Aktuell | Kolumbien | Migration | Nummer 551 - Mai 2020 - Onlineausgabe

BELASTUNGSPROBE FÜR DIE NACHBARSCHAFTLICHE SOLIDARITÄT

Coronakrise erschwert in Kolumbien das Verhältnis zu den venezolanischen Migrant*innen

Die Corona-Pandemie überdeckt nicht nur die Migrationskrisen unserer Tage, sie kann diese auch verstärken. Dies ist bei den venezolanischen Migrant*innen in Kolumbien der Fall. Sie erleben viel Solidarität, aber zunehmend auch Ablehnung. Die Schließung der Grenze und die Ausgangssperren stellen sie vor neue Belastungen.

Von Christian Konrad

Solidarität in Krisenzeiten: Noch unterstützt die Stadtverwaltung die Geflüchteten (Foto: Victor Sánchez)

„Ich bin seit inzwischen zwei Jahren mit meiner Tochter in Kolumbien. Wir sind hier gut aufgenommen worden, die Leute sind hilfsbereit. In Venezuela ist das Geld nichts mehr wert, hier hingegen gibt es Möglichkeiten. Wir leben in einer Unterkunft, für die ich 7.000 Peso (rund 1,61 Euro) täglich bezahle.“ So wie die 24-jährige junge Mutter kommen viele Venezolaner*innen, die im Zuge der Migrationskrise nach Kolumbien ausgewandert sind, in sogenannten pagadiarios unter. Das sind einfache private Unterkünfte, die auf Tagesbasis an Migrant*innen vermietet werden. Diese verdienen ihr Geld vor allem als fliegende Händler*innen auf der Straße. In Zeiten von Corona und den damit einhergehenden Ausgangsbeschränkungen fallen diese Tätigkeiten als Einnahmequelle jedoch weitgehend aus. In der Folge können die Menschen ihre Tagesmiete nicht mehr aufbringen und verlieren schnell ihr Dach über dem Kopf. „Es handelt sich um Menschen, die von einem Tag auf den anderen leben und von ihrer Arbeit auch etwas Geld nach Hause schicken“, sagt Francine Howard von der Organisation Asociación Unidos por Venezuela. „Sie arbeiten im informellen Sektor und können derzeit kaum ihre Familie ernähren.“

Die wegen der Corona-Pandemie weitgehend eingeschränkte Freizügigkeit trifft die venezolanischen Migrant*innen hart. Diese konnten sich noch bis vor kurzem dank der Politik der offenen Grenzen der kolumbianischen Regierung weitgehend ungehindert zwischen den beiden Ländern bewegen. „Ohne die Möglichkeit, uns in Kolumbien mit Nahrungsmitteln zu versorgen, hätten wir es sehr viel schwerer“, berichtet eine ältere Frau aus Venezuela.

„Wir sind hier gut aufgenommen worden“

Die offene Grenze war in den vergangenen Monaten wegen der prekären Versorgungslage in Venezuela für viele Venezolaner*innen zur Lebensader geworden. Bis zu 50.000 Personen sollen sie täglich überquert haben. Diese Zeiten sind vorerst passé. Am 13. März verfügte die kolumbianische Regierung die Grenzschließung für zwei Monate. Was für Schmugglerbanden einen Glücksfall darstellt, ist eine Katastrophe für diejenigen, deren Familien oder Einkommensquellen sich beidseitig der Grenze befinden. Denn der länderübergreifende Verkehr ist nicht völlig zum Erliegen gekommen. Jenseits der offiziellen Übergänge existieren entlang des 2.200 Kilometer langen Grenzstreifens geschätzt rund 150 Schleichpfade, trochas genannt. Diese werden von kriminellen Banden und bewaffneten Gruppen kontrolliert. Neben Menschen wechseln auch geschmuggelte Waren die Seiten: günstiges Benzin von Venezuela nach Kolumbien im Gegenzug für allerlei Waren des täglichen Bedarfs.

Die Durchlässigkeit der Grenze hat es möglich gemacht, dass sich etwa die Hälfte der Venezolaner*innen ohne reguläre Aufenthaltsgenehmigung dort aufhalten. Auch wenn die Coronakrise den Aderlass Venezuelas aktuell ein wenig bremsen dürfte, stiegen die Zahlen derjenigen Venezolaner*innen, die das Land verließen, bis vor kurzem weiter stark an. Ende 2019 lag deren Zahl in Kolumbien bei 1,6 Millionen, 2016 waren es noch rund 50.000. Insgesamt sollen mindestens 4,5 Millionen Menschen Venezuela seit der Regierungsübernahme durch Nicolás Maduro 2013 verlassen haben.

Kolumbien ist bisher eher Auswanderungs- denn Einwanderungsland. Es verfügt entsprechend über wenig Unterstützungsangebote für Zuwander*innen. Nationale und internationale Hilfsorganisationen versorgen die Menschen lediglich mit dem Nötigsten. Dass es für Migrant*innen wenig Ressourcen und Angebote gibt, liegt auch daran, dass die kolumbianische Gesellschaft, mit über 6 Millionen internen Vertriebenen infolge des jahrzehntelangen bewaffneten Konflikts zwischen dem Militär und der FARC-Guerilla, bereits stark belastet ist. Daran hat das Friedensabkommen von 2016 bisher wenig geändert. Hinzu kommt die schwierige materielle Situation: Über ein Viertel der Bevölkerung in Kolumbien lebt in Armut und muss täglich zusehen, wie es über die Runden kommt.

