casa Rosada, CC BY 2.5 AR)

Es war das Ende eines Mythos: Tritt der heterogene Peronismus gemeinsam an, ist er unschlagbar. Das galt in Argentinien immer und wurde zuletzt 2019 eindrucksvoll bestätigt: Damals ließ die linke Ex-Präsidentin Cristina Kirchner dem zentristischen Alberto Fernández den Vortritt und der wiederum holte den rechten Peronisten Sergio Massa mit ins Boot, was Kirchner nie gelungen wäre. Massa war 2015 maßgeblich mitverantwortlich für die Spaltung des peronistischen Lagers in zwei Blöcke und somit für den Wahlsieg des neoliberalen Mauricio Macri. „Wir haben uns in der Diversität vereint, nicht, um uns gleichzumachen“, gab Alberto Fernández damals als Parole aus. Das Ergebnis: Alberto Fernández besiegte im Oktober 2019 Mauricio Macri und trat dessen schweres Erbe mitten in einer Wirtschaftskrise an, mit Cristina Kirchner als Vizepräsidentin. Sergio Massa wurde mit dem Vorsitz des Abgeordnetenhauses belohnt.

Formal immer noch geeint, aber inhaltlich zerstritten trat das peronistische Mitte-links-Bündnis Frente de Todos am 12. September zu den Vorwahlen an und erlitt ein Debakel. Die peronistischen Spitzenkandidat*innen verloren in 17 der 24 Provinzen des Landes. Am Montag nach der Niederlage forderte Cristina Kirchner Änderungen im Kabinett als ersten Schritt, um die verlorene Wählerschaft zurückzugewinnen. Die Krise eskalierte, als sich Fernández weigerte und zum Gegenangriff ausholte. Er sprach auf Twitter von der „Selbstherrlichkeit und Arroganz” einiger Politiker*innen, ohne Namen zu nennen, aber es war allen klar, dass damit zuvorderst Cristina Kirchner gemeint war. Fernández verteidigte seine Regierung. „Ich werde weiterhin die Einheit der Frente de Todos auf Basis des Respekts, den wir uns gegenseitig schulden, garantieren”, sagte er.

„Nicht ich halte den Präsidenten in Schach, sondern das Wahlergebnis“

Kirchner zeigte sich unbeirrt und erhöhte am 16. September mit einem offenen Brief den Druck: „Am Tag nach einer solchen politischen Katastrophe hört man einigen Ministern zu, als sei in diesem Land nichts geschehen, sie tun so, als sei alles normal, und vor allem verkriechen sie sich in ihren Sesseln. Glauben sie wirklich, dass es nach einer solchen Niederlage nicht notwendig ist, öffentlich Rücktritte zu erklären und dem Präsidenten die Neuorganisation seiner Regierung zu erleichtern?“, schrieb die von 2007 bis 2015 amtierende Präsidentin. „Nicht ich halte den Präsidenten in Schach, sondern das Wahlergebnis“, fügte sie hinzu, um dem Tenor und den Schlagzeilen in den meisten argentinischen Medien zu widersprechen. Einen Tag vor Veröffentlichung des Briefes hatten alle Kirchner-treuen Minister*innen im Kabinett ihren Rücktritt verkündet, was Fernández spontan ablehnte.

Schachmatt gesetzt ist Alberto Fernández sicher nicht. Er reagierte auf den Druck von Kirchner, ohne ihr im vollen Umfang nachzugeben. Seinen bisherigen Kabinettschef – einen Job, den er einst selbst unter Néstor und Cristina Kirchner innehatte, bis es 2008 zum ersten Bruch mit Cristina kam – Santiago Cafiero versetzte er auf den weniger gewichtigen Posten des Außenministers. An Cafieros Stelle tritt der bisherige Gouverneur der Provinz Tucumán, Juan Manzur, der Wunschkandidat von Cristina Kirchner. Insgesamt besetzte Fernández am 17. September sieben Posten im Kabinett neu, doch Wirtschaftsminister Martín Guzmán, an dessen Politik sich die peronistischen Geister scheiden, blieb.

Vor den Wahlen am 14. November sollen Löhne, Renten und staatliche Hilfen erhöht werden

Cristina Kirchner monierte in ihrem offenen Brief eine „falsche Sparpolitik“, die Folgen für die Gesellschaft und auch die Wahlen habe. Sie habe Fernández immer gesagt, dass die angespannte soziale Lage beunruhigend sei, schrieb sie auf ihrer Website. Dass sie den Rücktritt von Guzmán gefordert hätte, dementierte ihr Umfeld indes. Guzmán wäre telefonisch mitgeteilt worden, dass sein Kopf nicht gefordert würde. Das Wirtschaftsministerium bestätigte immerhin den Eingang des Anrufes.

Guzmán, den der Präsident aus dem akademischen Bereich direkt ins Ministeramt gehievt hatte, steht nicht grundsätzlich für Sparpolitik, sondern für eine pragmatische, den Zwängen der Finanzmärkte angepasste Finanzpolitik mit so viel Sozialpolitik wie für vertretbar gehalten. Unter dem Strich heißt das, so viel Sozialausgaben, wie es die Inflations- und Wechselkursziele zulassen.

