Nicaragua | Nummer 287 - Mai 1998

„Bitten wir Jesus Christus“

Generalstreik der ÄrztInnen im öffentlichen Gesundheitssektor

Kardinal Obando y Bravo, dessen Wort nicht unerheblich ist in den politischen Auseinandersetzungen Nicaraguas, bezieht Position: „Ich sehe, das Problem ist nicht ganz so einfach, denn das Gehalt, das die Ärzte verdienen, ist sehr gering“. Zwar findet die Hauptforderung der nunmehr seit über zwei Monaten streikenden ÄrztInnen nach einer handfesten Erhöhung der Löhne seinen Segen – und das heißt schon einiges für die wohlbeleibte Eminenz. Doch läßt das katholische Oberhaupt an seiner eigentlichen Besorgnis keinen Zweifel: Jeglicher Streik verliere seine moralische Legitimität, sobald er gewalttätige Formen annimmt, und es bestünde die Gefahr der Ausweitung der Auseinandersetzung auf andere gesellschaftliche Sektoren

Andreas van Baaijen

Die Mobilisierung der ÄrztInnenschaft für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen war schon lange überfällig. Seit der Regierungsübernahme durch Violeta Chamorro 1990 liegt die öffentliche Gesundheitsversorgung praktisch brach. Wie in der Mehrzahl vergleichbarer Länder existiert in Nicaragua neben einem staatlichen, arbeitgeber-finanzierten Versicherungssystems (INSS), dem in Nicaragua allerdings keine 20 Prozent der Bevölkerung angehören, ein öffentliches und weitaus kostenfreies Versorgungssystem, das SILAIS (Sistema Local de Atención Integral en Salud). Im neoliberalen Projekt Arnoldo Alemans sind Privatisierung und Rückzug des Staates einzige Option. So nimmt es nicht wunder, daß die Regierung angesichts der Lahmlegung des Gesundheitssystems nun entsprechende „Lösungsvorschläge“ unterbreitet: 1. Reduzierung der Arbeitszeit von 8 auf 3 Stunden unter Beibehaltung des Lohnniveaus. Die MedizinerInnen müßten sich andere Einkommensquellen suchen und die Sprechstundenzeiten des öffentlichen Systems würden auf einen kärglichen Rest geschrumpft. Beides würde die Etablierung eines parallelen privaten Versorgungssystems begünstigen, zu dem allerdings die Mehrheit der Bevölkerung keinen Zutritt mehr hätte. 2. Entlassung von einem Drittel der KollegInnen und eine Lohnerhöhung von 15 Prozent. 3. Übergabe ganzer Hospitäler an die Ärzteschaft, auf daß diese die Kliniken gleich privater Einrichtungen betreiben und sich derart den Lohn erhöhen mögen.
Die „Vorschläge“ der Regierung werden vom Movimiento Pro Salario als indiskutabel abgelehnt und als der Versuch entlarvt, sich der ÄrztInnen bei der Privatisierung des Versorgungssystems zu bedienen. „Bieten Sie uns nicht Hospitäler an, um Dienste zu verkaufen. Wir sind keine Händler der Medizin und unsere Dienste richten sich an diejenigen unseres Volkes, die nichts besitzen. Das ist die große Mehrheit der Nicaraguaner, und diese hätten keinen Zugang zu solchen Hospitälern“, stellt die Organisation in einer großformatigen Zeitungsannonce fest.

