Nummer 339/340 - Sept./Okt. 2002 | Peru

Blumenregen und Blockaden

Der Realitätsverlust der peruanischen Regierung

Ein Jahr nach seiner Amtsübernahme ist der peruanische Präsident Alejandro Toledo auf dem Tiefpunkt seiner Popularität angelangt. Das Land wird von Streiks und heftigen Protesten erschüttert. Doch der Präsident tut so, als störte ihn das nicht. Er hält seine Arbeit für erfolgreich und lässt sich feiern.

Rolf Schröder

Der zuständige Nachtwächter in Limas Randbezirk Ventanilla war auf der Hut. Er schlug umgehend Alarm, als mehrere Gestalten in einer feuchtkalten Augustnacht versuchten, Blumen und Pflanzen in einem öffentlichen Park auszugraben. Ausgerechnet jene Pflanzen, die den AnwohnerInnen kurz zuvor von einem Vertreter der Regierungspartei Perú Posible geschenkt worden waren – als Dank für deren Engagement zu Gunsten des Präsidenten Toledo im vergangenen Wahlkampf.
Die Überraschung war groß, als der Anführer der Diebesbande genau als jener Funktionär identifiziert wurde, der die Pflanzen im Auftrag von Perú Posible überreicht hatte. Das Tatmotiv: Eliane Karp, die First Lady, sollte nach der Rückkehr von einer Chile-Reise am Flughafen von jubelnden AnhängerInnen mit Blumen empfangen werden. Danach, so versicherten die ertappten Täter, hätten sie die Pflanzen selbstverständlich wieder zurückgebracht.
Präsident Toledo schätzt Jubelfeiern für seine Frau. Am liebsten lässt er allerdings sich selbst in Szene setzen. Noch im Wahlkampf glaubte er, der mächtige Inkaherrscher Pachacutic zu sein, dessen Reich ein Gebiet von Kolumbien bis Chile umfasste. Die Partei Perú Posible ließ damals Plakate drucken, auf denen ein muskelbepackter Inkaführer mit den Gesichtszügen Toledos zu sehen war. Angeheuerte Soufleure riefen bei Wahlkampfauftritten Toledos den Namen des Inkaherrschers, und erst nachdem die Volksmassen einstimmten, pflegte der Kandidat die Bühne zu betreten.