Zu Beginn der Pandemie im März 2020 stockte die Regierung die Programme für Bedürftige auf. Schon zuvor war Ende Dezember 2019 kurz nach Regierungsantritt am Tag der Menschenrechte – dem 10. Dezember – eine der ersten Maßnahmen der Regierung die Verabschiedung des Plans „Argentinien ohne Hunger“. Mindestens 2,3 Millionen Familien mit Kindern erhalten inzwischen eine monatliche Unterstützung in Form von Lebensmittelkarten. Damit können sie für einen festgelegten Betrag jede Woche Nahrungsmittel in den Supermärkten einkaufen.

Die dringend notwendigen Ausgaben trieben die Inflation und brachten den Wechselkurs des argentinischen Pesos im Oktober 2020 so stark unter Druck, dass Guzmán einer weiteren Erhöhung der Ausgaben entgegentrat, auch weil er sich mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) in noch andauernden Verhandlungen über eine Umschuldung befand. Argentinien ist der mit Abstand größte Schuldner des IWF. In der Krise 2018 gewährte der IWF auf Betreiben des US-Präsidenten Donald Trump der neoliberalen Regierung von Präsident Mauricio Macri einen Beistandskredit in der Rekordhöhe von 57 Milliarden Dollar, von denen 44 Milliarden abgerufen wurden. Die Regierung von Alberto Fernández verzichtete auf die ausstehenden 13 Milliarden Dollar und verhandelt seit ihrer Regierungsübernahme über eine Neustrukturierung der Schuldenlast von insgesamt 45 Milliarden Dollar beim IWF, um den Schuldendienst aus Tilgung- und Zinszahlungen zu strecken und erträglicher zu gestalten. Eine Einigung steht noch aus. Nach den Teilwahlen zum Kongress am 14. November sollen die Verhandlungen in die Endphase gehen.

Der Machtkampf ist nur aufgeschoben

Für die Verhandlungen mit dem IWF hat Guzmán jetzt ein Problem mehr. Nach den verlorenen Vorwahlen drängt der Flügel um Cristina Kirchner zu einer Abkehr vom Konsolidierungskurs, den der IWF für ein Entgegenkommen fordert. Bis Ende August hat Guzmán weniger als die Hälfte des im Haushalt 2021 veranschlagten Defizits ausgeschöpft, kritisierte Kirchner. Der Wirtschaftsminister nutzte die zusätzlichen Einnahmen aus den Exportsteuern für Getreide- und Ölsaaten zur Stabilisierung der Finanzen, statt sie an die bedürftige Bevölkerung zu verteilen. Nun sollen vor den Wahlen am 14. November Löhne, Renten und staatliche Hilfen erhöht werden, was den IWF sicherlich nicht freuen wird.

Gegenüber dem IWF standen bis Ende 2021 zwei Zahlungen in Höhe von 3,8 Milliarden aus. Die Ende September wurde mit einem Teil der Sonderziehungsrechte bezahlt, die Argentinien wie andere bedürftige Länder Ende August vom IWF erhalten haben – Sonderziehungsrechte sind quasi eine Erweiterung des Kreditrahmens seitens des IWF, die aufgrund der Coronakrise gewährt wird.

Dass Guzmán Sparen nicht über alles setzt, zeigt sein Haushaltsansatz für 2022. Das sieht ein Primärdefizit des Bruttoinlandsproduktes von 3,3 Prozent vor – also noch ohne Berücksichtigung des Schuldendienstes, der das Sekundärdefizit weiter in die Höhe treibt. Auch eine Peso-Abwertung von 30 Prozent wird dort angenommen. Guzmán geht davon aus, dass die Aufwärtsentwicklung 2021 nach dem Krisenjahr 2020 mit einem Einbruch der Wirtschaftsleistung von mehr als zehn Prozent auch 2022 anhält. Eine Einigung mit dem IWF und keine neuen Corona-Restriktionen wären hilfreich. Im Moment stehen die Zeichen dafür gut. Die Infektionszahlen sind zuletzt deutlich gesunken und immerhin fast 45 Prozent der Argentinier*innen sind inzwischen vollständig geimpft. Seit dem 1. Oktober gelten viele Lockerungen. Wirtschaftliche, kulturelle, religiöse und sportliche Aktivitäten sind bei Einhaltung der Abstandsregeln, regelmäßigem Lüften und mit Maske wieder zu 100 Prozent möglich. Diskotheken dürfen für Geimpfte mit einer Auslastung von 50 Prozent wieder öffnen. Ab 1. Oktober werden auch Großveranstaltungen wieder erlaubt, verkündete Gesundheitsministerin Carla Vizotti.

Der Wirtschaft und damit dem Wirtschaftsminister Martín Guzmán kommen die Lockerungen entgegen. Auch der IWF dürfte nichts dagegen haben. Aber Guzmáns erklärtes Ziel, die Schuldenprobleme zu lösen, ohne den ärmsten Argentinier*innen noch mehr Opfer abzuverlangen, ist in weiter Ferne. Und wie stark die Lockerungen das Infektionsgeschehen wieder befeuern, ist nicht abzusehen. Das gilt auch für den Ausgang des Machtkampfs zwischen Präsident und Vizepräsidentin. Der ist durch die Kabinettsumbildung nicht aufgehoben, sondern lediglich aufgeschoben, bis nach dem Wahltermin 14. November. Dann werden die Hälfte der Delegierten des Abgeordnetenhauses sowie wie ein Drittel des Senats neu gewählt. Sollte sich das schlechte Ergebnis für die Frente de Todos vom 12. September wiederholen, würde die Regierung in beiden Kammern über keine Mehrheit mehr verfügen. Das Verhältnis zwischen Fernández und Kirchner wäre dann nicht mehr zu kitten.

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