Chile | Nummer 194/195 - Juli/August 1990

Demokratie auf dem Vormarsch

Ohne Zweifel hat sich die chilenische Gesellschaft unter dem autorititären Regime der Militärdiktatur tiefgreifend verändert. Man muß sich nun die Frage stellen, in welchem Sinne dies der Fall war, mit welcher Intensität dies geschah und ob es möglich wäre, etwa bestimmte Entwicklungen rückgängig zu machen. Inwiefern be­einflussen diese Veränderungen auch zukünftige gesell­schaftliche Entwicklun­gen? Welche Auswirkungen ergeben sich da­durch für die junge Demokratie? Mit Sicherheit muß die Gesell­schaft lernen, umzudenken und neu zu handeln.

Jorge Rojas Hernández

Eine segmentierte Gesellschaft.

Chile diente als bestes Beispiel einer Politik der “Sanierung” und Durchsetzung neuer konservativer kapitalistischer Strategien. Den Staat von seinen hohen Aus­gaben, seiner kranken Wirtschaft, hohen Inflationsrate und seinen “viel zu ho­hen Lohnkosten” zu be­freien war oberstes Ziel, eine neue Form von Akkumulation im Rahmen des freien Marktes zu ermöglichen. Das Land diente als Ex­perimentierfeld. Die Diktatur strebte die Einführung eines rei­nen, ungebundenen Marktes an, frei von Protektionismus, Inter­ventionismus, Etatismus und vor allem von jeglicher Behinderung durch po­litische Organisatio­nen und Kompromisse, Privatisierung und Entpolitisierung der Ge­sellschaft wurden zu den Grundlagen dieser neoiliberalen Strategie. Auf diese Weise wird versucht, das Monopol von Macht und Politik für das Bürgertum zurückzugewinnen. Vereinzelung und Entpolitisierung bezwecken, das hi­storisch gewachsene Kräftepotential der Arbeiterbewegung und der ärmsten Schichten der Gesellschaft zu zerstören. Durch Propaganda, Einschüchterungs­maßnahmen, neue Erziehungsmethoden, veränderte Ar­beitsbedingungen und -verhältnisse wird ein extremer individuali­sierter Egoismus gefördert. Er wird zu einem neuen Grundwert die­ser Gesellschaft, da nur seine Mechanismen letz­tendlich die Effek­tivität des notwendigen Konkurrenzverhaltens garantieren. Der Kampf ums Überleben wird zum Mittel jener Strategie, deren Ziel schließlich der absolute Sieg der Marktgesellschaft ist.

Die strukturellen Veränderungen sind heute spürbar in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die materielle Basis für die Arbeits- u. Lebensbedingungen der Ar­beitnehmer änderte sich radikal. Die Be­schäftigungsstruktur hat sich grundle­gend gewandelt: Das Schrumpfen des Industriesektors und die Zunahme der Be­schäftigung im Dienstleistungsbereich oder informellen Sektor ist hier von be­sonderer Bedeutung. Diese Neustruktu­rierung der Beschäftigunsverhältnisse hat auf die gesamte Gewerk­schaftsbewegung negative Auswirkungen. Das neu praktizierte Wirt­schaftskonzept fügte dem Industriesektor erheblichen Schaden zu, jenem Sektor, aus dem sich die Arbeiterschaft historisch entwic­kelt hatte. Hier konzentrierten sich gewerkschaftliche Kräfte, üb­ten linke Parteien starken Einfluß aus. Mehr als 250.000 Ar­beitsplätze gingen in diesem Bereich verloren, schätzungsweise 3.500 Betriebe mußten bis Ende 1984 Konkurs anmelden. Dies bedeutete empfindliche Verluste für die organi­sierte Arbeiterschaft. Folglich ver­ringerte sich ihre Zahl erheb­lich. Somit verlor das strategische Gewicht der chile­nischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung innerhalb der Gesellschaft an Bedeutung.

Doch 1984 setzt eine Neuentwicklung auf Grund einer Korrektur des Wirt­schaftsmodells ein. Beschäftigungsstruktur und Mitglieds­zahlen der Gewerk­schaften verschieben sich: 1988 sind 46,4% aller Beschäftigten im produktiven Sektor tätig, davon allein 16,2% im Bereich der Industrieproduktion. Hier ist eine deutliche Erholung gegenüber den Vorjahren spürbar. Parallel dazu erhöhen sich die Mitgliedszahlen der Gewerkschaften.

