AYOTZINAPA – DIE OFFENE WUNDE
Zum Stand der Ermittlungen zwei Jahre nach dem Verschwinden der 43 Studenten
Nach Iguala, einer Stadt im Norden des Bundesstaates Guerrero, ging es am Abend des 26. September 2014 für Lehramtsstudenten und Lehrer der „Normal Rural“ (Ländliche Lehrerausbildungsstätte) in Ayotzinapa. Vor Ort wollten sie, nach gängiger Praxis, weitere Busse „ausleihen“, um nach Mexiko-Stadt zu gelangen und am alljährlichen Gedenkmarsch zur gewaltsanen Niederschlagung der Studierendenproteste am 02. Oktober 1968 teilzunehmen. Bei der Ausfahrt aus Iguala attackierten örtliche Polizeikräfte die Busse mit Waffengewalt. Im Laufe der Nacht wurden ab diesem Moment sechs Menschen getötet, mindestens 25 verwundet und 43 der Studenten von den Einheiten verschleppt (siehe LN 485 und LN 497). Bis zu diesem Punkt decken sich die Darstellungen der Generalstaatsanwaltschaft und der externen unabhängigen Expert*innengruppe GIEI (Grupo Interdisciplinario de Expertos Independientes).
Laut offizieller Darstellung der Ermittlungsbehörden wurden die Studenten auf Anweisung des Bürgermeisters von Iguala gewaltsam durch die Lokalpolizei gestoppt, um eine Veranstaltung seiner Frau nicht zu stören. Sowohl sie als auch ihr Ehemann José Luis Abarca standen laut diesen Ermittlungen seit längerem in Kontakt zum organisierten Verbrechen, mit dem Kartell Guerreros Unidos (Vereinigte Krieger). Daher seien die 43 Studenten danach von der Polizei an Mitglieder der Guerreros Unidos übergeben worden, die sie daraufhin töteten. Auf einer nahegelegenen Müllhalde sollen sie anschließend die Leichen verbrannt und die Asche in den Fluss San Juan geschüttet haben.
Die Nachforschungen der Generalstaatsanwaltschaft konzentrierten sich aus diesem Grunde darauf, den damaligen Bürgermeister Igualas und seine Frau, mutmaßlich verantwortliche örtliche Polizeibeamte und beteiligte Mitglieder des Kartells festzunehmen und zu verhören. Nach einmonatiger Flucht wurde das Ehepaar festgenommen und zunächst wegen krimineller Machenschaften angeklagt. Ihr Prozess wurde im Februar dieses Jahres nach Tamaulipas, an die US-amerikanische Grenze, verlegt und kann aufgrund der unsicheren Beweislage noch lange andauern. Insgesamt sind bis heute 120 Personen des Verdächtigenkreises verhaftet und teilweise angeklagt worden. Währenddessen urteilten im Mai die Bundesrichter*innen, ein gewaltsames „Verschwindenlassen“ durch die Behörden ließe sich nicht nachweisen. Stattdessen seien die Studenten ihrer Freiheit beraubt und danach hingerichtet worden.
An diesem Tathergang kamen bereits zu Beginn Zweifel auf. Die eingeleiteten Ermittlungen und Verfahren wurden von zahlreichen zivilgesellschaftlichen Gruppen, allen voran den Angehörigen der Studenten, als unzureichend und unzutreffend kritisiert. Aufgrund des nationalen und internationalen Drucks stand die mexikanische Regierung daher einer unabhängigen Expert*innengruppe zu, weitere Untersuchungen durchzuführen. Diese Kommission unterstützt nun die Forderungen nach einer umfassenderen Aufklärung. Vorläufige Ergebnisse und Empfehlungen veröffentlichte das Team im September 2015, weitere im April 2016. Die Untersuchungen förderten zahlreiche Ermittlungslücken zutage und gelangten zu Schlüssen, die der offiziellen Version des Tathergangs widersprechen.
So hatte die Frau des Bürgermeisters ihre Rede auf der Veranstaltung, die sie angeblich nicht gestört wissen wollte, bereits 40 Minuten vor Eintreffen der Studenten und Lehrer aus Ayotzinapa beendet. Dieses Motiv verliert hierdurch an Gewicht. Außerdem nahm an der koordinierten Aktion nicht nur die Polizei Igualas, sondern auch der Nachbargemeinde Huitzuco teil. Zeitgleich waren Landes- und Bundespolizist*innen sowie Militärs des vor Ort stationierten 27. Bataillons zumindest während der Taten zugegen, was lange Zeit geleugnet wurde. Auch waren alle beteiligten Kräfte über ein internes Netzwerk (genannt C4) bereits vor Eintreffen der Studenten über deren Kommen informiert und kommunizierten während der Nacht kontinuierlich. Da sämtliche Einheiten somit wussten, dass die Studenten unbewaffnet und lediglich zur Durchreise nach Iguala kommen würden, kann so die heftige Gewaltanwendung gegen sie also nicht erklärt werden.
