Berlinale Halbtotale
Lateinamerikanische Filme auf der Berlinale 2004
Einer der erfolgreichsten Filme war El abrazo partido. Daniel Burman erzählt von Ariels Suche nach seinem Vater, der sich kurz nach der Geburt seines Sohnes auf den Weg nach Israel gemacht hat. Ariel lebt im Herzen von Buenos Aires, verbringt seinen Alltag meist in einem Shoppingzentrum, wo seine Mutter einen Miederwarenladen hat. Er hält sich mühsam über Wasser und träumt von einer Reise nach Europa. Seine Großmutter wanderte wegen des Holocaust von Polen nach Argentinien aus. Ihr Mann verbot ihr das jiddische Liedgut. Verzaubert hört Ariel ihr beim Singen zu, als er sie um ihren polnischen Pass bittet, um seine Papiere für die Reise in Ordnung zu bringen. Burmans eilige, unstete Kamera fängt Ariels Alltag mit seiner Hektik und dem harten Kampf ums Überleben ein, vermittelt die innere und äußere Ruhelosigkeit des Protagonisten. Am Ende begegnet Ariel seinem Vater, weil dieser inzwischen nach Buenos Aires kam, um seinen Sohn kennen zu lernen. Für die Darstellung erhielten Daniel Hendler (Ariel) und Regisseur Daniel Burman jeweils einen Silbernen Bären.
Initiation
Maria, llena eres de gracia, ein Film über die Drogenkurierinnen Kolumbiens, zeigt die Geschichte der 17-jährigen Maria, die ihren Job unter menschenverachtenden Bedingungen in der Blumenfabrik hinschmeißt. In der Hoffnung auf das schnelle Geld würgt sie 62 weintraubengroße Kokainkugeln hinunter, um sie in ihrem Magen in die USA zu schmuggeln. Die US-amerikanische Grenzpolizei schöpft bei ihrer Einreise Verdacht, doch da sie schwanger ist und ihr Lügenmärchen perfekt erzählt, entgeht sie einer Festnahme. Als sie trotz großer Schwierigkeiten schließlich ihr Geld von den Drogendealern erhält, steht sie am Scheideweg: Soll sie für ihr Kind und sich selbst eine Zukunft in den USA aufbauen oder nach Kolumbien zurückkehren?
Regisseur Joshua Marston gelingt es, eindringlich und beklemmend die Geschichte von Maria und ihren Co-Kurierinnen auf die Leinwand zu bannen. Dafür erhielt er den Alfred-Bauer-Preis für den besten Erstlingsfilm und Catalina Sandino Moreno wurde sogar der Silberne Bär ex aequo für die beste Darstellerin verliehen.
Extermination
Im Panorama liefen zahlenmäßig die meisten Filme des neuen Kinos aus Lateinamerika. Angefangen bei dem mexikanischen Dokumentarfilm Digna, hasta el último aliento von Felipe Cazals (LN 356), dem der brasilianische Dokumentarfilm Fala-Tu von Guilherme Coelho (LN 356), sowie der knallharte Thriller Contra todos von Roberto Moreira folgten. Letzterer steht in der Tradition von Tata Amarals Um Céu de Estrelas (1995) und Fernando Meirelles Cidade de Deus (2002). Eine beklemmende Situation wird am Stadtrand von São Paulo inszeniert. Eine Familie ist im Gewebe der Drogen- und Waffenmafia gefangen. Lügen, Morde und Seitensprünge stehen auf der Tagesordnung. Rachefeldzüge haben zur Folge, dass schlußendlich fast alle in ihrem eigenen Blut tot am Boden liegen. Die Dynamik in Schnitt und Kameraführung zu Beginn dieses Films und die zunächst spannend inszenierte Geschichte verlieren in der zweiten Filmhälfte jedoch durch die fast zwanghafte Bedienung sämtlicher Muster und Spielarten sexueller und krimineller Gewalt spürbar an Substanz und Authentizität. Auch das Schicksal des dunkelhäutigen Freundes der Familie verkehrt sich seltsam: Ist er am Anfang des Films noch Freund der Familie, der sich weitgehend unparteiisch verhält, entspricht er am Ende den Vorurteilen, denen sich die schwarze Bevölkerung schon immer in den brasilianischen Medien ausgesetzt sah: er ist brutal, charakterlos und macht sich mit Diebesgeld aus dem Staub.
Generation
Dagegen überzeugt O outro lado da rua von Marcos Bernstein, ein Kleinkrimi, nicht zuletzt durch die ausgezeichnete Leistung des unschlagbaren Schauspieler-Duos Fernanda Montenegro, bekannt aus Central do Brasil, und Raul Cortez. Der Film spielt im Stadtviertel Copacabana, thematisiert nicht nur das Altern in der Metropole, sondern auch die Wohnverhältnisse, Bedürfnisse, Wünsche der zunehmend einsamen Menschen im dicht besiedelten Stadtteil. Regina (65) arbeitet als Informantin für die Polizei. Sie beobachtet, wie Richter Camargo seine Frau umbringt. Doch die Polizei kann diesen Ehrenmann nicht verhaften und verzichtet forthin auf Reginas Dienste. Regisseur Marcos Bernstein zeichnet in seinem Spielfilmdebüt das Leben der alten Menschen, die in den anonymen Hochhäusern mit ihren Lebenstraumata, ihrer Einsamkeit und ihren ungestillten Bedüfnissen leben, sehr subtil nach. Am Ende steht immer noch der Mord, allerdings kann er auf zweierlei Weise interpretiert werden. Die Panorama-Jury der Conféderation Internationale des Cinémas d’Art et Essai verlieh ihren Preis an diesen Film.
Die Forums-Jury vergab ihren Preis an den Film B-Happy von Gonzalo Justiniano (LN 356), der auch den Don Quixote-Preis der Féderation Internationale des Cineclubs erhielt. Im Forum lief zusätzlich der argentinische Dokumentarfilm El tren blanco von Nahual Garcia, Sheila Perez Gimenez und Ramiro Garcia (LN356).
Abbreviation
Zum Abschluss sei noch ein Blick auf die Kurzfilmreihe des Panorama geworfen, wo der 15-minütige Xaropes, Truques e outros artigos de confiança von Eduardo Goldstein lief. Die Handlung bewegt sich im Straßenverkäufer- und Schaustellermilieu Rio de Janeiros und thematisiert den harten Alltag, in dem Diebstahl, überteuerte Kleinkredite und unzuverlässige Geschäftspartner allgegenwärtiger Bestandteil sind.
Wieder einmal zeigte sich bei der diesjährigen Berlinale, dass RegisseurInnen aus Lateinamerika packende Geschichten vom Rande der Gesellschaft erzählen können. Vor allem, wenn sie trotz der offensichtlich trostlosen, inhumanen Lebenswelten den Blick nach vorn richten und die Hoffnung auf bessere Zeiten nicht aufgeben. Auf dem internationalen Festival haben sie sich in diesem Jahr einen guten Platz erobert, und dieser wird hoffentlich auch erhalten bleiben.