Soufleure und Claqueure

In diesem Jahr ließ sich Toledo am 28. Juli feiern, dem peruanischen Unabhängigkeitstag, an dem der Präsident traditionell eine Rede an die Nation hält und eine Militärparade abnimmt. Da standen Kinder Spalier und ließen rot-weiße Blüten – in den Nationalfarben – auf die Präsidentenkarosse regnen, als Toledo vom Regierungspalast zum Kongress fuhr. PassantInnen säumten die Straßen und spendeten Beifall. Seine Ansprache im Kongress wurde immer wieder von Hochrufen aus der Zuschauerloge unterbrochen, denn er sparte nicht mit Eigenlob.
Zum Beispiel der erfolgreich angelaufene Demokratisierungsprozess: In keinem anderem lateinamerikanischen Land wurden nach dem Ende einer Diktatur so viele hochrangige Militärs, Richter oder Politiker verhaftet und vor Gericht gestellt wie in Peru. Auch die wirtschaftliche Entwicklung kann sich sehen lassen: Als einziges lateinamerikanisches Land rechnet Peru in diesem Jahr mit einem wachsenden Sozialprodukt. Und nach der Zustimmung des US-Kongresses zum Freihandelsabkommen APTA – inzwischen umgetauft in APTDEA (Sistema de Preferencias Arancelarias Andinas Ampliado) – zwischen den USA und den Andenstaaten stellt Toledo eine Million neuer Arbeitsplätze sowie eine Verdreifachung der Exporte in Aussicht.
Das alles klingt nicht schlecht. Die Fernsehbilder von den diesjährigen Unabhängigkeitsfeierlichkeiten und die vor Optimismus strotzenden Präsidentenworte haben indes mit der politischen Realität im Lande nichts zu tun. Das Zentrum der Hauptstadt Lima wurde an diesem Tag rund um den Präsidentenpalast und den Kongress von 16.000 PolizistInnen abgeriegelt, die nur Parteigänger des Präsidenten vorließen. Die Logen des Kongresses wurden mit Claqueuren besetzt.
Was die Mehrheit der Bevölkerung wirklich von ihrem Präsidenten hält, das zeigte sich in den Wochen vor dem 28. Juli auf den Straßen: Bei den tagelangen Protesten gegen die neoliberale Regierungspolitik wurden Ende Juni in Arequipa zwei Menschen getötet. Der Druck der DemonstrantInnen zwang den Präsidenten, den angekündigten Verkauf öffentlicher Stromunternehmen an ein belgisches Konsortium vorerst aufzuschieben. Im nördlichen Talara blockierten Arbeiter aus Protest gegen die Restprivatisierung der staatlichen Ölgesellschaft Petroperú tagelang die wichtigste Verkehrsader des Landes, die Panamericana.
Fast alle Proteste haben die gleiche Wurzel: Toledo hatte im Wahlkampf verkündet, keine öffentlichen Betriebe mehr ohne Konsultation der örtlichen Bevölkerung privatisieren zu wollen. Er sicherte den Bau neuer Straßen in vielen Provinzen zu. Und er versprach ehemaligen staatlichen ArbeiterInnen und Angestellten, die vom Fujimori-Regime unrechtmäßig entlassen wurden, eine Wiedereinstellung. Es blieb weitgehend bei leeren Versprechungen.

„Toledo, privatisiere deine Frau!“

Einige seiner Ankündigungen grenzten sogar an Größenwahn: Die wirtschaftliche Entwicklung sollte unter seiner Regie einen Verlauf nehmen wie in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg. Innerhalb eines Jahres wollte der Wundermann die Arbeitslosigkeit halbieren, im Laufe seiner fünfjährigen Amtszeit die Gehälter der LehrerInnen und PolizistInnen verdoppeln. Doch die einzigen Saläre, die Toledo während seiner Amtszeit kräftig erhöht hat, sind sein eigenes und die seiner Minister. In einem Land, in dem ein Großteil der Bevölkerung nicht mehr als den Mindestlohn von 60 US-Dollar mit nach Hause bringt, leistet sich der Präsident 18.000 US-Dollar. Insofern wundert es nicht, dass mittlerweile nur noch 18 Prozent der Bevölkerung Toledos Regierungspolitik unterstützen.
Toledos Demokratisierungsbemühungen sind unbestritten. Das machen schon die vielen Protestaktionen gegen die Regierung deutlich. Während des Fujimori-Regimes hatten viele Menschen keinen Mut, auf die Straße zu gehen. Sie wären Gefahr gelaufen, als „Terroristen“ angeklagt und zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt zu werden. Auch die Armee ist von Kollaborateuren der untergegangenen Diktatur weitgehend gesäubert worden. Dennoch ist der Präsident an einer wirklichen Aufarbeitung der Vergangenheit nicht interessiert.
Als er am Unabhängigkeitstag die Militärparade abnahm, marschierte an deren Spitze eine Spezialeinheit: martialisch aussehende Männer in Kampfanzügen und mit schwarz bemalten Gesichtern, die ihre Schnellfeuergewehre stolz in die Luft reckten. Dieses Kommando wurde im April 1997 unter dem Namen Chavín de Huantar in der ganzen Welt bekannt. Es stürmte damals die Residenz des japanischen Botschafters in Lima, in der ein Guerilla-Kommando der MRTA Geiseln gefangen hielt. Mehrere MRTA-Kämpfer wurden dabei nachweislich ermordet.
Aus der Justiz wurden zwar viele korrupte HelfershelferInnen des Fujimori-Regimes entfernt und sogar angeklagt, doch eine ganze Reihe von ihnen hält nach wie vor die Stellung. Ein Beispiel: In der letzten Augustwoche entschied ein peruanisches Gericht, dass die Morde in der japanischen Botschaftsresidenz vor einem Militärtribunal verhandelt werden sollen. Das bedeutet aller Voraussicht nach: Die Täter werden entweder nicht ermittelt oder nur zu geringen Freiheitsstrafen verurteilt. Die Regierung mischt sich da nicht ein. Die Justiz sei unabhängig, argumentiert sie. Ein weiterer Skandal: Die First Lady Eliane Karp unterhielt selbst enge Verbindungen zu KollaborateurInnen des Fujimori-Regimes. Sie hatte einen monatlich mit 14.000 US-Dollar dotierten Beratervertrag mit der Wiese-Bank abgeschlossen. Zu einer Zeit, als diese Bank noch die millionenschweren Konten illegaler Gelder von Fujimoris Geheimdienstchef Vladimiro Montesinos führte. Die neueste Forderung bei den unzähligen Protestaktionen gegen die Regierung lautet daher: „Toledo, privatisiere deine Frau!“

