Nummer 353 - November 2003 | Sachbuch

Auge und Wort sind eins

Ein Bildband mit Fotografien des mexikanischen Autors Juan Rulfo

Das literarische Werk Juan Rulfos (1918 – 1986) ist überschaubar. Es umfasst gerade mal zwei Bücher, denen allerdings eine beeindruckende Intensität eigen ist. Rulfo schildert in Pedro Páramo und dem Kurzgeschichtenband El Llano en Llamas Leben und Überleben der ländlichen Bevölkerung in den fünfziger Jahren, basierend auf den eigenen Erfahrungen seiner Jugend in Jalisco, Mexiko. Nun zeigt der Bildband Juan Rulfo’s Mexico zwischen 1945 und 1955 entstandene Fotografien des Literaten. Komplettiert wird das Buch von sehr lesenswerten Essays verschiedener mexikanischer Autoren, der wohl bekannteste unter ihnen ist Carlos Fuentes.

Georg Neumann

Das literarische Werk Rulfos hat fast journalistisch-dokumentarischen Charakter, jedoch immer aus einer individuellen, einzigartigen Sichtweise heraus. Seine Aufnahmen sind ganz wie seine Texte. Der Bildband lässt Rulfos Texte auferstehen und wieder lebendig werden. Die Geisterstadt Comala aus Pedro Páramo scheint sich ebenso zu finden wie die Gebirgswege und Flüsse seiner Erzählungen. Die Bilder sind dabei aber von einer solch authentischen Poesie, wie sie nur der Natur selbst zu Eigen ist. Jeder Stein scheint zu sprechen, jeder Baum nimmt menschliche Züge an und spricht mit dem Betrachter voller Melancholie.
Die Schwarzweißfotografien nehmen den Leser mit in dieses Mexiko der fünfziger Jahre, dessen Landromantik damals schon seine goldene Zeit hinter sich hatte. Eine kleine Serie zu Drehaufnahmen unterstreicht diesen Eindruck. „Wir sind eben sehr arm“ heißt eine der Geschichten Juan Rulfos, die schwermütig das Überleben der Landbevölkerung beschreibt, deren Zukunft unsicher ist. Auch den Bildern sieht man an, dass der Fortschritt sie überholt hat. Ruinen von Häusern, Brücken und Kirchen stehen einsam in der Landschaft. Sie stammen aus einer anderen Welt. Der Band öffnet uns ein Fenster, damit wir uns umschauen können. Das könnte einen traurig stimmen, aber Rulfos Bilder lassen dies nicht zu. Sie verlangen ein stilles Lächeln und das leise Entdecken der Details. Der Mensch geht dabei manchmal unter und wird Teil einer unvergänglichen, rauen Natur, als Zeichen von Hoffnung.
Rulfos Betrachtungen beschönigen nicht. Beim ersten Blättern besticht der Bildband durch die Schönheit und technische Brillanz der Fotos. Der zweite Blick offenbart die Härte und Schwere der Umwelt, das zerrissene, dreckige Hemd und die Furchen in den Gesichtern. Rulfo verklärt nicht. Das Leben ist nicht nur melancholisch und schön. Der Fotograf Rulfo zeigt nicht das verräterische Bild einer verlorenen Zeit der Idylle. Seine Poesie ist real. Wenn in der kärgsten Steinwüste Blumen zu finden sind, dann zeigt sie uns Rulfo auf einem Foto. Dann beschreibt er sie mit einem Satz.
Auge und Wort sind bei Juan Rulfo eins. Gerade wer sein literarisches Werk nicht kennt, wird in diesem Band eine Welt entdecken, die keiner so beschreiben konnte wie der Mexikaner. Die Kamera ist der Feder ebenbürtig und bietet unabhängig jeder Übersetzung einen wunderbaren Einblick. Trotz aller Traurigkeit bestimmen Hoffnung und Vertrauen das Werk Rulfos und das der Menschen, die er fotografiert. Sie haben den Blick so oft in die Ferne gerichtet oder steigen einen steinigen Gebirgsweg hinauf, um den Berg zu erklimmen. Rulfo schenkt uns seine Augen, um zu sehen.

Carlos Fuentes (Ed.): Juan Rulfo’s Mexico. Smithsonian Books, Washington D.C. 2002, 215 S., $59,95.

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