Unterdessen scheinen die verantwortlichen Behörden viel dafür zu tun, bestimmte Sachverhalte zu vertuschen: So wurden die Aufzeichnungen der entscheidende Zeitabschnitte der Kommunikation von Polizei und Militärs durch die Regierung nicht zur Untersuchung freigegeben. Die unabhängige Expert*innengrupp durfte wiederum bis zum Ende ihres Mandats im April 2016 keine Angehörigen des Militärs vernehmen.
Auch der zweite Teil der rekonstruierten Ereignisse wirft Fragen auf. Die Glaubwürdigkeit der angeblichen Kartellmitglieder wurde bereits frühzeitig bezweifelt, ihre Aussagen sollen durch Folter erzwungen worden sein. Auch die These von der vollständigen Einäscherung der Leichen auf einer nahegelegenen Müllhalde gilt mittlerweile als widerlegt. Insbesondere wird auf Grundlage der gefundenen Spuren angezweifelt, ob an dieser (konkreten) Stelle 43 menschliche Körper offen verbrannt wurden. Dies belegen auch andere Untersuchungen: So konnten nach beinahe zweijähriger Analyse der vermeintlichen verbrannten Überreste der Studenten an einem Innsbrucker Spezialinstitut lediglich DNA-Spuren von zwei der Entführten festgestellt werden.
Zu der Frage, warum die Studenten derart gezielt angegriffen wurden und keine der anwesenden höheren Instanzen einschritt, sind durch die unabhängigen Untersuchungen zudem neue Erklärungen entwickelt worden. So war ein weiterer Bus, der möglicherweise der Schlüssel für die Klärung des Falls sein könnte, bisher nicht Gegenstand der offiziellen Ermittlungen. Da Iguala ein Umschlagspunkt für den Drogenhandel ist, besteht die Vermutung, dass dieser ebenso von den Studenten benutzte Bus möglicherweise ein Drogentransporter gewesen sei, was die gewaltsame Reaktion der mit dem Drogenkartell verflochtenen staatlichen Stellen hervorgerufen habe.
Obwohl die Verfahren gegen die von der Generalstaatsanwaltschaft beschuldigten Personen andauern, besteht seit April die Forderung, dass die unabhängige Expert*innen ihre Arbeit, einschließlich des Zugangs zu den bislang verwehrten Quellen, fortsetzt. Indes lief ihr Mandat Ende April aus und wurde von der mexikanischen Regierung mit Hinweis auf eine von ihr selbst in Bälde benannten „Folgekommission“ nicht verlängert.
Währenddessen verfechten die Angehörigen weiterhin ihre Forderungen nach einem ordnungsgemäßen juristischen Vorgehen. Am 18. August brachen sie die Gespräche mit der Generalstaatsanwaltschaft ab, nachdem diese sich zum geforderten Rücktritt des obersten Ermittlungsbeauftragten Tomás Zerón de Lucio nicht äußern wollte. Zerón wird Beweismittelfälschung vorgeworfen.
Das gesellschaftliche Interesse an der Aufklärung des Verbrechens hat zwei Jahre nach der „Nacht von Iguala“ zwar nachgelassen. Im kollektiven Gedächtnis ist der Fall allerdings alles andere als abgeschlossen. 2014 sorgten die Verschwundenen von Ayotzinapa und der offizielle Umgang mit dem Fall innerhalb wie außerhalb Mexikos für ungeahnte Empörung. Monatelang folgten die größten Demonstrationen, die das Land seit langem gesehen hatte. Im Februar 2015 legten aufgrund öffentlichen Protests gar Generalstaatsanwalt Murillo Karam und der damalige Gouverneur des Bundesstaats Guerrero Ángel Aguirre Rivero ihre Ämter nieder. Wenn an diesem 26. September den 43 Verschwundenen und den Toten gedacht wird, ist der aktuelle politische Druck zwar vergleichsweise gering. Doch wie vor zwei Jahren geht es weiterhin darum, ein Verbrechen staatlicher Stellen aufzuklären, dessen derzeitiger Ermittlungsstand mehr Fragen als Antworten liefert.