Spritzenstreik

„Dieser Streik kann leicht das Ende der Regierung Aleman bedeuten“, so der deutsche Facharzt Dr. Stahl, einst im Rahmen sozialistischer Bruderhilfe nach Nicaragua gegangen und seither im Hospital von Rivas beschäftigt. Zu groß ist der soziale und ökonomische Druck in den verschiedensten Schichten der Gesellschaft geworden, zu offensichtlich die stete Verschlechterung der Lebensbedingungen der großen Mehrheit des Volkes.
Die Arbeitssituation der ÄrztInnen ist miserabel. „Der Stundenlohn eines Allgemeinmediziners im Krankenhaus“, so der Leiter der Notaufnahme des Hospital von Rivas, Dr. Wilfredo Aguilar, „beträgt 2,37 Cordoba (1 US-Dollar entspricht z.Zt. etwa 10,2 Cordoba). Ein Liter Milch kostet 12 Cordoba, ein Kilo Reis 8 , ein Liter Öl 20. Für ein Brot muß ich 1 Stunde arbeiten. Wie sollen wir damit eine Familie ernähren?“ Der Kinderarzt ist Sprecher der Streikbewegung „Movimiento Medico Pro Salario“ in Rivas und hält gemeinsam mit drei weiteren KollegInnen den Kontakt mit Managua. „Ein Arzt im Krankenhaus hat ein Grundgehalt von 561 Cordoba, alle Sonderleistungen und Schichtvergütungen eingerechnet kommt er auf 1200, mit Glück auf maximal 1500.“ Die SpezialistInnen sind kaum besser gestellt: „Mein Grundgehalt als Facharzt beträgt 690 Cordoba. Ich kenne keinen Kollegen, der jemals 200 US-Dollar im Monat verdient hätte.“ Die Situation in den Gesundheitszentren, wo die Mehrheit der ÄrztInnen Nicaraguas arbeitet, ist weitaus schlimmer. „Da hast du keine Schichten und bekommst keine Sondervergütungen. 1000 Cordoba wenn’s hoch kommt, mehr kriegst du nicht raus.“ Dr. Martha Julia Chamorro, Ärztin im Gesundheitszentrum von Tola, beschreibt ihre Lohnsituation: „Auf meiner letzten Lohnabrechnung wurden mir 910 Cordoba vergütet. Die Fahrt nach Tola kostet mich täglich 9 Cordoba, das sind 180 Cordoba monatlich, d.h. ich gebe knapp 20 Prozent meines Lohnes für Fahrtkosten zum Arbeitsplatz aus. Dabei habe ich ja noch Glück, denn ich habe keine Familie zu ernähren. Aber unser Problem als Mediziner liegt doch viel tiefer. Wir haben eine große Verantwortung. Stets fehlt es an Material und Geräten und Medikamenten. Aber der Umgang mit Mangel bedeutet, Zeit investieren zu müssen. Wir alle investieren mehr als wir abgerechnet bekommen. Kürzlich bekamen wir vom Gesundheitsministerium die Anweisung, stündlich mindestens 6 Patienten zu bedienen. Als Ärzte müssen wir uns stetig weiterbilden, mit Kollegen diskutieren, Fachliteratur lesen, unsere Arbeit reflektieren, uns politisch artikulieren. All dies kostet Geld und Zeit.“

1000 Prozent Lohnerhöhung…

Angesichts dieser Bedingungen und der Tatsache, daß die Löhne seit acht Jahren praktisch nicht mehr angehoben wurden, ist die Forderung von Pro Salario nach einer Erhöhung von 1000 Prozent durchaus realistisch. Dr. Aguilar: „Das gibt es in keinem anderen Land Lateinamerikas. In Haiti, dem ärmsten Land unseres Kontinents, verdient ein Arzt mehr als 1000 Dollar. Das sehen selbst unsere Politiker ein.“

