Brasilien | Nummer 487 - Januar 2015

Aufarbeitung und Erinnerung

Im Bundesstaat Pernambuco soll eine Gedenkstätte an die Verbrechen während der Diktatur an der organisierten Landbevölkerung eröffnet werden

Während die Aufarbeitung des politischen Widerstands in den Städten und dessen Verfolgung zu Zeiten der brasilianischen zivil-militärischen Diktatur (1964-1985) zumindest auf dem Weg ist, steht die Aufklärung der Verbrechen an Kleinbäuerinnen und -bauern sowie an Landarbeiter*innen noch ganz am Anfang. Im nordöstlichen Bundesstaat Pernambuco wird ein erster Versuch gemacht.

Sara Fremberg

Am Abend des 1. April 1964 gegen 18 Uhr fuhren mehrere Dutzend schwerbewaffneter Soldaten auf das Engenho Galiléia, eine ehemalige 500 Hektar große Zuckerrohrfarm im Westen des Bundesstaats Pernambucos. Sie trieben die ansässigen Bauernfamilien zusammen, verhörten sie und begannen, das Gelände zu durchkämmen. Die Militärs waren auf der Suche nach den Anführern der sogenannten ligas camponesas, Vereinigungen, die sich zu dieser Zeit für die Rechte der Kleinbäuerinnen und -bauern sowie der Landarbeiter*innen einsetzten. Auf dem Engenho Galiléia war 1955 die erste jener ligas gegründet worden.
„Sie standen auf dem Lastwagen, die Gewehre im Anschlag,“ erzählt Zito da Galiléia, der damals 17 war. „Sie zielten auf uns. Als wären wir im Krieg.“ Einigen Männern gelang es rechtzeitig, in den Wald zu fliehen – so auch Zitos Großvater, Zezé da Galiléia, einem der wichtigsten Sprecher der ligas. Wochenlang belagerten die Soldaten das Gelände. Zuerst versuchten sie, die Versteckten mit Decken und Nahrungsmitteln hervorzulocken. Dann versprachen sie den Familien Sicherheit.
„Soldaten kamen zu meiner Großmutter und sagten ihr, sie solle meinen Großvater rufen, er würde auch nicht verhaftet werden. Sie sagten: ‚Wir wollen ihn nur kurz aufs Polizeirevier in Vitória de Santo Antão mitnehmen und bringen ihn dann gleich wieder zurück‘ – Meine Großmutter glaubte ihnen und rief meinen Großvater. Sie nahmen ihn in ihrem Jeep mit. Aber wo das Auto nach Vitória de Santo Antão hätte abbiegen müssen, nahmen sie plötzlich die Straße nach Recife.“ Zezé wurde, wie viele andere Männer und Frauen, denen eine Verbindung zu den ligas nachgewiesen werden konnte, in die Folterzentren der Militärs nach Recife gebracht.
Mit Unterstützung zivil-konservativer Kräfte stürzten die Streitkräfte an jenem 1. April den demokratisch gewählten Präsidenten, João Goulart, und rissen die Macht in Brasilien an sich. Gleichzeitig begann die Repression. Wichtigste Ziele waren dabei die Großstädte des Landes, aber auch kleinere mögliche Widerstandszentren wie das Galiléia wurden attackiert. In Recife, der Hauptstadt Pernambucos, umstellten sie den Regierungssitz mit Panzern, verhafteten den amtierenden Gouverneur Miguel Arraes und gingen mit brutaler Gewalt gegen Student*innen und Schüler*innen vor, die sich mit Arraes solidarisierten. Auf der ehemaligen Zuckerrohrfarm Galiléia, dem Symbol der als „kommunistisch“ und „revolutionär“ geltenden Bauernvereinigungen, vermuteten die Militärs besonders erbitterten Widerstand. Doch statt der erwarteten Guerilla trafen die Soldaten auf 140 verängstige Familien, die keine Gegenwehr leisteten.
Zito da Galiléia, mit bürgerlichem Namen José Joaquim da Silva, ist einer der wenigen Zeug*innen jener Ereignisse. Der heute 66-Jährige verließ das Gelände 1971 und kehrte erst 2001 zurück. Zusammen mit dem Anthropologen Anacleto Julião sieht Zito heute seine Lebensaufgabe darin, an die Geschichte des Galiléia und insbesondere den Kampf der ligas zu erinnern.
In den 1950er Jahren arbeiteten die brasilianischen Landarbeiter*innen, Kleinbäuerinnen und -bauern unter einem feudalistischen Machtsystem, das von den Großgrundbesitzer*innen und ihren Interessen dominiert wurde. Überhöhte Pachtabgaben, Zwangsarbeit und brutale Kontroll- und „Disziplinarmaßnahmen“ trugen maßgeblich zu ihrer Verarmung bei. Die Familien hungerten, eine angemessene medizinische Versorgung gab es nicht. „Die Frauen bekamen ihre Kinder damals alle zu Hause,“ berichtet Zito. „Viele Mütter und Kinder starben bei der Geburt. Babys mussten oft auf dem grundstück begraben werden.“ Damals beschlossen die Familien des Galiléia, einen Verein zu gründen, aus dessen gemeinsamer Kasse eine Hebamme bezahlt werden sollte.
