Asyl in Mexiko
Deutschsprachige Flüchtlinge in Mexiko
Vergleicht man das Exil in Mexiko mit dem Exil in anderen lateinamerikanischen Ländern, so fallen einige Besonderheiten auf: Grundlage für das Exil war die explizit antifaschistische Asylpolitik Mexikos. Die Aufnahme erfolgte spät, das heißt zu einem Zeitpunkt als die anderen Fluchtwege aus Europa weitgehend verschlossen waren und der Anteil der politischen EmigrantInnen, unter denen sich AntifaschistInnen aller politischen Richtungen befanden, war mit einigen Hunderten relativ hoch.
Die Motivation von seiten der mexikanischen Regierung für die Aufnahme der europäischen Flüchtlinge wird nur im Zusammenhang mit der jüngeren mexikanischen Geschichte verständlich.
Revolution und antifaschistischer Kampf
1934 wurde mit Lázaro Cárdenas in Mexiko ein linker Präsident gewählt, der sich als Erbe der mexikanischen Revolution von 1910 verstand. Viele Forderungen dieser Revolution waren aber zu Anfang der dreißiger Jahre noch uneingelöst geblieben. Die Regierung unter Cárdenas schloß mit der mächtigen Einheitsgewerkschaft und mit anderen progressiven gesellschaftlichen Bereichen ein Bündnis, um die Sozialgesetzgebung, Landverteilung und die Verstaatlichung in- und ausländischer Unternehmen durchzusetzen. Die mexikanische Gesellschaft befand sich politisch in einer Aufbruchstimmung. Das Ziel der Regierung unter Cárdenas war, einen spezifischen mexikanischen Sozialismus zu entwikkeln.
Der Kampf der Spanischen Republik gegen Franco wurde in Mexiko mit voller Sympathie betrachtet. Der inzwischen 102jährige Gilberto Bosques, Mitstreiter Cárdenas während der mexikanischen Revolution und späterer Generalkonsul in Frankreich, sagte 1993 rückblikkend: “Für uns, die wir an der Unterstützungsbewegung für die Spanische Republik beteiligt waren und davor bereits an der direkten revolutionären Aktion unseres Landes, war diese Sympathie ganz natürlich, und das Engagement für Spanien gab es innerhalb der Arbeiterklasse, der Studenten bis zu den Bauern. Das ganze Land wurde von der Sache der Spanischen Republik ergriffen, und zwar jene sozialen Sektoren, die hinter den revolutionären Veränderungen standen, an denen General Cárdenas arbeitete.”1
Mexiko setzte seine Haltung gegenüber der Spanischen Republik konsequent politisch um. So unterstützte es als einziges Land der westlichen Welt die Spanische Republik vor dem Völkerbund und lieferte ihr sogar Waffen. Auch die Annexion Österreichs vom März 1938 wurde von Mexiko nicht anerkannt.
Als sich die Situation in Europa immer weiter zuspitzte, schickte Cárdenas Gilberto Bosques, seinen Vertrauten aus der Revolutionszeit und damaligen Direktor der Zeitung El Nacional, nach Paris. El Nacional hatte in jenen Jahren eine breite Kampagne zur Unterstützung der Spanischen Republik organisiert. Auch gehörte Bosques der Liga Pro-Cultura Alemana (Liga für deutsche Kultur), der ersten antifaschistischen Vereinigung von Deutschen in Mexiko, an. Diese Liga wurde 1938 von einigen deutschsprachigen AntifaschistInnen, die bereits Anfang der dreißiger Jahre Deutschland verlassen hatten, gegründet. Mit der aktiven Unterstützung von mexikanischen Politikern und Intellektuellen organsierte sie vor allem Aufklärungsveranstaltungen über die Ideologie, die Politik und die Wirtschaft des Faschismus.
Bosques nahm seine Arbeit in Paris am 1.1.1939 auf. Franco hatte inzwischen gesiegt, und Hunderttausende von RepublikanerInnen flüchteten über die Pyrenäen nach Südfrankreich. Unter ihnen befanden sich auch die Mitglieder der Internationalen Brigaden. Die französische Regierung behandelte die RepublikanerInnen ausgesprochen feindlich. Sie internierte die Flüchtlinge unter katastrophalen Zuständen in Lagern. Daraufhin entschloß sich die mexikanische Regierung den RepublikanerInnen zu helfen. Sie bot allen RepublikanerInnen, die in Frankreich waren, einschließlich der Mitglieder der Internationalen Brigaden, ein Einreisevisum an. Damit sollte der Welt ein Zeichen gesetzt werden.
Die Flüchtlinge in Südfrankreich in der Falle
Am 1.9.1939 überfiel die deutsche Wehrmacht Polen. Frankreich erklärte daraufhin am 3.9.1939 Deutschland den Krieg. In einer Nacht- und Nebel-Aktion internierten die französischen Behörden unterschiedslos alle männlichen deutschen Emigranten als “feindliche” Ausländer. Unter den Festgenommenen waren vor allem Antifaschisten, darunter viele Juden. Auch Frauen, die der politischen Arbeit verdächtigt wurden, waren Opfer dieser Internierungspolitik. Etliche Monate später im Frühsommer 1940 marschierten die deutschen Truppen in Frankreich ein. Nach der französischen Kapitulation wurde am 22.6.1939 ein Waffenstillstandsvertrag abgeschlossen. Frankreich wurde in eine besetzte und unbesetzte Zone aufgeteilt. Der Artikel 19 dieses Vertrages legte außerdem fest, daß namentlich genannte Flüchtlinge, auch im unbesetzten Teil, auf Verlangen der deutschen Behörden ausgeliefert werden mußten.
Die Regierung in Vichy unter Marschall Pétaint kollaborierte bald offen mit den deutschen Besatzern. In den knapp 500 Internierungslagern, die mehrheitlich in der freien Zone lagen, ging bald die Gestapo ein und aus und stellte Auslieferungslisten zusammen. Auch Franco legte der französischen Regierung ein generelles Auslieferungsersuchen vor. Die Flüchtlinge saßen nun in der Falle. Man wußte nicht, ob die deutschen Besatzer nicht auch in den unbesetzten Teil einmarschieren würden.
Die Rettung: ein Visum nach Mexiko
Gilberto Bosques hatte mittlerweile das mexikanische Generalkonsulat in die südfranzösischen Hafenstadt Marseille verlegt, von wo aus die Schiffe mit den Flüchtlingen nach Übersee abfuhren. Das mexikanische Generalkonsulat, dessen Zuständigkeit bis in die Schweiz, nach Griechenland, nach Nordafrika und in den Libanon reichte, arbeitete fieberhaft. Jedoch waren die 41 MitarbeiterInnen keineswegs ausschließlich mit der Ausstellung von Visa beschäftigt.
“Das Ausreisevisum in mein Land” sagte Bosques, “wäre für die meisten, die es brauchten, um ihren Verfolgern zu entkommen, ein schönes, aber letztlich unnützes Stück Papier geblieben, wenn ich es ihnen lediglich ausgestellt und mich um nichts weiteres gekümmert hätte.”
Das Generalkonsulat kümmerte sich um vieles. Auf Anweisung der mexikanischen Regierung wurde am 23. August 1940 ein Abkommen mit der Vichy-Regierung erzielt, in dem Frankreich sich einerseits verpflichtete, keine spanischen Flüchtlinge auszuliefern. Mexiko andererseits verpflichtete sich, alle SpanierInnen auf französischem Boden aufzunehmen, ihren Überseetransport zu organisieren und zur Versorgung der Flüchtlinge bis zu ihrer Abreise beizutragen. Dazu mietete Mexiko 2 Schlösser in der Nähe von Marseille.
Aber nicht nur den spanischen RepublikanerInnen galt die Solidarität Mexikos. Visa wurden auch für andere gefährdete AntifaschistInnen verschiedener Nationen, darunter viele JüdInnen, ausgestellt. Für die Flüchtlinge, die in den französischen Internierungslagern saßen, erreichte Bosques durch zähe Verhandlungen mit den französischen Behörden, daß diese zur Regelung ihrer Visaangelegenheiten für einige Tage das Lager verlassen durften. Aber auch Illegale erreichte ein mexikanisches Visum. Insbesondere für kommunistische Flüchtlinge, die den anderen westlichen Ländern spätestens seit des Hitler-Stalin-Paktes besonders suspekt erschienen, wurde Mexiko zur letzten Rettung. Zur Durchführung der Rettungsaktionen arbeitete das Generalkonsulat eng mit den Hilfskomitees sowohl in Marseille als auch in Übersee zusammen. So zahlte zum Beispiel das Komitee der amerikanischen Schriftsteller Dollarbeträge beim mexikanischen Konsulat in New York ein, die dann zu Bosques nach Marseille transferiert wurden, der sie wiederum an die Flüchtlinge auszahlte. Damit konnten sie zum Beispiel die Kosten für die Schiffspassage begleichen.
Bedingt durch den Seekrieg auf dem Atlantik gab es ab Sommer 1942 keine Möglichkeiten mehr für weitere Rettungsaktionen nach Mexiko. Nach der Versenkung eines mexikanischen Öltankers durch ein deutsches U-Boot, erklärte Mexiko Deutschland den Krieg. Damit waren alle diplomatischen Spielräume ausgeschöpft. Im November 1942 besetzte die deutsche Wehrmacht die “freie” Zone in Frankreich. Die Regierung Frankreichs kollaborierte einmal mehr und nahm alle MitarbeiterInnen der mexikanischen Botschaft, einschließlich der Familie von Bosques, fest und übergab sie den Nazis. Diese wiederum brachten die MexikanerInnen nach Bad Godesberg, wo sie ca. anderthalb Jahre interniert blieben, bevor sie durch die Vermittlung der schwedischen Botschaft nach Mexiko zurück durften.
Exil in Mexiko
Daß sich unter den etwa 2000 deutschsprachigen Flüchtlingen eine große Anzahl von SchriftstellerInnen, KünstlerInnen und Intellektuellen befand, bildete eine der wichtigen Voraussetzungen für die Entfaltung der kulturpolitischen Aktivitäten der Jahre zwischen 1941 und 1947. Eine andere Voraussetzung war, daß den Flüchtlingen im allgemeinen keine Einschränkungen bei der Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis auferlegt wurden. Für die meisten, die ja annähernd zehn Jahre Exil unter sehr schwierigen Bedingungen hinter sich hatten, waren das paradiesische Zustände.2 Oft waren es die Frauen, die als erste Arbeit fanden, sich einlebten und bald die Sprache beherrschten. Von den MexikanerInnen wird berichtet, daß sie den europäischen Flüchtlingen sehr offen, verständnisvoll und hilfsbereit gegenüberstanden. Unter diesen günstigen Bedingungen gelang den kommunistischen EmigrantInnen die Gründung von etlichen Exilorganisationen. In Anknüpfung an die Volksfrontpolitik öffneten sich diese Exilorganisationen auch nichtkommunistischen AntifaschistInnen.
Anfang November 1941 wurde der Heinrich Heine-Klub als Vereinigung antinazistischer Intellektueller deutscher Sprache gegründet. Im Klub wurden Vorträge gehalten, Lesungen organisiert, Diskussionsabende veranstaltet und Theater gespielt. Insbesondere die Theateraufführungen erfreuten sich großen Interesses. Das Publikum setzte sich aus der politischen und der jüdischen Emigration zusammen, die die Mehrheit im mexikanischen Exil bildeten. Vereinzelt kamen auch liberale Zugehörige der deutschen Kolonie. Die Anzahl schwankte je nach Anlaß zwischen 200 und 800 Personen.
Dem Heinrich Heine-Klub folgte noch im Jahre 1941 die Gründung der kulturell-politischen Monatszeitschrift “Alemania Libre. Freies Deutschland”. Mit einer Auflage von 4000 Exemplaren, die international vertrieben wurden, gehörte sie nun zu den wichtigsten Exilzeitschriften. Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger und Oskar Maria Graf, die in den USA Exil gefunden hatten, veröffentlichten hier Artikel.
Am neunten Mai 1942, dem neunten Jahrestag der Bücherverbrennung, wurde schließlich der Verlag El Libro Libre (Das freie Buch) gegründet. In wenigen Jahren gab der Verlag unter der Leitung von Walter Janka 22 Bücher in deutscher und vier in spanischer Sprache mit einer durchschnittlichen Auflage von 2000 Exemplaren heraus. Das bekannteste unter ihnen ist die deutsche Erstausgabe von Anna Seghers “Das siebte Kreuz”. Das in seiner Zeit politisch bedeutenste war die Herausgabe des Schwarzbuches über den Hitlerterror in Europa. Dieses Buch erschien auf Spanisch und der Druck wurde von der mexikanischen Regierung finanziell unterstützt. AutorInnen aus verschiedenen Nationen prangerten darin die Verbrechen der Nazis an.
Rückkehr in die sowjetische Besatzungszone
Für das Gros der kommunistischen EmigrantInnen war nach Ende des Zweiten Weltkrieges die Rückkehr nach Deutschland keine Frage. Schließlich war auch im Exil ihr Leben vom Kampf gegen den Faschismus bestimmt gewesen, und seitdem die Niederlage der Nazis absehbar war, wurde über eine Neugestaltung Deutschlands diskutiert. In der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, sahen die meisten der kommunistischen EmigrantInnen die Möglichkeit, ein Land nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Leider sind früher oder später fast alle “WestemigrantInnen” politisch gescheitert. Sie wurden pauschal verdächtigt, während ihrer Exilzeit für westliche Geheimdienste tätig geworden zu sein. Diese und andere meistens völlig absurde Vorwürfe dienten den aus Moskau zurückgekehrten EmigrantInnen, ihre rigide politische Linie durchzusetzen und unliebige WidersacherInnen in den eigenen Reihen auszuschalten. Prominenteste Opfer dieser Politik in der DDR waren Paul Merker und Walter Janka, die für einige Jahre ins Gefängnis kamen und denen auch nach ihrer Haftentlassung kein politischer Spielraum zugestanden wurde.
Auch in der Tschechoslowakei gerieten deutschsprachige tschechische KommunistInnen, die aus dem mexikanischen Exil zurückgekehrt waren, in die Mühlen der Justiz. Insbesondere jüdische “WestemigrantInnen” galten als besonders verdächtig. So wurde André Simone (Otto Katz), der sich in Mexiko sehr um die Gründung der Exilorganisationen verdient gemacht hatte, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Lenka Reinerová, deutschsprachige tschechische Kommunistin und Autorin der “Alemania Libre. Freies Deutschland”, wurde, ohne daß überhaupt eine Anklage erhoben wurde, für anderthalb Jahr in U-Haft genommen und erst nach Stalins Tod wieder freigelassen.
Spätere Rehabilitierungen waren meistens nur ein schwacher Trost.
Mexiko als Wahlheimat
Für die nicht, bzw. nicht mehr kommunistischen EmigrantInnen war eine Rückkehr in die spätere BRD kaum eine Alternative. Viele von ihnen waren als JüdInnen rassisch verfolgt worden und ein überzeugender Bruch mit dem Nationalsozialismus, der eine Voraussetzung für eine Rückkehr gewesen wäre, hatte nicht stattgefunden.
Mexiko hingegen als kulturell offenes Land eröffnete den europäischen Flüchtlingen die Möglichkeit, ihre künstlerischen und wissenschaftlichen Fähigkeiten in die mexikanische Gesellschaft einzubringen. Bald prägten auch mexikanische Themen Arbeit und Werk der ehemaligen EmigrantInnen. Und auch umgekehrt faszinierte die reiche Kultur Mexikos die EmigrantInnen. So schrieb Paul Westheim, Herausgeber des “Kunstblatts” in der Weimarer Republik und später profilierter Kritiker der Nazi”kultur”, eine Gesamtdarstellung der altmexikanischen Kunst (“Arte Antiguo de México”), die breite Anerkennung fand und zum Standardwerk wurde. Mariana Frenk-Westheim, literarische Übersetzerin und Schriftstellerin, machte sein Werk der mexikanischen Gesellschaft zugänglich. Außerdem übersetzte Mariana Frenk-Westheim das Werk des mexikanischen Dichters Juan Rulfo ins Deutsche. Im Alter von 94 Jahren gab sie ihr erstes Buch mit Aphorismen, kurzen Texten und Erzählungen aus sechs Jahrzehnten heraus. In diesem Buch spielt die Exilthematik allerdings nur eine Nebenrolle.
Walter Reuter, einst Fotoreporter der “Arbeiter Illustrierten Zeitung” (AIZ) und späterer Spanienkämpfer, wandte sich in Mexiko den indianischen Bevölkerungsgruppen zu (vgl. den Artikel in diesem Heft). Und Gertrud Düby, Schweizer Frauenrechtlerin der zwanziger Jahre, spätere Mitbegründerin der SAP und anschließend Funktionärin der KPD, setzte sich in Mexiko vehement für die LakandonInnen, die direkten Nachfahren der Mayas, und für den Erhalt des lakandonischen Regenwaldes ein. Dieser ist seit kurzem als Rückzugsgebiet der Zapatistas unter Subcomandante Marcos in aller Welt bekannt geworden. (vgl. den Artikel in diesem Heft)
1 vgl. Gert Eisenbürger: Lebenswege, VLA 1995
2 vgl. Fritz Pohle: Das mexikanische Exil, Stuttgart 1986
Ulrike Schätte recherchiert z. Zt. mit einem Stipendium des “Förderprogramms Frauenforschung” des Berliner Senats für eine Buchveröffentlichung zum Thema: “Deutschsprachige Frauen im antifaschistischen Exil in Mexiko”.