Argentinien | Nummer 235 - Januar 1994

“Das Schlimmste ist Schweigen!”

Brutale Angriffe auf JournalistInnen häufen sich

Ganz offiziell und stolz feiert Argentinien dieses Jahr den zehnten Jahrestag des “Übergangs zur Demokratie”. In all diesen Jahren hat sich jedoch gezeigt, daß formale Demokratie sehr wohl mit der Verweigerung demokratischer Frei­heiten einhergehen kann. Wer in Argentinien heute auf seinem Recht zur freien Mei­nungsäußerung besteht und Kritik äußert, muß sich um seine Sicherheit und kör­perliche Unversehrtheit sorgen. Dies gilt besonders für JournalistInnen.

Silke Steinhilber

Seit Amtsantritt des Präsidenten Menem gab es über 300 Fälle von Bedrohungen und tätlichen Angriffen gegen Journa­listInnen und deren Medien. Von staatli­cher Seite wurde kein einziger von ihnen aufgeklärt. Stattdessen wurden sie ver­harmlost und die Verantwortlichen gedeckt.

“Das nächste Mal bringen wir dich um!”

Die Szenerie und die Methoden glei­chen denen der Militärdiktatur: Drei Männer in einem Ford Falcon entfüh­ren in der Nacht zum 9. September 1993 den Journalisten Hernán López Echa­güe. Wenig später las­sen sie ihn ver­letzt in einer einsamen Ge­gend in der Provinz Buenos Aires zurück. Mit einer schweren Gehirnerschütterung und Messerschnitten im Gesicht wird er ins Krankenhaus eingeliefert. “Das näch­ste Mal bringen wir dich um”, sagen ihm die Angreifer zum Abschied.
Innerhalb von drei Wochen war das der zweite Angriff auf den Journalisten der kritischen Tageszeitung “Página/12”. Er hatte im August eine vieldisku­tierte Re­portage veröf­fentlicht, die Verbindun­gen zwischen bezahlten Schlägertrupps und hohen Regie­rungsfunktionären auf­deckte. In die Ange­legenheit verwickelt waren Alber­to Pierri, Frakti­ons­vorsitzender der Pero­nistInnen im Parla­ment und Spit­zenkandidat in der Provinz Buenos Aires, sowie der ehema­lige Botschafter in Hon­duras, Alberto Brito, Chef der rechtsex­tremen Schläger­gruppe “Comando de Organización”.
Im Frucht- und Gemüse­großmarkt von Buenos Aires wurden bullige Arbeiter an­geheuert, die dann die “Sicherheit” auf Groß­veranstaltungen der Pero­ni­stischen Partei (PJ) garantieren sollen. Sie griffen zum Beispiel brutal sechs Journalisten auf einer Landwirt­schaftsmesse an, die Präsi­dent Menem gerade besuchte.
Daß auch Menem über die Aktion infor­miert war, erwies sich kurz darauf in einer Fernsehübertragung aus dem Regierungs­palast: Kein anderer als der Staatspräsi­dent selbst begrüßte per Handschlag und Wangenkuß Miguel Angel Arjona, einen der Schläger auf der Messe.

“Normalität” in Zeiten des Wahlkampfs?

Menem weigerte sich mehrere Wo­chen, Vertre­terInnen der Journalist­In­nen­ge­werk­schaft UTPBA (Unión de Trabaja­dores de Prensa de Buenos Aires), die eine Ausspra­che forderten, zu empfan­gen. Er bezeichnete die Aggres­sionen statt­dessen als “üblich im politisch angespannten Klima des Wahlkampfs”.
Die UTPBA sammelt alle Informatio­nen über Bedro­hun­gen und Angriffe gegen JournalistInnen. Ihre Doku­mentation läßt die Systematik erken­nen, mit der kritische Stimmen mund­tot gemacht werden sollen.
In den vergangenen vier Jahren wur­den über 300 Anschläge auf Medien und An­griffe gegen kritische Journalist­Innen ge­meldet. Besonders häufig waren Drohun­gen gegen Jour­nalistInnen, die über Kor­ruptionsfälle bei der Privatisierung von Staatsunter­nehmen re­cherchierten.
“Einzelne JournalistInnen werden durch Drohun­gen oder Angriffe zum Schweigen gebracht. Das eigentliche Ziel ist aber, daß Tausende von Journalist­Innen mit einer Schere im Kopf arbeiten und Milli­onen von Menschen bestimmte Informationen nicht erhalten oder sel­ber verstummen”, so eine Erklärung der UTPBA.
Die einzige Reaktion der Regierung be­steht bisher darin, die Fälle so weit wie möglich zu ignorieren oder die Schuld den JournalistInnen selbst in die Schuhe zu schieben. Nachdem die Vorwürfe gegen Alberto Pierri aufge­taucht waren, beeilte sich etwa der peronistische Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Eduardo Duhalde, des­sen Unschuld zu versichern und statt­dessen die “Aggressionen der Mikro­fone” und den “Terrorismus der Medien” zu verurteilen. Präsident Menem sprach von “normalen Berufs­risiken” und versicherte den Journali­st­Innen sein Ver­ständnis, da auch er täglich bedroht werde. Diese “antiargen­tini­sche Kampagne” sei aus dem Ausland gesteuert, mit dem Ziel für Verun­sicherung vor den Wahlen zu sorgen.