Die Fragmentierung der chilenischen Arbeiterklasse besteht je­doch weiterhin. So sind z.B. Zeit -und Saisonarbeit (subcontratados, temporeros) mittlerweile auf dem chilenischen Arbeitsmarkt weit verbreitet. Ihr Anteil beträgt in bestimmten In­dustrien 50%, in der Landwirtschaft sogar 70%. Die Differenzen be­stehen nicht nur in unterschiedlichen Arbeitsverträgen, sondern auch im Hinblick auf allge­meine Arbeitsbedingungen, Gesundheits­versorgung, Lohn -und Sozialversiche­rung sowie gewerkschaftliche Organisationsformen. “Trabajo precario” (Zeitarbeit) ist für einen Großteil der chilenischen Arbeitnehmer zu einem Dau­erzustand ge­worden. Die damit einhergehende soziale Unsicherheit hat Auswir­kungen für tausende chilenischer Familien.

Demokratie für eine Ein-Drittel-Gesellschaft?

Wie kann sich nun ein Demokratisierunsprozeß für Millionen von der Gesell­schaft ausgeschlossene Chilenen gestalten? Die Armen machen sich besonders große Hoffnungen auf positive Änderungen. Nach den jüngsten Veröffentli­chungen des Nationalen Statistischen Instituts (INE) gibt es in Chile nicht nur fünf Millionen Arme – wie immer behauptet wurde – sondern sieben Millionen. Das bedeu­tet, daß 60 % aller Chilenen unter bzw. am Rande des Existenzmini­mums leben. Vor allem in den letzten 10 Jahren entwickelte sich eine Umvertei­lung des Nationaleinkommens zugunsten der Reichen. 20% aller chileni­schen Haushalte konsumieren heute mehr als die Hälfte des gesamten Na­tionaleinkommens. Der “moderne” Kapitalismus erreicht nur ein Drittel der Ge­sellschaft. Die ärmsten Haushalte können bspw. nur 3.000 Pesos monatlich für Brot ausgeben (1 US-$ = 300 Pesos), wäh­rend die reichsten 7.000 Pesos monatlich zur Verfügung haben. Diese 3.000 Pesos bedeuten für die Ärmsten allein 18% ihres Ge­samteinkommens, für die Reichsten lediglich 3%. Für Erziehung und Unterhalt haben die Ärmsten 300 Pesos monatlich zur Vefügung, die Wohlha­benden im Durchschnitt 21.000. Da in Chile viele Bereiche der Gesellschaft pri­vatisiert wurden, kann ermessen werden, welche verheerenden Folgen die Um­verteilungspolitik der Diktatur für breite Bevölkerungsschichten hatte und wie weitrei­chend dementsprechend die Aufgaben der neuen Regierung sind.

Erste Schritte der demokratischen Regierung

Seit nunmehr drei Monaten existiert in Chile wieder eine demo­kratische Regie­rung. Doch das Erbe der beinahe 17jährigen Militär­diktatur lastet schwer auf der neuen Regierung Aylwin. -Und dies in jeder Hinsicht, denn Macht und Spiel­raum dieser jungen Demokra­tie sind stark eingeschränkt. So dürfen beispielweise alte, pino­chettreue Funktionäre nicht entlassen werden. Neueinstellungen sind nur geringfügig möglich. Pinochet bleibt verfassungsgemäß weiterhin Oberbe­fehlshaber der Streitkräfte, und auch die Kommu­nalverwaltung wird personell und organisatorisch nicht verändert. Bis Ende März hatte die Diktatur bereits den größten Teil des für 1990 geplanten Haushalts ausgegeben. Allein ein Viertel aller Sitze im Senat wurde durch das Militärregime im voraus vergeben. Auf diese Weise ist es für eine demokratische Regierung nur schwer möglich, notwendige Mehrheiten zu erlangen. Verhandlungen mit dem konservativen Lager, das oh­nehin mit 43 % im Parlament vertreten ist, sind somit vorprogrammiert. Hinzu kommt, daß eine Vielzahl von Konflikten zwischen der neugewählten Regierung und den Streit­kräften existieren.