Mit Freihandel gegen den Terrorismus

Immerhin hat Toledo verstanden, dass die Zeiten neoliberaler Wirtschaftspolitik in Lateinamerika zu Ende gehen. Kurz vor dem 28. Juli stellte er ein neues Kabinett vor, in dem unter anderem der als neoliberal geltende Wirtschaftsminister Pedro Paul Kuczinski gegen Javier Silva Ruete ausgetauscht wurde, einem Mann, der auch einen nachfrageorientierten Kurs stützt. Ob das allerdings reicht, um den Protesten gegen die Regierung das Wasser abzugraben, ist mehr als zweifelhaft.
Denn das Wirtschaftswachstum in Peru ist zwar real, doch es hat seine Ursache hauptsächlich im überdurchschnittlichen Boom der Minenbranche. Wer nicht das Glück hat, bei einer der großen Gold- oder Silberminen im Land angestellt zu sein oder gar deren Aktien zu besitzen, an dem geht dieses Wachstum unbemerkt vorbei. Außerdem sind sich fast alle WirtschaftsexpertInnen darüber einig, dass die Zustimmung der USA zum Freihandelspakt APTDEA nur einen relativ geringen Beschäftigungsschub in der peruanischen Textilindustrie und deren Zulieferbetrieben bringen wird. Dafür muss das Land die USA im Kampf gegen den Terrorismus unterstützen, seine Zertifikation bei der Drogenbekämpfung erhalten sowie Transparenz und freie Konkurrenz beim Verkauf öffentlicher Betriebe garantieren. Letzteres bedeutet, dass der peruanische Staat nationale Unternehmen nicht länger bevorzugen darf.
Der Regierungspolitik fehlt eine klare Linie. Weder äußert sich der Präsident über seine künftige Privatisierungspolitik, noch sagt er, wie er das Loch im Staatshaushalt stopfen will. An große Unternehmen wie die spanische Telefónica, transnationale Minenkonsortien oder die Energiebetriebe, die auf Grund zweifelhafter Gesetze und von Verträgen aus der Zeit des Fujimori-Regimes kaum Steuern zahlen, traut er sich nicht heran.
Damit nicht genug. Weil Toledo endlich einmal ein Wahlversprechen halten will, halst er sich ein neues Problem auf: Im November soll die Bevölkerung erstmals neu einzusetzende Regionalpräsidenten wählen können. Ihre Kompetenzen und ihr Etat sind bis heute völlig unklar. Fest steht nur eines: Toledos Partei wird es bei diesen Wahlen schwer haben. Die Mehrheit der Regionalpräsidenten wird der Zentralregierung künftig das Leben schwer machen.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren