Brasilien | Nummer 231/232 - Sept./Okt. 1993

Das Morden geht weiter

Brasilien macht in den letzten Wochen durch Massaker Schlagzeilen. Zuerst wurden mitten im Zentrum Rios, vor der traditionsreichen Kirche Candelária, acht Straßenkinder von Todesschwadronen umgebracht. Dann erfolgte ein Mord an einer noch ungeklärten Zahl von Yanomami, dem größten indianischen Volk Amazoniens. Und schließlich erschütterte ein Vergeltungsakt die Öffentlichkeit: Militärpolizisten rächten sich auf grausamste Weise für den Tod von vier Kollegen in einer Favela von Rio. Sie ermordeten wahllos 24 BewohnerInnen der Favela, darunter auch Jugendliche. Auch bei dem Massaker vor der Candelária führt die Spur zu Militärpolizisten. Aufgrund von Gegenüberstellungen mit überlebenden Kindern wurde sieben Polizisten festgenommen. Die Zahlen sind erschütternd. Über 300 Kinder und Jugendliche sind bis August dieses Jahres allein im Bundesstaat Rio de Janeiro ermordet worden, in vielen Fällen von Todesschwadronen. Die Verwicklung der Militärpolizei in diese Morde wird immer offensichtlicher. Die LN sprachen in Rio de Janeiro mit Jorge Barros, einem Mitarbeiter von CAPM (Centro de Articulaçao das Populaçoies Marginalicada), einer Organisation, die sich für die Rechte der Straßenkinder einsetzt. Das Gespräch wurde Mitte August geführt.

Interview: Thomas Fatheuer

LN: Im Zusammenhang mit dem Mord an den Kindern vor der Candelária sind neue Zahlen veröffentlicht worden. Wenn auch die Statistiken voneinander abweichen, so deutet doch alles auf ein Ansteigen der Gewalttaten gegen Kinder und Jugendliche im Staate Rio hin. Wie ist diese Tendenz zu erklären?
Barros: Schon seit einiger Zeit erscheint es uns, daß die Regierung die Kontrolle über die Todeskommandos verloren hat. Die Zunahme der Zahl der gewaltsamen Tode von Kindern und Jugendlichen ist offensichtlich, auch wenn die Regierung immer wieder unsere Angaben bezweifelt. Die Regierung hat systematisch andere Informationen verbreitet, um vorzutäuschen, die Situation sei unter Kontrolle. Ich spreche hier von der Regierung des Bundesstates Rio, die Bundesregierung hat noch viel weniger unternommen. Die politische Verantwortung liegt bei den Landesregierungen, sie sind für die Polizei verantwortlich. Mit großen Worten ist die Landesregierung von Rio schon seit einiger Zeit für den Kampf gegen die Morde an den Kindern eingetreten. Der Gouverneur, Leonel Brizola, erhebt in der Öffentlichkeit die gleichen Anklagen wie wir, die Nichtregierungsorganisationen (NROs). Statt tatsächlich effektiv etwas zu unternehmen, tritt er vor die Presse und beklagt die Situation. Wir glauben, daß auch internationale Anklagen nicht ausreichen, die Polizei müßte vielmehr die Mörder tatsächlich ergreifen. Uns scheint, daß die Regierung keine politische Kraft hat, um die Beschuldigten zu verhaften. Die entscheidende Erklärung dafür, warum die Regierung diese Kraft nicht hat, liegt wohl in der Verwicklung der Polizei selbst in die Morde. Es gibt offensichtlich eine hohe Beteiligung insbesondere der Miltärpolizei an den Morden. Und statt die Gesellschaft über diese Situation konkret zu informieren und Unterstützung zu erlangen, hat die Regierung Desinformation betrieben und vorgetäuscht, die Lage sei unter Kontrolle.
Eine Umfrage der Zeitung “O Globo” unter Miltärpolizisten ermittelte, daß 25 Prozent der befragten Polizisten zugeben, Kontakt mit Todesschwadronen gehabt zu haben. Das entspricht einer Zahl von 8.000, es gibt in Rio insgesamt etwa 30.000 Militärpolizisten. Auch die Zivilpolizei (policia civil) ist beteiligt, nach den bekanntgewordenen Fällen allerdings in geringerem Maße. Aber darüber hinaus gibt es ja noch die privaten Wachdienste, 70.000 sind in unserem Bundesstaat offiziell beschäftigt. Hier existiert noch weniger Kontrolle – ganz zu schweigen von den illegalen Wachdiensten. Wenn wir hier eine ähnliche Rate wie bei der Militärpolizei ansetzen, in Wirklichkeit wird sie eher höher sein, dann haben wir ein richtiges Heer, das völlig außer Kontrolle ist. Nach einer Studie, die wir gemacht haben, gehen wir davon aus, daß nicht weniger als 20.000 Personen zu Todesschwadronen gehören. Diese Todesschwadrone stehen nicht isoliert da, sie verbinden sich mit dem Drogenhandel, dem Waffenhandel, dem illegalen Glücksspiel. 40.000 Polizisten gibt es insgesamt im Bundesstaat. Da ist eine Kontrolle nicht mehr möglich, zumal wenn man bedenkt, daß die Drogenbosse viel besser bewaffnet sind als die Polizei. Dieser Krieg ist verloren. Aber die Regierung gibt das nicht zu, sie kann nicht öffentlich eingestehen, daß sie de facto die Macht verloren hat.
Auch die Justiz erweist sich als machtlos. Viele Prozesse werden durch die Polizei schlecht vorbereitet, und das geschieht mit Absicht. Verurteilungen hängen in der Regel von Identifizierungen durch Augenzeugen ab; dies ohne Schutz zu machen, bedeutet, sich den Todesschwadronen auszuliefern. Die ZeugInnen verschwinden also, und die Angeklagten werden freigesprochen. Die faktische Straffreiheit ist der Hintergund für das Massaker an den Straßenkindern. Die Mörder wollen zeigen, daß sie die Herren im Zentrum Rios sind.