Trotz all dieser Schwierigkeiten versucht die Regierung Ayl­win, politisch zu handeln. Ein wichtiger Punkt ist die Gründung der “Comisión Nacional de Ver­dad y Reconciliación” (Nationale Kommission der Wahrheit und Versöhnung), die zur Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen unter der Militärdiktatur ins Leben ge­rufen wurde; denn der öffentliche Druck zur Aufklärung dieser Ver­brechen wächst ständig. Die Kommission besteht aus acht pro­minenten Mitglie­dern, unter anderem Jaime Castillo Velasco, Vosit­zender der Menschenrechts­kommission, sowie José Zalaquet, ehemali­ger Präsident von Amnesty Internatio­nal in London. Die Resonanz innerhalb der Bevölkerung Chiles ist groß. In den Reihen der Mili­tärs und der neuen Opposition trifft die Arbeit dieser Kommis­sion jedoch auf wenig Gegenliebe. Pinochet versuchte, die Gründung mit allen Mitteln zu verhindern. Offiziell, einen Tag vor der Grün­dung, bat Pinochet Ayl­win um einen Gesprächstermin, um ihm in sei­ner Funktion als Oberbefehlshaber der Armee abzuraten. Aylwin ver­schob diesen Termin auf einen späteren Zeit­punkt. Daraufhin ver­suchte Pinochet, den Nationalen Sicherheitsrat – mit über­wiegend militärischer Präsenz – aufzurufen, doch auch innerhalb der Streitkräfte stieß er auf Ablehnung. Zuletzt versuchte Pinochet, auch über eine öffentliche Erklärung des Heeres die genannten Maß­nahmen zu kritisieren. Aus diesem Grund bestellte Aylwin in seiner Funktion als Präsident der Republik Pinochet zu sich, um eine Er­klärung zu verlangen. Auf diese Erklärung des Heeres hin ließ die Regierung verlauten, es handele sich hier um eine politische Stel­lungnahme, wobei das Heer eindeutig seinen Kompetenzbereich über­treten habe. Letztend­lich sei es allein Angelegenheit der Regie­rung, eine entsprechende Kommission zu gründen. Von den Militärs erwarte man vielmehr eine aktive Unterstützung der Regierungspoli­tik. Gleichzeitig forderte Aylwin Pinochet auf, einen genauen Be­richt darüber abzugeben, wieweit die vor längerer Zeit angekün­digte Auflö­sung des CNI bereits vorangeschritten sei; denn es exi­stierten berechtigte Hin­weise auf weitere Aktivitäten des ehemali­gen Geheimdienstes. Drittens verlangte Aylwin konkrete Aufklärung über die Funktion eines Beratungsstabes um Pino­chet, der nach Mei­nung der Regierung eine Art “Schattenkabinett” darstellt. Die Be­ziehungen zwischen Regierung und Heer bleiben weiterhin gespannt. Ziel der Regierung ist zunächst die Isolierung Pinochets, weiterhin auch, die gesamte Armee der Regierung zu unterstellen und die “alten Diktatoren” von den übri­gen Streitkräften zu tren­nen. Ihr politischer Handlungsspielraum würde sich da­durch ein­schränken.

Bei der Umstrukturierung der Gesellschaft haben die Militärs eine ganz entschei­dende Rolle gespielt. Viele von ihnen sind sogar auf dieses “historische Werk” stolz. Sie fühlen sich als die ei­gentlichen Herren des Landes. Ihre Präsenz inner­halb der Gesell­schaft macht sich weiterhin bemerkbar. Ihre Reaktion angesichts des Fundes von Massengräbern in Pisagua zeigt dies deutlich. (Siehe Artikel in diesem Heft)

Wiederherstellung der politischen Spielregeln. Soziale Forderungen und Erwartungen.