…durchaus angebracht

Der Arbeitskampf war zunächst wenig kämpferisch und politisch schlecht vorbereitet, was dem Gesundheitsministerium (MinSa) Zeit und Raum gab, Ausweichmöglichkeiten zu suchen und so anfänglich dem Streik den Druck zu nehmen. Dann aber weitete sich dieser rasch von den FachärztInnen auf die gesamte ÄrztInnenschaft aus, bis dann nach zwei Wochen der totale Streik, das heißt auch in den Notaufnahmen der 33 öffentlichen Hospitäler Nicaraguas, ausgerufen wurde. Das Arbeitsministerium erklärt den Streik bis heute für illegal und inexistent. Die Gehälter für Februar wurden nicht ausgezahlt. Ausländische KollegInnen wurden zur Migrationsbehörde in Managua bestellt, und der Großteil der in den Krankenhäusern beschäftigten SpezialistInnen und AllgemeinärztInnen schlichtweg entlassen.
Am 26. Februar beschloß die Medizinische Fakultät der UNAN-Managua, ihre im letzten Ausbildungsjahr stehenden StudentInnen aus den Hospitälern abzuziehen, da sie dort, als noch nicht Graduierte, ohne ihre TutorInnen keine eigenverantwortlichen Tätigkeiten ausüben dürfen. Die Vereinbarungen mit den Universitäten über Garantie und Anerkennung des Ausbildungsjahres für Studenten und Studentinnen der Medizin (internos) und weiterführender Fachgebiete (residentes), die eine kleine Vergütung von wenigen hundert Cordoba mit einschlossen, wurden daraufhin kurzerhand von Minister Lombardo Martinez gekündigt. Das MinSa hatte gehofft, die Studierenden als Ersatz für die Streikenden in den Einrichtungen einsetzen zu können, was allerdings am Veto der Fakultät und der Weigerung der Studierenden selbst scheiterte. Letzteren bleibt durch die Aufkündigung der Verträge und der staatlichen Anerkennung bereits geleisteter Famulaturen die Möglichkeit der Weiterführung bzw. des Abschlusses des Studiums bis auf weiteres verbaut. „Mit der Aufkündigung der Vereinbarungen“, so Dr. Carolina Moreira, Interna im Hospital Bertha Calderon in Managua, „werden wir unsere Studienjahre verlieren.“

Konsolidierung der Streikbewegung

Die Mehrzahl der rund 3000 ÄrztInnen beteiligt sich aktiv an den Aktionen. Für die Härtefälle hat man eine Streikkasse eingerichtet, die Entlassungsschreiben wurden auf einer nationalen Demonstration vor laufenden Fernsehkameras verbrannt.
Man erscheint täglich am Arbeitsort, verjagt vom Ministerium angeheuerte StreikbrecherInnen, tauscht die neuesten Nachrichten aus und bereitet lokale Aktionen vor.
Der Streik hat gute Presse und findet Verständnis in der Bevölkerung. Einziger Schwachpunkt ist das relativ bescheidene Niveau politischen Argumentierens. „Für einen gerechten und würdigen Lohn“ – damit und dem Hinweis auf die hohen Löhne der Minister und des Chefs der Staatsbank hat sich schon beinahe das Argumentationsrepertoire von Pro Salario erschöpft.