In der veröffentlichten Meinung Brasiliens war natürlich die Verurteilung des Massakers einhellig. In der Bevölkerung lassen sich aber durchaus andere Reaktionen beobachten, viele halten die Todesschwadronen für eine effektive Antwort auf die Kriminalität. Das ist eine Frage, die die Gesellschaft spaltet. Darum gab es nach dem Massaker kaum Proteste, die Kundgebungen waren schwach besucht. Auch die Tatsache, daß die ermordeten Kinder Schwarze sind, scheinen die Schwarzen in Rio nicht als Angriff auf sich zu betrachten. Von Protesten á la Los Angeles ist hier nichts zu erkennen.
Ja, das ist eine schwierige Frage, wir denken darüber auch nach und wollen das noch besser untersuchen. Zunächst gilt es zu bedenken, daß tatsächlich ein Teil der Bevölkerung solche Morde unterstützt, und dieser Teil ist nicht klein. Wir haben zum Beispiel die Leserbriefe von Zeitungen untersucht, und da zeigt sich, daß ein Teil der Mittelschicht – denn nur die liest Zeitungen – ein taktisches Bündnis mit den Todesschwadronen geschlossen hat. Sie stehen ihnen die Verantwortung für die Sicherheit einer bestimmten Gegend zu. Aber auch die marginalisierte Bevölkerung sieht die Straßenkinder mit den Augen der herrschenden Klassen: als Bedrohung, als verloren, als zukünftige Banditen. Das geht soweit, daß die Eltern von ermordeten Kindern sagen: “Ich habe es ihm immer gesagt. Ein solches Leben führt zu nichts.” Sie akzeptieren die Morde, weil das Kind den “falschen Weg” gewählt hat. Die Dichotomie zwischen Gut und Böse ist in unserer Gesellschaft tief verankert, und viele rechnen die Kinder zur Seite des Bösen. Ich würde sagen, daß etwa 50 Prozent der Bevölkerung die Todesschwadronen unterstützt, von denen, die dagegen sind, haben viele lediglich karitative Gründe. Nur eine kleine Minderheit sieht die politische Dimension und tritt für die Rechte der Kinder ein. Zum anderen ist die Schwarzenbewegung in Brasilien schwach und zersplittert. In der Bevölkerung entsteht kein Bewußtsein, daß ein solches Massaker ein Anschlag auf die schwarze Bevölkerung ist. Hier müssen wir politisch noch viel weiterkommen.