Der Autoritarismus prägte nicht nur die Politische, son­dern auch viele andere Bereiche sozialen Lebens in Chile. Er ist heute gesellschaft­lich tief verwurzelt. Seine Demontage muß grundlegende Vorausset­zung für den Wiederaufbau der Zivilgesellschaft und demokratischer Strukturen sein. Frühere historische Erfah­rungen zeigen jedoch, daß ein solcher Prozeß stets schwierig ist.
Sozialwissenschaftler gehen davon aus, daß bestimmte institu­tionelle Reformen (bspw. die Reform der Arbeitsgesetzgebung) im weiteren Verlauf bestimmte Umstrukturierungen und neue Handlungs­spielräume der Arbeitnehmer und Gewerkschaften ermöglichen. Zwei­felsohne werden politische Reformen auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zugunsten der sozialen Akteure än­dern, aller­dings mit unterschiedlichen Auswirkungen, je nach konkreter Situa­tion der verschiedenen Sektoren innerhalb ihres sozialen Umfeldes.
Betrachtet man die politischen Absichten und sozialen Pro­gramme der neuen demokratischen Regierung, besteht die Gefahr ei­ner neuen, anderen gesellschaft­lichen Polarisierung zwischen den­jenigen sozialen Sektoren, die durch die De­mokratisierungprozesse begünstigt sind (Mittelschichten; Teile der Arbeitneh­merschaft und bestimmte Segmente aller Marginalisierten) und dem auch wei­terhin großen Teil der Bevölkerung, der immer noch ausgeschlossen sein wird. Hier werden sich möglicherweise recht unterschiedliche Grup­peninteressen bil­den. Gerade an diesem Punkt wird die gegenwärtige extrem schwierige Heraus­forderung an die junge Demokratie Chiles deutlich.
Vertreter der Regierungsparteien (Concertación) behaupten, Priorität müsse die Wiederherstellung der demokratischen Spielre­geln haben, um auf diese Weise gesellschaftliche Konflikte auf eine “zivilisierte” Art lösen zu helfen: Dies macht eine Politik des Konsenses notwendig, die jedoch ihrerseits auch wieder Opfer ab­verlangt, was jedoch nicht gesamtgesellschaftlich akzeptiert wird.
Die Arbeiter – wie auch andere unterpriviligierte soziale Schichten – stellen hohe Erwartungen an die neue Regierung. Ent­sprechende Forderungen werden daher nicht auf sich warten lassen und mit Sicherheit auch Auswirkungen auf gesell­schaftliche Organi­sationsformen und politisches Handeln haben. Integrationsbestre­bungen innerhalb bestimmter gewerkschaftlicher Sektoren werden deutlich werden, einhergehend mit Forderungen nach besserer Ar­beitsplatzstabilität, höheren Löhnen, Mitbestimmungsrechten, berufli­cher Qaulifikation und sozialen Aufstiegsmöglichkeiten. Andere werden hingegen ganz allgemein Arbeitsplätze, bessere Löhne, mehr soziale Gerechtigkeit und tie­fere politische Reformen verlangen. Bei der Entwicklung der einen oder anderen Tendenz wird die Haltung von Unternehmenschaft und Regierung daher stets von großer Bedeutung sein.
Zum ersten Male, nach 16 Jahren Autoritarismus, gab es nun eine kleine Annäh­rung zwischen der Arbeitnehmerorganisation CUT, den Arbeitgeberverband CPC und der Regierung. Bereits Ende Januar unterzeichneten die CUT und der Arbeitgeberverband eine Absichts­erklärung hinsichtlich der Bildung von Kom­missionen zur Frage von Tarifverhandlungen, Arbeitsverträgen etc. Anfang Mai wurde von der Regierung angekündigt die Mindestlöhne von 18.000 auf 26.000 Pesos und das Kindergeld von 550 auf 1.100 Pesos monatlich zu erhöhen. Dies waren erste kleine Ansätze auf dem langen Weg zu sozialen Re­formen. Doch schon Ende Juni gab es keine Verständigung mehr zwi­schen CUT und Regierung im Bezug auf notwendige Reformen der ar­beitgeberfreundlichen Arbeitsgesetz­gebung. Die Unternehmerschaft ist nicht bereit, größere Konzessionen zu ma­chen, die Rechte und Handlungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer und Gewerk­schaften ver­stärken würden. Die Regierung dagegen ist sehr daran interessiert gute Beziehungen zur Unternehmerschaft aufzubauen. Man betrachtet eine sol­che Verbindung als fundamentale Grundlage notwendiger wirtschaftlicher Sta­bilität. Um Konflikte zu vermeiden, versucht die Regierung zwar, ihre Arbeits­politik sowie konkrete Reformen der Arbeitsgesetzgebung in Verhandlungen mit den konservativen Parteien voranzutreiben, um auf diese Weise einen politischen Kon­sens im Parlament zu schaffen. Die CUT sieht in dieser Politik je­doch eine Gefahr: solche Reformen sind in ihrer Wirkung eher unbe­deutend. Bei den jüng­sten Unterredungen mit Vertretern der Regie­rung gab es diesmal keine Annäh­rung. Arturo Martínez, Vize-Präsi­dent der CUT äußert mit tiefer Besorgnis nach langen gescheiterten Verhandlungen mit der Regierung: “Wir befinden uns am Null­punkt, weil es so aussieht, als sei die Regierung – vor allem das Ministerium für Arbeit – nicht an einer starken und soliden Ge­werkschaftsbewegung interes­siert.” Mit großer Enttäuschung wenden sich die CUT-Vertreter nun an die Par­teien, um ihre Forderungen durchzusetzen. Doch auch hier herrscht eine Ten­denz zur Konsens­politik. Deshalb scheint es so, als reiche der momentan über­haupt machbare Minimalkonsens mit der Regierung doch nicht aus, um lang­fristig tiefere Konflikte zu verhindern. Dadurch wiederum vertie­fen sich die Autonomiebestrebungen der chilenischen Gewerkschafts­bewegung. Diese Be­strebung werden vor allem durch zwei Faktoren beeinflußt: Spannungen zwi­schen Forderungen und Angeboten, sowie die Konsolidierung der sozialen Or­ganisationen und die Schaffung einer neuen kulturellen Identität und eines neuen Bewußtseins.

