Guatemala | Nummer 199 - Januar 1991

“Das einzige was wir wissen, ist, daß sie uns töten wollen”

Margarita Kénetic, CERIGUA

Das Massaker von Santiago Atitlán

Fragt mich jetzt nicht nach Liebe, Brot oder Rosen
hier, wo es ein Verbrechen ist, zu denken, zu
träumen
und zu sagen, was Du fühlst,
hier wo die Hoffnung jeden Tag getötet wird.
Das Unsagbare, das Brutale, das Unzulässige
passiert
in meinem gepeinigten Land: Gewehrschüsse hallen
wider,
Kugeln im Herzen, im Kopf!
Flüsse von Blut fliessen die Strassen hinunter,
ungehemmt ins Martyrium.
Opfer, KomplizInnen, ZeugInnen. Fragt nicht
nach Menschenrechten, Gerechtigkeit,
Frieden
(sie werden ständig verletzt, sie werden ignoriert)
Hier reicht es, den kalten,
kalten Stoß in unseren Eingeweiden zu fühlen,
oder in einem Wald fieberhafter Träume zu verbrennen,
um die Ausrottung der Menschen zu verstehen.
Also fragt mich jetzt nicht nach Liebe, Brot oder
Rosen,
während die Feuer der Barbaren uns umgeben
und das Töten.
Fragt mich nicht nach dem Leben,
fragt mich nicht nach dem Tod
und erhebt die zornigen Fäuste
und den Haß der Völker.

Ein Gedicht von der guatemaltekischen Revolutionärin Guadalupe Navas als Einleitung. Wie sonst anfangen, wie über die Morde berichten, die die guatemaltekischen Militärs in der Stadt Santiago Atitlán am 2. Dezember began­gen haben? Die Landkarte der Massaker in Guatemala wird schwärzer. Hinter diesen Punkten auf der Landkarte verbergen sich unzählige Morde und das Leid der Angehörigen, FreundInnen, NachbarInnen. Jeder Mord und jedes Massaker sind einzigartig. Doch in Guatemala haben sie System, und das System versucht, sich mit ihrer Hilfe aufrechtzuerhalten. Wirklich einzigartig sind die Reaktionen auf dieses neue Massaker, im Ausland, in Guatemala und vor allem in Santiago Atitlán. Die BewohnerInnen der Stadt haben extrem mutig reagiert. Sie haben öffentlich protestiert, Widerstand organisiert und sich damit unweigerlich in Lebensgefahr gebracht.
Schon ihre erste Reaktion war erstaunlich. Woher nahmen ungefähr 3000 unbe­waffnete Alte und Kinder, Männer und Frauen den Mut, in der Nacht vom 1. auf den 2. Dezember vor die Militärkaserne zu ziehen? Sie wollten dagegen pro­testieren, daß die Militärs am Abend in der Stadt einen Laden ausgeraubt hatten und den Besitzer, Andrés Ajuchán, entführen wollten. Als dieser sich wehrte, be­gannen die Soldaten zu schießen und verwundeten ein Kind. Darauf läuteten Familienangehörige und NachbarInnen von Andrés Ajuchán die Kirchenglocken und versammelten die EinwohnerInnen, die dann vor den Militärstützpunkt zo­gen. Die Soldaten eröffneten sofort das Feuer. Neun Männer und zwei Jungen waren auf der Stelle tot. Von den ungefähr 20 Verletzten sind bisher vier gestor­ben. Der Rat für ethnische Gemeinschaften “Runujel Junam” (CERJ) berichtete außerdem von neun Personen, die seit dem Massaker verschwunden sind. Nach dem Massaker setzten die EinwohnerInnen ihre Unterschriften oder Fingerab­drücke unter die an die Regierung gerichtete Forderung, den Militärstützpunkt aufzulösen. Bis zum 4. Dezember waren es 15.000.

“Wir können zu Fuß hierherkommen…”

