Ausgekirchnert
Das Erbe der Kirchners steht bei den Präsidentschaftswahlen auf dem Spiel
Am 25. Oktober gehen die Argentinier*innen an die Urnen, um ihren zukünftigen Präsidenten zu wählen. Die amtierende Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner der peronistischen Partei Front für den Sieg (FpV) kann verfassungsgemäß nicht für ein drittes Mandat antreten. Für die FpV ist Daniel Scioli nominiert, ehemaliger Vizepräsident der Regierung Néstor Kirchner (2003-2007) und amtierender Gouverneur der Provinz Buenos Aires. Neben dem Kandidaten der FpV gibt es in der gespaltenen Opposition noch zwei Wahlbündnisse, die Chancen hätten, bei den Wahlen zu gewinnen: Das Mitte-Rechts-Bündnis um den Unternehmer Mauricio Macri namens Cambiemos (in etwa: „Ändern wir uns“) sowie Vereint für ein neues Argentinien (UNA), eine Koalition des „erneuerten“ Peronismus von Sergio Massa, der ehemals der Kirchner-Regierung angehört hat (siehe LN 471/472).
In den Vorwahlen vom 9. August entschieden die Wähler*innen, dass für das neu zu besetzende Präsidentenamt drei Männer zur Wahl stehen, deren Stil sich sehr von der jetzigen Präsidentin und Führungsperson des Kirchnerismus unterscheidet. Ohne Zweifel wird es nach diesen Wahlen eine Veränderung in Argentinien geben. Fraglich ist, wie groß diese sein wird: Kann das linksbasierte peronistische Projekt des Kirchnerismus, das sich selbst mit den unübersetzbaren Schlagworten „nacional y popular“ charakterisiert, mit einem neuen Präsidenten – der kein Kirchner ist – weiter bestehen? Wird es einen grundlegenden Wandel mit einer Regierung geben, die sich aus der jetzigen Opposition gründet?
Wenn auf keinen der Kandidaten am 25. Oktober mehr als 45 Prozent der Stimmen bzw. mehr als 40 Prozent der Stimmen mit einem Vorsprung von zehn Prozentpunkten zum zweiten Kandidaten entfallen, schreibt das argentinische Wahlrecht einen zweiten Wahlgang für den 22. November vor. Die spannende Frage ist, welches der beiden großen Oppositionsbündnisse es schafft, in die erhoffte zweite Runde zu kommen. Eine aktuelle Umfrage des Zentrums für Öffentliche Meinungsforschung CEOP vom 25. September sieht den Kandidaten der FpV mit 41,6 Prozent an erster Stelle. Weit abgeschlagen folgt Mauricio Macri (Cambiemos) mit 29,2 Prozent. Sergio Massa von UNA würde etwa 20 Prozent der Stimmen auf sich vereinen können, allerdings habe dieser in den vergangenen Wochen laut Umfragen zugelegt.
Worin aber unterscheiden sich die Kandidaten? Die FpV sieht sich als das peronistische Linksprojekt, das in der wirklichen Tradition von Perón und Evita steht: Diese schreibt sich soziale Gerechtigkeit, ökonomische Unabhängigkeit und politische Souveränität auf die Fahnen. Mit der Präsidentschaft von Néstor Kirchner und seiner Ehefrau Cristina Kirchner (2007-2015) hat die Partei das Land zwölf Jahre regiert und dabei versucht, den Peronismus zu reformieren. Die für ihren charismatischen Regierungsstil bekannte Präsidentin Cristina, die sich in öffentlichen Akten nur beim Vornamen nennen lässt, hat ihre Partei im letzten Moment dazu aufgerufen, Daniel Sciolis Kandidatur zu unterstützen. Nach großen Spannungen, öffentlichen Zusammenstößen und Misstrauen durch die nur zaghafte Unterstützung, die Scioli seit jeher für die Kirchner-Regierung übrig hatte, blieb Cristina trotzdem keine andere Wahl als auf Daniel Scioli zu setzen. Immerhin ist er der Gouverneur der Provinz Buenos Aires, die 37 Prozent der Wahlbevölkerung stellt und der Kandidat, der in allen Umfragen und im heterogenen Lager des Peronismus die meisten Stimmen auf sich vereinen konnte.