Beteiligung und Selbstbestimmung.

Die Entwicklung gewerkschaftlicher Basisorganisationen sowie die Entstehung zahlreicher Selbsthilfeorganisationen sind Ausdruck eines starkes Bedürfnisses nach Beteiligung und Selbstbestimmung. Neben Stadtteilorganisationen handelt es sich auch um produktive Werkstätten, Gemeinschaftsküchen, Volksbäckerein, Einkaufsgenos­senschaften, Gemüsengärten -und Hausbaukomitees, Gesundheitsgrup­pen usw. Ihre Zahl nimmt seit Beginn der 80er Jahre ständig zu. Im Jahr 1982 gab es im Raum Groß- Santiago 459 wirtschaftliche Basis­organisationen, 1988 schon 2.306. Etwa 200.000 Personen sind von diesen Selbs­hilfeorganisationen begün­stigt, was ungefähr 15% aller Bewohner der Arbeiter- und Elend­sviertel Santiagos entspricht. Bei ihrer Entstehung und Weiterent­wicklung erhalten sie Unterstützung (Betreuung, Bildungsmaßnah­men, usw.) durch sogenannte nicht-staatliche Organisationen (ONGs), die ebensfalls wäh­rend dieser Zeit entstanden. Die Selbsthilfeor­ganisationen bestehen heute in vielen Stadtteile (poblaciones), sind demokratisch organisiert und verfügen über kleine Handlungs­spielräume auf lokaler Ebene, manchmal besitzen sie auch eine re­gionale Koordinierung. Ihr soziales und politisches Handeln könnte sich im Rahmen eines Demokratisierungsprozesses der Kommunen durchaus verstärken.
Alle diese sozialen Sektoren sind verständlicherweise viel stärker an der Mitge­staltung einer sozialen Demokratie mit Selbst­beteiligung interessiert als an der bloßen Änderung politischer Spielre­geln. Dies wird in den Beschlüssen der Ge­werkschaftsbewegung bei der Gründung des neuen Dachverbandes CUT und den gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit der demokratischen Regierung deutlich. Auch Frauenorganisationen sowie Indianerorganisationen fordern dies.
Am 5. Oktober 1988, als die Menschen in Chile den Sieg der Op­position kaum fassen konnten, gewann das Volk auch wieder stär­keres Selbstvertrauen. Im De­zember 1989 wurde dieses Selbstver­trauen noch verstärkt durch den Wahlsieg von Aylwin. Hier könnte sich eine neue Qualität kollektiven Selbstbewußtseins entwickeln. Schon während der Protestaktionen der Jahre 1983 bis 1986 artiku­lierte sich allmählich eine neue Form sozialen Bewußtseins, ein­hergehend mit neuen Formen einer oppositionellen Kultur sowie al­ternativen und autonomen gesellschaftlichen Formen. Es ist ein langer Weg, auf welchem auch der kleinste Freiraum wichtig ist. Diese kleinsten Freiräume müssen täglich neu geschaffen werden. Ihre Verschiedenartigkeit muß dabei respektiert werden. Die neue poli­tische Stimmung, die heute unter dem Vormarsch der Demokratie herrscht, wirkt sich auch positiv auf diese Entwicklung aus.
Auf dem Weg zu neuer Stabilität?