Gegen den Hunger: Noch unterstützt die bogotanische Stadtverwaltung die Geflüchteten (Foto: Victor Sánchez)

Die öffentliche Infrastruktur mit sozialen Angeboten ist begrenzt. Angebote wie das des Centro Abrazar der Stadtverwaltung Bogotá sind selten. Hier können Eltern ihre Kinder tagsüber betreuen lassen, um sich in der Zeit um den Lebensunterhalt der Familie kümmern zu können. Auch wenn das Angebot allen Kindern offensteht, besuchen vor allem kleine Venezolaner*innen das Centro Abrazar. Víctor Sánchez ist einer der Pädagogen des Zentrums und kennt die Lage und die alltäglichen Herausforderungen der Migrant*innen gut. Für Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung sei es vor allem schwierig, Zugang zu Gesundheit und Bildung zu erlangen. Sofern es sich nicht um einen Notfall handele, würden diese Leute an den Türen der Arztpraxen und Krankenhäuser zurückgewiesen.

Dünn ist auch das Angebot an Verdienstmöglichkeiten. Laut Sánchez konkurrieren Migrant*innen und mittellose Kolumbianer*innen in prekären informellen Arbeitsverhältnissen direkt miteinander. So habe die Zahl fliegender Händler*innen in Bussen, Straßenverkäufer*innen und Müllsammler*innen spürbar zugenommen. Es finden sich vermehrt Venezolaner*innen in der Prostitution, dem Drogenhandel oder etwa auch in der Kokaernte wieder. „Ein nicht unerheblicher Teil der Einnahmen verbleibt nicht in der informellen Ökonomie des Landes, sondern wird als Unterstützungsleistung an Familie und Freunde in Venezuela gesandt.“ Migrant*innen würden ihre Arbeitskraft außerdem im Gast- und Baugewerbe oder in der Landwirtschaft verkaufen und dies in der Regel unter dem üblichen Lohnniveau der Einheimischen. Der gesetzliche Mindestlohn fände selten Beachtung. Eine Folge des vermehrten Zuzugs von Venezolaner*innen sei aber auch, dass sich die Mietpreise in den Städten verteuerten. Denn manche Kolumbianer*innen ziehen es vor, Wohnungen oder Zimmer als pagadiarios an Neuankömmlinge zu vermieten – oft zu unverhältnismäßigen Preisen. „All diese Entwicklungen bekommen auch die armen Kolumbianer*innen zu spüren“, sagt Sánchez.

Die eingeschränkte Freizügigkeit trifft die venezolanischen Migrant*innen hart

Die prekären Verhältnisse gehen in nicht wenigen Fällen auch zu Lasten der Kinder. Diesen bleiben Bildungs- und altersgemäße Entwicklungsmöglichkeiten versagt, etwa wenn sich Eltern veranlasst sehen, ihre Kinder in den täglichen Brotverdienst miteinzuspannen. Anstatt ihre Kinder das pädagogische Angebot im Centro Abrazar nutzen zu lassen, nehmen manche Eltern diese mit, um beim Straßenverkauf ihre Einnahmen zu steigern. „Ohne den ‚Mitleidsfaktor‘ verdienen sie um die 40.000 Pesos (etwa 9,22 Euro) am Tag, mit Kindern auf dem Arm können die Einnahmen auf rund 120.000 steigen“, behauptet Sánchez. Manche Eltern würden ihre Kinder gar gegen Geld an andere „vermieten“.

Die kolumbianische Bevölkerung ist gespalten in ihrer Bewertung der Situation: Solidarität und die Betonung der Einheit beider Länder kontrastieren mit Schuldzuweisungen und der Ablehnung der offenen Grenzpolitik. Meinungsumfragen zeigen, dass die anfänglich überwiegend solidarische Haltung zunehmend kippt. Xenophobe Äußerungen und sogar Gewalt gegen Venezolaner*innen sind immer öfter an der Tagesordnung. Die sozialen Schieflagen des Landes werden dabei zunehmend den Migrant*innen angekreidet. „Die Venezolaner*innen kommen hierher und nehmen uns Kolumbianer*innen die Jobs weg. Sie sind verwöhnt, weil sie in Venezuela fast alles umsonst bekamen. Sie verkaufen Drogen, die Frauen gehen auf den Strich. Manche Stadtteile sind inzwischen so gefährlich, dass niemand sich mehr hinein traut“, sagt ein puerta a puerta-Fahrer, ein Privatfahrer, der Passagiere bis zu einem vereinbarten Ziel befördert. Er drückt damit eine pauschalisierend-ablehnende Haltung aus, wie sie inzwischen immer öfter zu hören ist.

Trotz wachsender Spannungen äußern sich viele Venezolaner*innen jedoch weiterhin positiv über die Unterstützungsbereitschaft der Menschen in Kolumbien. Man ginge meist fair mit ihnen um und werde respektiert, hört man in Gesprächen oft heraus. Ob die Solidarität auch während der Coronakrise anhalten und diese überdauern wird, lässt sich kaum vorhersagen.

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