Die politische Figur Scioli hat immer vermocht, ihr eigenes Profil zu kultivieren, das sich sehr von dem konfrontativen „cristinischen“ Stil unterscheidet. Er selbst sieht sich als Schlichter und zeigt sich gerne als moderater Dialogpartner. Obwohl er stets ein sicherer Verbündeter des Kirchnerismus war, war er doch nie Teil des harten Kerns. Obwohl er nicht ursprünglich aus dem politischen Aktivismus kommt, ist er einer der wenigen, der weiß, wie man sich Unterstützer*innenkreise in den Strukturen des alten Peronismus aufbaut. Scioli, Sohn eines peronistischen Unternehmers aus Buenos Aires, war Motorbootrennfahrer, bevor er – angeworben durch den Ex-Präsidenten Carlos Menem – in die Politik einstieg. Im peronistischen Kabinett Menems, der die neoliberale Politik und die Privatisierungen der 1990er Jahre einleitete, war Scioli Tourismussekretär. Als Vizepräsidenten drängte Cristina Kirchner Scioli den amtierenden Staatssekretär für rechtliche und technische Fragen, Carlos Zannini, auf. Zannini ist ein starker Mann aus ihren eigenen Reihen; Partner, Freund und bedingungsloser Jünger der Kirchnerfamilie seit den Anfängen ihres politischen Projekts in der südlichen Provinz Santa Cruz. Scioli genießt ein hohes Ansehen in der Mittelklasse: Sein moderates Profil kündigt andere Zeiten an, stellt aber dennoch die Möglichkeit einer gewissen Kontinuität in Aussicht. Als Gouverneur hat er seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, die große Mehrheit der Bürgermeister*innen der einflussreichen Provinz Buenos Aires hinter sich zu vereinen. Die Umfragen weisen darauf hin, dass er gute Chancen auf einen Triumph hat.
Cambiemos ist ein Wahlbündnis, das sich unter der Führung der jungen Partei PRO (Republikanischer Vorschlag) des Unternehmers Mauricio Macri, Verteidiger und Nutznießer der neoliberalen Politik der 90er Jahre, gegründet hat. Zum Bündnis gehören außerdem die traditionelle und historische Mitte-Links-Partei Zivil-Radikale Union (UCR), die Zivile Koalition (CC, Abspaltung der UCR) und andere kleine Parteien des konservativen Spektrums. Dieses Oppositionsbündnis, das sich – vor allem aufgrund der Positionierung seiner Spitzen – rechts der Mitte einordnet, versammelt in seinen Reihen die großen Widersacher des Kirchnerismus, wie die konservative Elisa Carrió (CC) und den Präsidentschaftskandidaten Mauricio Macri, den amtierenden Bürgermeister der Hauptstadt Buenos Aires. Cambiemos, wie der Name bereits sagt, propagiert einen radikalen Wandel, vor allem in der Wirtschaft und in der Regierungsform, so lässt es Macri in all seinen öffentlichen Auftritten verlauten. Wie diese Änderungen im Detail programmatisch umgesetzt werden sollen, wird allerdings nicht angesprochen.
In den Vorwahlen ist Cambiemos mit den gemeinsamen Stimmen aller Kandidat*innen auf 30,4 Prozent gekommen und Macri kann nun von den starken Parteistrukturen der UCR in den Provinzen profitieren. Zwar hatte sich Cambiemos hohe Chancen ausgerechnet, es in die zweite Wahlrunde zu schaffen, aber durch die Aufdeckung von Korruption bei Auftragsvergaben in der Hauptstadtregierung Macris, durch die eigene und befreundete Unternehmen des ursprünglichen PRO-Kandidaten Fernando Niembro begünstigt wurden, musste dieser zurücktreten. Niembro wird nun gerichtlich verfolgt – was sein Ansehen und die Wahlabsichten für Cambiemos in Mitleidenschaft gezogen hat. Die Chancen der FpV nach diesem Skandal bereits im ersten Wahlgang zu gewinnen, sind seither laut Umfragen langsam gestiegen. Vizepräsidentin bei Macri wäre Gabriela Michetti, Abgeordnete des PRO mit gemäßigten Image und großer Unterstützung von links der Mitte, die für mehr Akzeptanz für Macri in den Kreisen sorgen soll, die sein neoliberales Profil eher argwöhnisch betrachten.
