Nummer 311 - Mai 2000 | Peru

Ausnahmezustand und Tote

Ex-Diktator Hugo Banzer greift wieder auf die Militärs zurück

Nachdem die sozialen Proteste mit Streiks und Blockaden für mehrere Tage weite Teile Boliviens lahmgelegt hatten, erklärte die bolivianische Regierung unter Ex-Diktator Hugo Banzer am 8. April den landesweiten Ausnahmezustand – und damit gleichermaßen den eigenen politischen Bankrott. Wie einst in den 70er Jahren konnte Banzer nun mit dem Militär regieren, und wie schon in den 70er Jahren gab es dabei Blutvergießen.

Marc Zackel

Bereits am 20. April wurde der für drei Monate verhängte Ausnahmezustand wieder aufgehoben – dem Osterfest sei gedankt. Eine erste Bilanz der Ereignisse der letzten zwei Wochen konnte gezogen werden, und diese fiel nicht gut aus für die amtierende Koalitionsregierung. In den nur 13 Tagen des Ausnahemzustands hat es 5 Tote, 22 Festnahmen und etwa 90 Verletzte gegeben. Nach internen Schuldzuweisungen trat das Kabinett Ende April geschlossen zurück. Der neuen Regierungsmannschaft gehören allerdings fünf Minister der alten Regierung an.

Sechster Ausnahmezustand

Seit Bolivien 1982 wieder von einer demokratisch gewählten Regierung geführt wird, war dies das sechste Mal, dass der Ausnahmezustand verhängt wurde. Anlass waren in der Vergangenheit zumeist Streiks der Minenarbeiter oder der Lehrer. Tote hatte es bis dato allerdings nicht gegeben. Jedoch war es den vorangegangenen Regierungen mittels des Ausnahmezustandes jedes Mal gelungen, den Protest zu brechen und die eigenen Positionen durchzusetzen. Diesmal ist das Gegenteil der Fall: Trotz der Toten hat die Regierung in allen strittigen Punkten nachgegeben, ohne dass man der Lösung der bestehenden Konflikte näher gekommen wäre.
Und anders als bei den vorangegangenen schweren Konflikten, waren es diesmal nicht die Forderungen einzelner, starker gesellschaftlicher Sektoren, die sich gegen die Regierung stellten. Bedingt durch die verlorene Hegemonie des einst mächtigen Gewerkschaftsdachverbandes COB (Central Obrera Boliviana), handelte es sich vielmehr um eine generelle Unzufriedenheit sowohl der städtischen als auch der ländlichen Armen, die nach 15 Jahren neoliberaler Strukturanpassung immer weiter in die Armut abrutschen.
Begonnen hatten die sozialen Proteste am 3. April im bolivianischen Altiplano, als die Bauerngewerkschaften anfingen, sich mit Straßenblockaden gegen das geplante Wassergesetz zur Wehr zu setzen. Fast zeitgleich erreichten die Auseinandersetzungen um die Erhöhung der Wassertarife in Cochabamba im Zuge der Privatisierung der Wasserversorgung einen neuen Höhepunkt. Auch an anderen Orten des Landes kam es zu Protesten, die sich teils ebenfalls gegen das Wassergesetz richteten, teils aber auch regionale Forderungen beinhalteten. Die Regierung zeigte sich über Tage hinweg unfähig, auf die Herausforderungen politisch zu reagieren. Als dann die Straßenblockaden in weiten Landesteilen immer massiver wurden, Cochabamba von Barrikaden übersät und die Plaza in eine Festung „Cochabambiner Patrioten“ verwandelt war, erklärte Präsident Banzer kurzerhand den Ausnahmezustand für das ganze Land.
Wenig rühmlich für eine demokratische Regierung, dass bereits in der Nacht zuvor Soldaten Hausdurchsuchungen durchführten, durch die Straßen patroullierten und Gewerkschaftsführer verhafteten. De facto hatte der Ausnahmezustand also bereits einen Tag vor seiner offiziellen Verkündigung begonnen; ein klarer Bruch der bolivianischen Verfassung.
Aber das erwünschte Ergebnis blieb aus: Statt zu einer Eindämmung der Auseinandersetzungen beizutragen, schürte der Einsatz von Soldaten den Zorn der Bevölkerung erst recht. An Straßensperren kam es zu regelrechten Schlachten zwischen Bauern und Militär, die schnell zu den ersten Toten führten. Weiteres Militär wurde mobilisiert und Panzer wurden eingesetzt. In Achacachi, einem der Zentren des Widerstandes, wurde als Reaktion auf die toten Bauern ein sich im dortigen Krankenhaus befindlicher Militär von der aufgebrachten Menge gesteinigt, der Polizeiposten geplündert und niedergebrannt. Die Repression des Militärs gegen die Zivilbevölkerung nahm daraufhin erheblich zu. Es wurden Kinder verhaftet, zusätzlich gab es verstärkt Misshandlungen und Hausdurchsuchungen. Im Fernsehen waren Bilder von einem Scharfschützen in Zivil zu sehen, der aus einer Soldateneinheit heraus gezielt in die Menge schießt.
Gleichzeitig griff der Protest in das bis dahin ruhige La Paz über: Um ihrer Forderung nach mehr Lohn Nachdruck zu verleihen, ging eine Sonderpolizeieinheit zur offenen Meuterei über und verschanzte sich in ihren Gebäuden. Die Regierung ließ zunächst Militärpolizei in Stellung gehen, sah sich dann aber gezwungen, den Forderungen der Meuterer nachzugeben, einschließlich deren Straffreiheit.
In Cochabamba kontrollierten die Bewohner große Teile der Stadt, ohne sich um die mit dem Ausnahmezustand geschaffene Herrschaft der Militärs zu kümmern. „Ausnahmezustand? Dass ich nicht lache, ha ha ha“ dokumentierte ein Graffiti die allgemeine Stimmung. Angesichts dieses massiven Widerstands, gepaart mit massenhaftem zivilem Ungehorsam, gab die Regierung nach: Sie kündigte den Vertrag mit dem privaten Wasserversorgungsunternehmen „Aguas del Tunari“ und verabschiedete die geforderten Modifikationen im Trinkwassergesetz, behauptete aber gleichzeitig, die Unruhen seien ein vom Drogenhandel finanziertes Komplott.