Movimiento Medico Pro Salario

Dem Vorwurf der Regierungsseite, der Bevölkerung gegenüber verantwortungslos und dem Berufsethos entgegen zu handeln – schließlich Schuld am Tod von Patienten zu haben – wird nur rechtfertigend, nicht aber theoretisierend etwas entgegengesetzt. Die Möglichkeit einer Debatte über Rolle und Verantwortlichkeiten des Staates oder über Konzepte von Krankheit/Gesundheit und Prävention wurde bisher nicht genutzt.
Gesundheitsminister Martinez wird nicht müde zu wiederholen, daß durch die hilfsweise angekauften Dienste privater, kommerzieller Anbieter (Empresas Medicas Previsionales), die zum Teil schon für das INSS unter Vertrag stehen und durch die Mobilisierung des Verwaltungspersonals des SILAIS (ÄrztInnen zwar, aber ohne Berufserfahrung) die Grundversorgung der Bevölkerung gewährleistet sei. Darüber hinaus erklärt er sich schlicht für inkompetent, den finanziellen Forderungen der ÄrztInnen nachzugeben. „Das fällt nicht in mein Ressort“, gibt er lakonisch zu wissen. Stirbt dann doch jemand, vermeindlich aufgrund mangelnder ärztlicher Versorgung, werden die Streikenden verantwortlich gemacht. Die konservative Presse gibt dazu Feuerschutz und meldet die aktuellen Todeszahlen. Die Regierung gibt zur Zeit täglich 100.000 Cordoba (10.000 US-Dollar) aus, um in Fernsehspots und Zeitungsanzeigen die Streikenden als gierige und unverantwortliche Schwindler und Antidemokraten darzustellen.
Die ÄrztInnenschaft Nicaraguas verfügte noch nie über ein Gremium, das als Standesvertretung gelten könnte. Bis 1990 war Fetsalud die einzige und umfassende Gewerkschaft der im Gesundheitsbereich Beschäftigten, unabhängig ihres Berufes und spezifischer Tätigkeiten. Die Formierung des Movimiento muß, neben des Zieles der Lohnerhöhung, als ein Versuch gesehen werden, ein eben solches spezifisches Gremium zu gründen, das, unabhängig von der politischen Überzeugung des/der einzelnen Arztes/Ärztin, eine übergreifende Interessensvertretung leisten soll. „Unser eigentliches Ziel ist die Gründung eines Colegio Medico“, so Dr. Aguilar. „In Nicaragua stellt die Gründung einer Gewerkschaft rein rechtlich kein Problem dar, deshalb haben wir diesen Weg gewählt. Aber das Ziel ist die Gründung eines Colegio Medico, wie es in den meisten Ländern in der ein oder anderen Form existiert, und das sich mit gesellschaftlichem Auftrag um berufsspezifische Belange wie Ausbildung, Fort- und Weiterbildung, akademischen Austausch, Arbeitsbedingungen etc. kümmert.“
Vor diesem Hintergrund läßt sich verstehen, warum nicht von Beginn des Streikes an das gesamte Personal des Gesundheitsbereiches mit eingeschlossen wurde – ein Fehler wie Dr. Stahl meint: „Die politische Linie der Regierung und ihr Defätismus wurden einfach unterschätzt. Die liberalen Ärzte hatten zu Beginn ja noch an den guten Willen der Regierung geglaubt. Man hätte von Anfang an richtig Druck machen müssen, gemeinsam mit allen, die in den Hospitälern und Gesundheitszentren arbeiten.“ Ende vergangenen Jahres hatten sich in den Hospitälern comisiones profesionales rund um die FachärztInnenschaft gebildet, die dann im Dezember das Movimiento Medico Pro Salario gründeten.
Der Ausstieg aus der sandinistischen Gewerkschaft Fetsalud war damit besiegelt.“Unsere Organisierung richtet sich selbstverständlich nicht gegen unsere Kolleginnen und Kollegen mit denen wir zusammenarbeiten, also Krankenschwestern, technisches Personal, etc. Wir Ärzte haben spezifische Probleme und Aufgaben, und die gilt es im politischen Rahmen zu organisieren und zu vertreten“, so Dr. Aguilar. „Als eine dieser Aufgaben sehen wir, die Privatisierung des Gesundheitswesens zu verhindern.“

Keine Lösung in Sicht

„Das kann sich noch lang hinziehen“, meint Dr. Stahl, „aber die Wogen sind doch schon zu hoch, als daß der Streik am Ende nicht doch erfolgreich sein wird.“ Auch er wurde nun vor etwa zwei Wochen offiziell entlassen, sieht den Dingen aber zuversichtlich entgegen. „Einen solchen Streik kann sich die Regierung auch international nicht leisten.“ Vor etwa einer Woche lud der US-Botschafter den Vertreter von Pro Salario, Dr. Elio Artola, zu sich in die Residenz ein, um sich über die Situation des Gesundheitssystems und der darin Beschäftigten zu informieren.
Diese Geste dürfte der Regierung wenig gefallen haben, und wurde von verschiedenen Vertretern als Einmischung in innere Angelegenheiten abgelehnt. Die wiederholte Selbstcharakterisierung des Movimiento Pro Salario als unpolitisch und unabhängig dürfte in einer Situation, in der alles was sich regt und nach Sandinismus riecht, diffamiert und blockiert wird, seine Früchte tragen.
Verschiedene soziale und gewerkschaftliche Organisationen des Landes integrieren sich in den Arbeitskampf, aktiv oder zumindest aklamatorisch. Der politische Widerstand gegen die Bemühungen der Regierung, den Streik zur Privatisierung des Gesundheitssystems auszunutzen, dürfte groß genug sein.
Damit würde am Ende nicht bloß ein finanzieller Sieg für die ÄrztInnen davongetragen werden können, sondern eine Reorganisierung und Stärkung des öffentlichen Gesundheitssektors möglich sein.


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