Literatur | Nummer 407 - Mai 2008

Dem Tod Terrain abgewinnen

Der argentinische Lyriker Juan Gelman erhält den Cervantes-Preis

FRAGEN
„da du schon durch mein Blut segelst und meine Grenzen kennst und mich mitten am Tag weckst um mich in deine Erinnerung zu betten und Wut auf mich Geduld mit mir bist sag mir was zum Teufel ich mache warum ich dich brauche wer du bist stumme Einsame mich durchquerend Grund meiner Leidenschaft warum ich dich nur mit mir erfüllen und dich ausfüllen dich erschöpfen und mich mit deinen Knöchelchen mischen möchte doch du bist die einzige Heimat gegen die Bestien das Vergessen“

Valentin Schönherr

Am 23. April 2008 wird Juan Gelman der Cervantes-Preis verliehen, die renommierteste Literaturauszeichnung der spanischsprachigen Welt. Das ist eine zwar nicht sehr überraschende, aber völlig angemessene Würdigung. Denn der 1930 in Buenos Aires geborene Gelman gehört seit Jahrzehnten zu den markanten Stimmen der lateinamerikanischen Lyrik und hatte bereits in den 80er Jahren eine Individualität, Vielgestaltigkeit und Reife erlangt, die ihn jedes großen Preises würdig macht. Nun ist zu hoffen, dass Juan Gelmans dichterisches Werk auch dem deutschsprachigen Publikum bekannter wird.
Bisher ist uns Juan Gelman vor allem im Zusammenhang mit den Verbrechen der südamerikanischen Militärdiktaturen ein Begriff. Er selbst war als Führungsmitglied der argentinischen Tupamaros am bewaffneten Widerstand beteiligt, verließ aber 1975 angesichts des Terrors der Triple-A-Milizen das Land und befand sich im März 1976, zu Beginn der Diktatur, in Rom in Sicherheit. Anders sein Sohn und seine hochschwangere Schwiegertochter: Obwohl beide nicht politisch aktiv waren, wurden sie – vielleicht stellvertretend für Gelman – noch 1976 verschleppt und ermordet.
Aus der römischen Exilzeit stammt der 1980 erschienene Gedichtzyklus Unterm fremden Regen, in dem es heißt: „von den Exilpflichten: das Exil nicht vergessen / die Sprache bekämpfen die das Exil bekämpft! / … / die Gründe des Exils nicht vergessen / die Militärdiktatur / die Fehler die wir für dich begingen / gegen dich“. Gelman war ein privat wie politisch Erschütterter, für den die Exilführung der Tupamaros spätestens dann keine Heimat mehr war, als sie begann, die in Argentinien verbliebenen Mitglieder in sinnlosen Kämpfen zu verheizen.
Angefeindet von beiden Lagern, von den einen als Guerillero, von den anderen als Ex-Guerillero, kümmerte sich Gelman verstärkt darum, etwas über den Verbleib seines verschwundenen Sohnes und seiner Schwiegertochter zu erfahren. Die exhumierten Überreste von Marcelo konnte er 1989 identifizieren, von María Laura García fehlt bis heute jede Spur. Und das Kind? Dass es – wie vermutlich rund 280 weitere Säuglinge – zur Adoption weitergegeben wurde und wohl in Uruguay lebt, fand Gelman bald heraus. Bis er allerdings die entscheidenden Informationen bekam und er sich am 31. März 2000 mit seiner nun schon 24-jährigen Enkeltochter treffen konnte, hatte es eine breite internationale Unterstützungsbewegung, große Hartnäckigkeit und einen Wechsel im uruguayischen Präsidentenamt (von Sanguinetti zu Batlle) gebraucht. Seit Frühjahr 2005 trägt María Macarena den Familiennamen Gelman García.
Die Täter von damals sind auch heute noch Täter, wenn sie über ihre Verbrechen schweigen. María Macarena und Juan Gelman aber haben es geschafft, ihnen einen Teil des Sieges zu entreißen. Die Gewissheit über den Verbleib des Sohnes und über die Verwandtschaft mit dem lebendigen Enkelkind beenden den Schrecken der Ortlosigkeit: Die sterblichen Überreste seines Sohnes begraben zu können, habe für ihn die „Wiedereingliederung des Verschwundenen in die Kultur“ bedeutet. Auf Marcelos Grabstein hat Juan Gelman schreiben lassen: „gerettet aus der Nacht und dem Nebel der Völkermörder“.