Freunde halten zusammen

Die Tradition der Straf­losigkeit von Menschen­rechtsverbrechen in Ar­gen­ti­nien wird auch diesmal nicht gebro­chen. Bis­lang wurde kein ernst­hafter Versuch un­ter­nommen, auch nur einen Angriff der vergangenen Jahre aufzu­klären, kein ein­ziger Verantwortlicher genannt oder gar bestraft. Die einzigen beiden Verdächti­gen, die aufgrund einer Untersuchung des Innenministe­riums verhaftet worden wa­ren, wurden gleich darauf aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen.
Zur Aufklärung der Ag­gression gegen Lopez Echagüe wurde der Staat­sanwalt Luis González Warcalde zum Sonder­beauf­tragten ernannt. Warcalde ist für seine freundschaftlichen Bezie­hungen zum Staatsoberhaupt bekannt, und streng­te sich in den Wochen nach seiner Ernen­nung hauptsächlich an, eine Ver­nehmung von Parlamentspräsi­dent Pierri und Ex-Botschafter Brito zu vermeiden. Außer­dem wurde War­caldes Freund Luis Patti, in dessen Polizeiwache im vergan­genen Jahr mehrere Jugendliche gefoltert worden waren, zum Inspektor des Zentral­marktes ernannt, um gegen die bruta­len Verhält­nisse vorzugehen.

“Hört auf!”

Die Protestaktionen, die die Gewerk­schaft UTPBA gestartet hatte, wurden von un­gewöhnlich vielen Argenti­nierInnen unter­stützt.
Schon im Mai war es problemlos gelun­gen, mehr als 5000 Unterschriften gegen ein Projekt der Regierung zu sammeln, das die Arbeitsbedingungen der Journali­stInnen zu verschlechtern droht.
Am 29. Juli veranstaltete die UTPBA einen “Tag für Meinungsfreiheit und ge­gen die Drohungen”. Vorher schon hatten sich fast 60.000 Menschen an einer Um­frage zum Thema beteiligt, an diesem Tag waren es weitere 20.000. Von allen Be­fragten meinten 89 Prozent, in Argenti­nien gäbe es Zensur oder Mechanismen, die wie Zensur wirken können. Fast 30 Prozent machten dafür die Regierung ver­antwortlich.
Über zwei Drittel der Befragten äußerten außer­dem den Wunsch, die Korruption solle stärker als bisher auf­gedeckt und pu­blik gemacht werden; sie waren gleich­zeitig mehr­heitlich davon überzeugt, daß die Angriffe Journa­listInnen zum Schwei­gen brin­gen sollen.

“Für das Leben, gegen die Straf­frei­heit.”

Mit dieser Parole rief die UTPBA am 16. September gemeinsam mit Men­schen­rechts- und anderen Organisatio­nen, Par­teien und prominenten Einzel­personen zu einer Kundgebung auf.
Knapp 12.000 Menschen hatten sich auf der Plaza de Mayo versammelt. Das sind mehr als auf jeder anderen Demonstration in der letzten Zeit.
Der Tag war gleichzeitig Jahrestag der “Noche de los Lapizes”, in der 1976 sie­ben SchülerInnen aus La Plata ver­schwan-den. Ihre Aktion für SchülerIn­nenfahr­scheine wurde damals als “Subver­sion an den Schulen” bezeich­net. Die Erinnerung daran machte einmal mehr Kontinuitäten bei der Verweigerung von Menschen­rechten deutlich.

Alles geht weiter wie vorher

Nach den Wahlen am 3.10. setzte sich die Reihe von Bedrohungen und An­griffen auf die Meinungsfreiheit un­verändert fort. Am 27. Oktober wurde die seit über einem Jahr wöchentlich stattfindende Demon­stra­tion der Rent­nerInnen vor dem Kon­greß auf Befehl des Innenmi­nisteri­ums durch Knüppel­einsatz verhindert. Dabei wurden auch sieben JournalistInnen verletzt.
Noch ungeklärt sind die Umstände der Ermordung des Journalisten und UTPBA-Funktionärs Mario Bonino. Er wurde am 11. November entführt, seine Leiche schwamm vier Tage spä­ter im Rio de La Plata. Am Vorabend der Entführung hatte eine Gruppe bewaffneter Männer die Ein­gangstüren der UTPBA-Zentrale ein­ge­schlagen und den Nachtwächter schwer verletzt.
Juan Carlos Camaño, der Generalse­kretär der UTPBA dazu: “Den Beruf des Journa­listen heute in Ländern wie unserem aus­zuüben, bringt ein hohes Risiko mit sich. Über Korruption und die Politik der so­zialen Ungerechtigkeit zu recherchieren und sie zu denunzie­ren, ist genauso ris­kant, wie diejenigen beim Namen zu nen­nen, die ökono­mische, juri­stische oder politische Vorteile daraus ziehen. Es ist allgemein bekannt, daß diese privilegier­ten Sek­toren eine Mafia bilden oder Ban­den und Schlägertrupps beauftragen. Die­se bedrohen nicht nur JournalistInnen, son­dern auch StudentIn­nen, Dozent­In­nen, Rentner­Innen, Men­schen­rechts­organisa­ti­o­nen, Gewerk­schaf­ten oder son­stige poli­tische Kräfte; alle diejenigen werden an­gegriffen, die das momen­tan herr­schen­de wirtschaftliche, politische und soziale System in Frage stellen.”

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