„Und jetzt, wie weiter?“

In Potosi rief das örtliche Bürgerkomitee (Comité Cívico) zu einem weithin befolgten Generalstreik auf, dem Ausnahmezustand zum Trotz.
Währenddessen blieb es im ökonomisch wichtigen Departamento Santa Cruz fast völlig ruhig. Lediglich eine Polizeieinheit versuchte, in Nachahmung der Kollegen in La Paz, durch eine wenig beachtete Meuterei eine Lohnerhöhung zu erreichen.
Während man in Cochabamba den Sieg über die Regierung feierte und die Barrikaden in den Straßen allmählich abgebaut wurden, traten neue Akteure auf den Plan: Die Coca-Bauern in den nördlich von La Paz gelegenen Yungas demonstrierten gegen die geplante Vernichtung der illegalen Coca-Felder (s. LN 310), indem sie die wichtigste Verbindungsstraße ins Tiefland für mehrere Tage komplett blockierten, teilweise sogar Gräben aushoben und Teile der Straße wegsprengten. Auch hier musste die Regierung sich letztlich zu Verhandlungen bereiterklären und einlenken. In La Paz gingen die Studierenden mit der Forderung nach mehr Geld für die Universitäten auf die Straße und lieferten sich tagelange Schlachten mit der Polizei: Steine gegen Tränengas.
Dies alles passierte ungeachtet des Ausnahmezustands. Der Verlust an Autorität der Regierung war allerorten offensichtlich. Sowohl die Kirche, als auch die Unternehmer und die Oppositionsparteien forderten beständig ein Ende der Gewalt und des Ausnahmezustands. Bedingt durch das Nachgeben der Regierung an den verschiedenen Fronten beruhigte sich die Situation im Land nach zehn turbulenten Tagen allmählich. Aufgrund des Drucks der Kirche und breiter Kreise der Gesellschaft wurden die verhafteten Gewerkschaftsführer freigelassen. Überraschenderweise wurde sogar kurz vor Ostern der für die Dauer von 90 Tagen verhängte Ausnahmemzustand wieder aufgehoben.
Abgesehen von den Toten und Verletzten ist wohl der größte Schaden der noch jungen bolivianischen Demokratie entstanden. Der Einsatz von Soldaten noch vor der offiziellen Verhängung des Ausnahmezustands und die Ausschreitungen eines Teiles des Militärs hat Erinnerungen and die Diktaturen der 70er (Banzer) und frühen 80er Jahre (García Mesa) wieder wach werden lassen. Die heftigen und wütenden Proteste eines Großteils der verarmten Bevölkerung haben auf der anderen Seite gezeigt, dass sie trotz Participación Popular (Gesetz zur Bürgerbeteiligung) „Kampf gegen die Armut“ weiterhin von der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung ausgeschlossen sind.
Der von der Regierung auf Druck der Gläubigerländer für Juli angesetzte „Nationale Dialog“ mit allen gesellschaftlichen Gruppen über die Verteilung der Gelder aus dem Schuldenerlass ist mit den Ereignissen der letzten zwei Wochen in weite Ferne gerückt. Es scheint, als hätten die Hardliner in der regierenden ADN (Acción Democrática Nacionalista) des Ex-Generals Banzer ihr Ziel erreicht: die Verhinderung eines breiten gesellschaftlichen Dialogs über die Zukunft des Landes.
Ungeachtet dessen steht weiterhin die zentrale Frage im Raum, wie sie von den Vertretern der Medien auch der neuen Regierung gestellt wird: „Und jetzt, wie weiter?“

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