Als einen „Wurf gegen den Tod“ hat Gelman auch das eigene Dichten bezeichnet und es würde nicht weit führen, den politisch aktiven Zeitgenossen vom Dichter Juan Gelman zu trennen. Er selbst hat diese Trennung stets abgelehnt, will von einer Lyrik, die das Politische bewusst ausklammert ebenso wenig wissen wie von einer ausdrücklich politischen Lyrik. Gerade am Anfang der kampfbetonten 70er Jahre schrieb er im Gedicht „Vertrauen“: „‘Mit diesem Gedicht wirst du die Macht nicht übernehmen‘, sagt er / ‚mit diesen Versen wirst du die Revolution nicht machen‘, sagt er / ‚auch mit Tausenden Versen wirst du die Revolution nicht machen‘, sagt er / setzt sich an den Tisch und schreibt.“
Es sind in den über 50 Jahren, die seit dem ersten Gedichtband Violine und andere Fragen (1956) vergangen sind, sicherlich an die Tausend Gedichte entstanden, die Gelman dem Tod in jedweder Gestalt entgegengeworfen hat. Der einzige vollständig übersetzte Zyklus Dibaxu / Debajo ist ein gutes Beispiel dafür. Dies sind Gedichte in sephardischer Sprache, die die aus Spanien vertriebenen Juden gepflegt haben – und die langsam am Verschwinden ist. Gelman, Sohn ukrainisch-jüdischer Einwanderer, ist selbst kein Sepharde. Aber er schafft sich dichtend im Exil immer wieder neue Heimaten, die im Grunde dasselbe sind wie der wiedergefundene Sohn oder die Enkelin: dem Tod abgenommene Territorien. Und was für lebendige Territorien das sind! – Liebesgedichte in einer zärtlichen, suchenden Sprache, die beim Erscheinen der deutschen Übersetzung (1999 im Verlag der Kooperative Dürnau) diesem Dichter viel Zuneigung zurückgegeben haben.
Und was wäre da nicht noch alles zu erkunden. Die „Gedichte des Sidney West“ aus den 60er Jahren etwa, ein Zyklus mit fingierten Übersetzungen. Gelman setzt sich die Maske erfundener Autoren auf und schreibt ein „englisches“ Gedicht wie ein John Wendell, eines in japanischem Ton wie ein Yamanokuchi Ando. Indem er ein anderer zu sein vorgibt, schreibt er über sich selbst.
„Carta abierta“ (Offener Brief,1980), richtet sich an den ermordeten Sohn – die Zweideutigkeit des Titels ist, wie vieles bei ihm, auch zweideutig gemeint. Oder die großartigen Bände der Jahre 1978-79, die nüchtern HechosRelaciones heißen, Notas, Comentarios oder Citas – hier kommentiert und zitiert er die großen Lyriker und Lyrikerinnen des spanischen Barock, immer wieder Santa Teresa und San Juan de la Cruz, auch Jüngere. Aber das sind mehr als nur Annotationen. Gelman schreibt sie fort, klopft sie auf seine charakteristische Weise ab, streng in der Form, aber es geht eine Welt auf. Er erfindet Worte neu, die es beinahe schon gibt, amorar zum Beispiel, das etwas anderes ist als amar. Darin schwingt auch als Gegensatz demorar mit, „etwas aufschieben“: amorar hieße also nicht nur „lieben“, sondern auch „ganz in der Gegenwart lieben“.
Auch wenn solche Wort-Eröffnungen bisweilen nicht leicht zu übersetzen sind: dass es geht, haben Juana und Tobias Burghardt in der 2003 erschienenen, exzellenten Anthologie Spuren im Wasser (teamart Verlag Zürich) bewiesen. Nun wäre dringend zu wünschen, dass die beiden vorliegenden Bände durch weitere Ausgaben, insbesondere durch Editionen vollständiger Zyklen, ergänzt werden. Der Cervantes-Preis mit seiner Ausstrahlung weit über den spanischen Sprachraum hinaus könnte dazu der Anstoß sein. Und die Gelegenheit bietet spätestens der Frankfurter Buchmessenschwerpunkt im Jahre 2010. Gastland ist Argentinien.

Juan Gelman: Cólera Buey, Buenos Aires 1965-68, übersetzt von Juana und Tobias Burghardt

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