Nach der ersten Empörungswelle gab es einen auffallenden Umschwung in der Presse. Plötzlich gerieten die NROs ins Schußfeld. Nicht mehr die Polizei wurde beschuldigt, sondern die Gruppen, die mit den Kindern arbeiten. Statt den Kindern zu helfen, hätten sie in die eigene Tasche gewirtschaftet. Nicht die Verquickung der Polizei mit den Todesschwadronen stand im Mittelpunkt der Diskussion, sondern die Effizienz der Arbeit der NROs.
Diese Beschuldigungen gehen vor allem von dem Richter Liborni Siqueira aus. Dieser hat selbst eine Organisation, die Straßenkinder betreut. Er hält nun seine Linie für die einzig richtige: die Kinder frühzeitig in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Aber wir haben festgestellt, daß die schlechtbezahlte Kinderarbeit nur die Armut reproduziert und den Kindern keine Perspektive eröffnet. Dieser Richter beschuldigt nun alle Organisationen, die nicht seiner ideologischen Linie folgen, die Kinder nur auszunützen. So behauptet er, daß Organisationen, die mit den Kinder auf der Straße arbeiten, statt sie einzusammeln, das Verbleiben der Kinder auf der Straße wollen.
CEAP und andere Organisationen haben eine ganz andere Ausrichtung der Arbeit. Wir setzen uns für die Rechte der Kinder ein und fordern, daß der Staat diese Rechte akzeptiert. Wir wollen nicht die soziale Betreuung der Kinder garantieren, sondern wollen den Staat zwingen, seine Verantwortung gegenüber den Kindern zu übernehmen. Die NROs sind doch nicht verantwortlich für das Elend in Brasilien, für die sozialen Probleme. Unsere Aufgabe ist es in erster Linie, Druck auf den Staat auzuüben und seine Arbeit zu überwachen. Wir müssen den Staat dazu zwingen, seine Aufgabe zu erfüllen, das ist unseres Erachtens die primäre Funktion der NROs. Wir können uns nicht auf das Abenteuer einlassen zu versuchen, den Staat zu ersetzen. Eine NRO, die vielleicht 30 Kinder betreuen kann, mag eine gute Arbeit machen, sie beruhigt aber mehr ihre Seele, als daß sie einen ernsthaften Beitrag zur Lösung des Problems leistet.

Aber soll das heißen, daß Projektarbeit völlig sinnlos ist? Können denn konkrete Projekte nicht auch einen Pilotcharakter haben, neue Wege aufzeigen in der Arbeit mit Straßenkindern?
Genau. Das kann eine Funktion von konkreter Projektarbeit sein. So macht Projektarbeit Sinn: Beispiele entwickeln, die dann vom Staat in größerem Umfang umgesetzt werden können. Die Beschuldigungen gegen die NROs sind eine Strategie, um diese Organisationen zu schwächen. Wir haben uns auch gegen die willkürlichen Zugriffe der Justiz auf die Straßenkinder eingesetzt. Die Justiz konnte aufgrund eines einfachen Gutachtens Kinder einsammeln und zwangseinweisen. Wir haben die Funktion des “Anwaltes der Kinder” eingeführt, Einspruchsmöglichkeiten geschaffen. Es ist heute nicht mehr so leicht, Kinder von der Straße gegen ihren Willen in Anstalten einzuweisen. Das hat uns in der Justiz Feinde geschaffen. Der Staat hat auf diese neue Situation nicht reagiert. Er hat einen Teil der großen Anstalten stillgelegt, er hat aber nichts an deren Platz gesetzt. So bleiben die Kinder zunehmend auf der Straße sich selbst überlassen. Auch der internationale Druck hat sich bisher als unzureichend erwiesen, trotz aller Veröffentlichungen im Ausland hat die Regierung nichts getan. Jetzt nach dem Massaker wird sie ein paar Sachen machen…

Das Problem mit der internationalen Reaktion ist doch, daß sie sehr punktuell ist. Sie reagiert jetzt auf das Massaker, und wahrscheinlich wird es sogar einige Verurteilungen geben. Aber langfristig die Sozialpolitik in Brasilien zu beeinflussen, ist natürlich viel schwieriger. Auch sehe ich eine gewisse Verlogenheit. Es ist sehr leicht, Mitleid mit einem Straßenkind zu haben und sich über die Morde zu empören. Aber schließlich haben die Regierungen der Staaten des Nordens auch eine Mitverantwortung für die soziale Lage in Brasilien. Die Gruppen müßten also nicht nur die Massaker anklagen, sondern auch die Mitverantwortung der internationalen Politik thematisieren.
Genau. Die Auslandsverschuldung, die Politik des IWF tragen dazu bei, das Elend hier zu verstärken. Rechnerisch gesehen könnten die Zahlungen für die Auslandsschulden (über 10 Mrd. US-Dollar pro Jahr) für soziale Projekte verwendet werden. Aber natürlich hat auch unsere Elite eine große Verantwortung. Wenn mehr Geld da wäre, würde dies noch nicht automatisch den Mißbrauch dieser Gelder verhindern…
Die Straßenkinder akzeptieren nicht mehr passiv das Elend und den Hunger. In dieser Hinsicht sind sie revolutionär. Auch wenn sie nicht organisiert sind, nicht im Rahmen einer politischen Strategie agieren, so rebellieren sie doch. Die brasilianischen Streitkräfte sind sich dessen bewußt. Eine Studie der ESG (eine Ausbildungakademie der Militärelite, LN) hat die Straßenkinder zu einem der Hauptprobleme der inneren Sicherheit erklärt.

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