UNA ist ein Bündnis unabhängiger Peronist*innen mit gemäßigtem Mitte-Rechts-Programm und einem starken Entwicklungsdiskurs, das mit niemand geringerem als dem ehemaligen Kabinettsminister der ersten Regierung Cristina Kirchners, Sergio Massa, antritt. Nachdem sich Massa im Jahr 2009 von der Regierung trennte, überraschte er mit einem Triumph gegenüber dem kirchneristischen Kandidaten Martín Insaurralde bei den Parlamentswahlen von 2013. Die Wahl zum Abgeordneten der Provinz Buenos Aires machte ihn zur wichtigsten Oppositionsfigur. Nach diesem epischen Sieg wurde Massa von regierungskritischen Kreisen und konservativen Oppositionsmedien als neue Alternative gefeiert. Eine, die dem Kirchnerismus die Stirn bieten könnte. Zuerst entwickelte sich sein Image positiv und er erfuhr wachsende Zustimmung. Vor allem in der Mittelklasse der urbanen Zentren und des Großraums von Buenos Aires fielen seine Beliebtheitswerte im Frühjahr so abrupt ab, dass man im Mai dieses Jahres gar noch über den Rückzug seiner Präsidentschaftskandidatur spekulierte. Obwohl Massa keine starke Unterstützungsstruktur im Inneren des Landes aufbauen konnte, wurde er nach den Vorwahlen als Kandidat der UNA verkündet. Auf die Unterstützung seines Verbündeten und ehemaligen Konkurrenten um die Präsidentschaftskandidatur, des Langzeitgouverneurs der wichtigen Provinz Córdoba, José Manuel de la Sota, kann er aber zählen. Massa präsentiert seine Kampagne als „gerechten Wandel“ mit einer starken sozialen Ader. Ohne konkrete Vorschläge fokussiert er sich diskursiv auf die Frage der inneren Sicherheit, wobei er die konservative Politik der harten Hand verfolgt, die in linken Kreisen stark kritisiert wird. In den vergangenen Wochen haben sich Massas Aussichten wieder verbessert, weshalb er sich erhofft, in einem zweiten Wahlgang die Unterstützung der Opposition gegen den Kirchnerismus auf sich zu vereinen. Aber auch wenn man einen gewissen Anstieg der Wahlabsichten für Massa verzeichnen kann, „hält sich das Schema 40-30-20 für Scioli, Macri und Massa“, so Roberto Bacman vom CEOP.
Dieser Wahlkampf ist keine Ausnahme der argentinischen Wahlkampftradition, die sich wenig um inhaltliche Debatten dreht. So gibt es auch diesmal keine große Polarisierung zwischen zwei Kandidaten. Der Kandidat der amtierenden Regierung lässt die wichtigsten Fragen offen. Seine Positionen zu Wirtschafts-, Innen- und Außenpolitik sind flexibel, seine eher verhaltene Unterstützung für die zentralen Punkte des Kirchnerismus lassen viel Spielraum für Spekulationen. Sergio Massa weiß vor allem die Peronist*innen hinter sich, die dem linken Peronismus, initiiert durch die Kirchner-Regierungen, kritisch gegenüberstehen. Sollte er die Wahlen gewinnen, hat er dennoch viel Überzeugungsarbeit sowohl bei oppositionellen als auch regierungsnahen Lagern zu leisten. Macri ist weniger geheimnisvoll als seine Mitkandidaten. Er verfolgt den klassischen Wandel und versucht so, all die mit der jetzigen Regierung Unzufriedenen hinter sich zu vereinen. Dabei hat er die explizite Unterstützung der konservativen Medien. Ein Sieg Macris, bisher noch unwahrscheinlich, eröffnete andere interessante Fragen. Er propagiert die Rückkehr zum Neoliberalismus – der Schaden, den dieser in Argentinien und der Region angerichtet hat, ist noch stark im kollektiven Gedächtnis der Mehrheit der Bevölkerung verankert. Um diese abgewertete und vergangene Ära in Lateinamerika aufleben zu lassen, müsste er sie mit neuen Ideen füllen.