In seinem Bericht über das Massaker schlägt der Menschenrechtsbeauftragte der Regierung einen von ihm bisher noch nicht vernommenen Ton an. Er nennt nicht nur drei Offiziere als direkt Verantwortliche, sondern klagt das Militär als ge­samte Institution für die Menschenrechtsverletzungen an. Der am 11. November neu gewählte Bürgermeister erklärte, er werde sein Amt nicht antreten, wenn das Militär nicht abzieht. Drei Tage später sagten einige Atiteken, die vor den Natio­nalpalast in Guatemala-Stadt gezogen waren: “Wir unterstützen unseren neuen Bürgermeister. Er hat Recht, denn wer das Volk regiert, sind die Militärs. Wenn die Regierenden die Militärs nicht aus Santiago Atitlán abziehen, zwingen sie unsere ganze Stadt, zu protestieren, alle 45.000 EinwohnerInnen… Wir können zu Fuß hierherkommen.”
Für die CERJ ist das Massaker einmal mehr ein Zeichen dafür, daß die Regierung gescheitert ist und die formal demokratischen Institutionen nur dekorativ sind.
Am 6.Dezember erschien eine Erklärung der Organisationen, die am “Internationalen Seminar der Indio-Völker über den fünfhundertsten Jahrestag der Entdeckung Amerikas” teilnahmen. “Diese Vorfälle bestätigen wieder einmal …die geringschätzige Haltung gegenüber dem Leben der Indios und der armen Ladinos” heißt es darin.
An der Beerdigung am 3. Dezember nahmen Tausende von Trauernden und über 50 JournalistInnen teil. Bevor die Särge in die Gräber hinabgelassen wurden, hoben die Sargträger sie dreimal über ihre Köpfe – ein Zeichen des Protestes. Die JournalistInnen berichteten, daß die EinwohnerInnen sich an sie wandten, um ihnen von früheren, nicht bekannten Massakern zu berichten. Außerdem baten sie sie weinend, dafür zu sorgen, daß das Militär keine Hilfe aus dem Ausland mehr bekommt. Daß sich die Indígenas von sich aus an die Fremden wenden, ist völlig ungewöhnlich. Am 4. Dezember verurteilte das Nationale Parlament zum ersten Mal in der Geschichte einstimmig ein Massaker und forderte den Abzug des Militärs aus Santiago Atitlán.
Diesmal finden die Militärs für ihre Version keine Unterstützung. Innenminister General Morales und Verteidigungsminister General Bolaños erklärten, die Ein­wohnerInnen hätten versucht, die Kaserne einzunehmen. Die Soldaten hätten sich nur verteidigt. In anderen Fällen haben sie die Guerilla für vom Militär be­gangene Massaker verantwortlich gemacht. Erst in der letzten Novemberwoche hat der Heeressprecher einen angeblichen Bericht der Interamerikanischen Menschenrechtskommission der OEA (Organisation amerikanischer Staaten) be­kanntgegeben, wonach die Guerilla das Massaker im November 1988 im Dorf El Aguacate begangen habe. Ein plumpes Manöver der Militärs: Das Dementi der OEA ließ nicht lange auf sich warten.

Polizeihilfe der Bundesregierung endlich eingestellt

Die internationale Kritik an dem Massaker von Santiago Atitlán war einhellig. In San Francisco und Washington gab es Protestdemonstrationen vor den guatemaltekischen Botschaften. Schon am 5.Dezember empfing Außenminister Ariel Rivera die Botschafter der Europäischen Gemeinschaft, die ihm ihre “tiefe Besorgnis” über die Vorfälle mitteilten. Seitdem geben sich die ausländischen Botschafter bei ihm die Klinke in die Hand. Rivera erklärte, das Massaker werde Konsequenzen auf internationaler Ebene nach sich ziehen, besonders in der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, die im Februar ihren jähr­lichen Bericht vorlegen wird. Die Bundesregierung hat am 3. Dezember die Poli­zeihilfe an Guatemala eingestellt, nachdem noch am 24. Oktober der SPD-Antrag gegen den der GRÜNEN angenommen worden war, die ausstehenden drei Millionen Polizeihilfe doch noch auszuzahlen.
Das internationale Echo auf das Massaker von Santiago Atitlán führt inzwischen auch bei Regierung und Militärs zu hektischen Reaktionen. Am 6.Dezember übergab Ministerin Sara Mishaan den aus dem Amt scheidenden und den neu gewählten lokalen Ratsherren ein Schreiben des Noch-Präsidenten Vinicio Cerezo. Darin verspricht er, den Militärstützpunkt so schnell wie möglich ab­bauen zu lassen. “Ich habe Anweisungen gegeben, die nötigen Maßnahmen in die Wege zu leiten, um den Stützpunkt in ein Gebiet außerhalb der Gerichtsbarkeit von Santiago Atitlán zu verlegen. Damit wird der Wunsch der Bevölkerung ak­zeptiert. Es kann erwartet werden, daß dies in ungefähr zwei Wochen geschieht.” Die Neuigkeit wurde in Santiago Atitlán mit Jubel aufgenommen. Schon am 4.Dezember war Heeressprecher Carlos Durán gefeuert worden, für ihn offenbar völlig überraschend. General Bolaños übt sich währenddessen in Schadensbe­grenzung: ebenfalls am 6.Dezember erklärte er, gegen zwei Offiziere würden wegen des Massakers Gerichtsverfahren eingeleitet. Ein Bauernopfer soll die selbsternannten Könige retten.

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