Die ersten geheimen Treffen fanden in der casa da farinha statt, dem Mehldepot. Hier entwickelten die Bauern und Bäuerinnen weitere Ideen und Perspektiven: Sie wollten Särge kaufen können, um ihre Verstorbenen nicht mehr auf dem eigenen Grundstück verscharren zu müssen. Eine Kreditkooperative sollte es möglich machen, auch während der Hungersnöte Lebensmittel zu kaufen. Eine Schule sollte gebaut werden.
Doch es war ihnen damals nicht erlaubt, sich zu organisieren. Arbeiterrechte waren zwar durch die Verfassung garantiert, wurden jedoch auf Druck der vorwiegend landbesitzenden politischen Klasse nur in den großen Städten einigermaßen angewandt und geachtet. Auf dem Land und damit insbesondere im agrargeprägten Nordosten entschied weiterhin die feudalistische Willkür der Großgrundbesitzer*innen.
Die Galiléia-Bauern schrieben einen Brief an den örtlichen Großgrundbesitzer Oscar Arruda Beltrão, und baten ihn, die Vereinsgründung zu erlauben. Sie boten ihm sogar den Ehrenvorsitz ihrer geplanten Vereinigung an. Beltrão erteilte die Erlaubnis zunächst, zog sie jedoch wieder zurück, nachdem ihn sein Sohn davon überzeugt hatte, dass jede Form der bäuerlichen Selbstorganisation nur seine eigene Position im Galiléia schwächen würde.
Als sie das nachträgliche Verbot nicht akzeptieren wollten, forderte Beltrão die Bauern und ihre Familien auf, das Galiléia umgehend zu verlassen. Diese baten daraufhin Anacleto Juliãos Vater, den Rechtsanwalt und späteren Abgeordneten Francisco Julião, sie zu vertreten. 1959 gelang es diesem tatsächlich, die Vertreibung abzuwenden und sogar die Enteignung des Galiléia vor Gericht durchzusetzen, so dass der Großteil des Landes den dort ansässigen Familien überschrieben wurde.
Der gerichtliche Erfolg Juliãos war eng verbunden mit den politischen Entwicklungen in Pernambuco. Die progressiven Regierungen der Gouverneure Cid Sampaio und Miguel Arraes gingen seit Mitte der 1950 Jahre gemeinsam mit den sozialen Bewegungen und den sozialistischen und kommunistischen Parteien gegen Analphabetismus und Armut vor. Sie förderten die Gründung von Gewerkschaften, kommunalen Interessensverbänden und Bauernvereinigungen und unterstützten und initiierten bildungs- und sozialpolitische Projekte.
Die Enteignung des Galiléia wurde brasilienweit als Pilotprojekt einer neuen Agrarpolitik wahrgenommen. In anderen Gemeinden und Bundesstaaten schöpften die Bäuerinnen und Bauern Hoffnung, und bis 1964 entstanden in ganz Brasilien insgesamt 14 dieser bäuerlichen Vereinigungen. Aus einzelnen kleinen Zusammenschlüssen, die die alltägliche Situation in ihrer Region verbessern wollten, wurde eine Bewegung, die sich immer mehr politisierte, dabei aber keiner der etablierten politischen Richtungen angehörte und deren Anführer mit Fidel Castro und dem kubanischen Sozialismus sympathisierten.
Die konservative Presse begann, die Bauernvereinigungen nach den ligas camponesas zu benennen, verbotenen kommunistischen Gruppierungen der 1940er Jahre, und schürte so die Angst vor einer kommunistischen Revolution im brasilianischen Nordosten. Die Radikalisierung einzelner Ligen, die sogar zu den Waffen riefen, verstärkte diesen Eindruck. Die Mischung aus progressiver Realpolitik und einer sich politisierenden Bauernbewegung passten nur zu gut in das von Kommunistenangst geprägte konservative Feindbild dieser Zeit und führten 1964 schließlich zur brutalen Zerschlagung der ligas camponesas.
Dabei war es in den ländlichen Regionen meist so, dass die mit dem neuen System sympathisierenden Großgrundbesitzer*innen ihre Privatmilizen, die sogenannten capangas, auf unliebsame Bauern und Landarbeiter*innen hetzten, die die bestehenden Machtverhältnisse auf dem Land in Frage stellten oder im Zusammenhang mit Landstreitigkeiten im Weg waren. Tausende Menschen wurden dabei verfolgt und getötet. Insofern war der Einsatz von Militärs gegen die Galiléia-Bäuerinenn und -bauern während des Putsches im ländlichen Raum eher eine Ausnahme.
Heute leisten Zito da Galiléia und Anacleto Julião ehrenamtliche Erinnerungsarbeit auf dem Engenho und träumen von einer Gedenkstätte für die verfolgten und ermordeten Anführer und Mitglieder der ligas. Sie betreuen die kleine Zezé da Galiléia-Bibliothek, in der Bücher, alte Zeitungsausschnitte, Fotos und andere Dokumente Aufschluss geben über die Entstehung und den Kampf der Bauernvereinigungen. Sie pflegen und verwahren einen historischen Generator, kurioses Überbleibsel einer vergangenen Zeit, in der der damalige US-Präsident John F. Kennedy die Bewohner*innen des Galiléia beschenkte und so von einer mutmaßlichen kommunistischen Revolution abbringen wollte. Und sie führen Schüler*innen und Student*innen über den historischen Ort und beraten Wissenschaftler*innen und Journalist*innen, die zum Thema forschen.
Besonders wichtig ist es den beiden Männern, die Erinnerung an all jene wach zu halten, die im Kampf um die Rechte der Bäuerinnen und Bauern verfolgt, gefoltert oder ermordet wurden. Ihrer beider Familien waren in den Kampf der ligas stark involviert. Sie traf die Repression der Militärs besonders hart. Zitos Großvater, Zezé da Galiléia, wurde nach seiner Verhaftung gefoltert und monatelang inhaftiert, so dass er schließlich einen Schlaganfall erlitt. Er starb 1969 an den Folgen.
Auch Anacletos Vater, Francisco Julião, war von den Repressionen der Militärs betroffen. Mit der juristischen Vertretung der Galiléia-Bauern und Bäuerinnen war er innerhalb kürzester Zeit zu einem der wichtigsten Sprecher und Unterstützer der ligas camponesas geworden. Er wurde 1964 festgenommen und inhaftiert. Nach seiner Freilassung 1965 ging er ins Exil. Seine erste Ehefrau und ihre gemeinsamen Kinder mussten Brasilien ebenfalls verlassen. Sie alle konnten erst mit dem Amnestiegesetz 1979 in ihre Heimat zurückkehren
In der casa da farinha, wo sich die Galiléia-Bewohner einst versammelten, wurde im April 2013 eine Plakette aufgestellt: „An diesem Ort wird das Denkmal für die ligas camponesas in Brasilien und Francisco Julião aufgestellt.“ Dieser Ort habe eine große historische Bedeutung für die Landlosenbewegung und für die Agrarreform, begründet Anacleto Julião die Initiative. „Nicht nur in unserem Bundesland, sondern in ganz Brasilien.“ Anacleto fügt schmunzelnd hinzu: „Und weil es die Plakette gibt, müssen wir das Denkmal jetzt eben auch wirklich mal irgendwann errichten.“
Anacletos Optimismus täuscht darüber hinweg, dass die Erinnerungsarbeit zu den Menschenrechtsverletzungen, die während der Diktatur auf dem Land verübt wurden, noch eine weitere politische Dimension hat, die eine immense Herausforderung nicht nur für die Aktivist*innen, sondern auch für die brasilianische Gesellschaft darstellt.
Während die Aufarbeitung des politischen Widerstands und seiner staatlichen Verfolgung zumindest auf dem Weg ist, vor allem seitdem die Regierung die Nationale Wahrheitskommission vor zwei Jahren eingesetzt hatte, steht die Aufklärung der Verbrechen auf dem Land noch ganz am Anfang. Die bislang ausgewerteten Akten der Geheimpolizeien geben detailliert Aufschluss über die Methoden und Strukturen der politisch motivierten Menschenrechtsverletzungen. Indessen sind die Verbrechen der Großgrundbesitzer*innen und ihrer capangas schriftlich kaum dokumentiert. Damit besteht die Gefahr, dass die Aufarbeitung der Verbrechen auf dem Land voreilig für „abgeschlossen“ erklärt wird. So benennt beispielsweise auch die Wahrheitskommission von Pernambuco, dem Bundesstaat, der mit am stärksten von diesen Verbrechen betroffen war, das Quellenproblem: Die Suche nach entsprechenden Dokumenten müsste intensiviert, oder auch zum Beispiel verstärkt mündliche Überlieferung in die Untersuchungen einbezogen werden.
Die Aufarbeitung der Verbrechen auf dem Land oder auch an den Indigenen während der Diktatur ist von weitreichender Bedeutung für die brasilianische Gesellschaft, würde sie doch belegen, dass mit Großgrundbesitzer*innen, Siedler*innen und Unternehmen zivile Gruppen an Putsch und Diktatur beteiligt waren und mit den Militärs kollaborierten. DieAufarbeitung böte zudem die Chance, menschenverachtende feudalistische Machtstrukturen, wie sie auch während der Diktatur Ursache massiver Menschenrechtsverletzungen waren und noch heute in vielen ländlichen Gegenden Brasiliens herrschen, aufzubrechen, und somit künftig weitere Verbrechen zu verhindern. Aufarbeitung und Erinnerung, das will Zito de Galiléia. „Wir müssen an diese dunkle Vergangenheit erinnern“, sagt er. „Damit die neuen Generationen die Wahrheit darüber erfahren, was damals passiert ist.“

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