Die Stimmung innerhalb des Regierungslagers – trotz erwähnter Schwierigkeiten – ist gekennzeichnet durch Optimismus. Nach den jüngsten Meinungsumfragen bestätigt sich diese Ten­denz: die Popularität der Regierung stieg inzwischen von 55,2% auf 62,8%, während die Aylwins bereits die 70% – Marke überschritt. Ent­gegen allen Prognosen hat sich die Regierungskoalition bewährt. Es fand eine interne Umgruppierung statt, wonach sich unter an­derem die sozialistischen Parteien mit der MAPU zur Partido Socia­lista zusammenschlossen. Parallel dazu hat sich die Erkenntnis ge­festigt, das nur durch breite Mehrheiten eine stabile Politik mög­lich ist. In der Vergangenheit war Chile stets von Minderheiten re­giert worden. Instabilität war die Folge. Man hat aus der Ver­gangenheit gelernt. Die ehemals strenge klassen- und schichtenspe­zifische Zuordnung der Parteien ist durchlässiger geworden. In der Folge bedeutet dies eine höhere Konsensbe­reitschaft, stärkere Kom­promißfähigkeit, was allerdings nicht zwangsläufig im­mer den In­teressen der sozial Benachteiligten entspricht. Andere, nicht an der Regierung beteiligten linken Parteien wie die Kommunisten, der MIR und die Christliche Linke, sind nach ihrer Wahlniederlage vom Dezember 1989 nicht fä­hig, eine alternative linke Politik anzubie­ten. Die Kommunisten führen vielmehr innerparteiliche Auseinander­setzungen um Fehlentscheidungen über ihre Politik der “Rebelión Popular” unter der Militärdiktatur. Außerdem sind sie allgemein durch die Krise des Sozialismus in Osteuropa stark betroffen. Überlegungen zur Neugruppierungen beschäftigen die anderen linken Parteien, die damals zu der instrumentellen Partei “PAIS” gehör­ten.
Die wirtschaftliche Entwicklung gestaltet sich bis heute posi­tiv. 1989 war das BSP um 10% gestiegen. Künstliche Überhitzung trieb diese Rate in die Höhe. Inzwi­schen ist ein Normalisierungs­prozeß eingetreten. Die Steigerung des BSP beläuft sich zur Zeit auf etwa 5%. Nach der tiefen Krise von 1982/83 erholte sich die chilenische Wirtschaft von Jahr zu Jahr. Es wird sogar behauptet, daß parallel dazu ein Rein­dustrialisierungsprozeß stattgefunden hat. Durch die Schaffung neuer Arbeitsplätze im produktiven Bereich ist die Zahl die Indu­striearbeiter ge­stiegen. Nach INE ist die Arbeitslosigkeit insge­samt zurückgegangen. Diese An­gaben dürfen allerding nicht vorbe­haltlos übernomen werden; denn bereits eine Person, die nur zwei Stunden pro Woche beschäftigt ist, gilt als nicht mehr ar­beitslos. Ein entscheidender Schritt nach vorne muß jedoch darüber hinaus im sozialen Bereich liegen. Ohne tiefgreifende Reformen werden sich sozialen Mißstände nicht von allein verändern. Für die Regierung Aylwin ist das Festhalten an jener makroökonomischen Stabilität von lebenswichtiger Bedeutung. Die Re­gierung plant, die bestehende exportorientierte Wirtschaft in eine zweite Phase zu führen, indem hier verstärkt Investitionen getätigt werden sollen. Chile expor­tiert bis heute in der Regel nicht verarbeitete Produkte. Hier soll im Bereich der Verarbeitungsbranche ein Industrialisierungs­prozeß in Gang gesetzt werden. Die gerade be­willigten 13 Milliarden US-Dollar ausländischer Investoren sollen hier gezielt eingesetzt werden. Leider wird dabei zu wenig berück­sichtigt, da die na­türlichen Ressourcen nicht grenzenlos ausgebeu­tet werden dürfen. Es mangelt noch immer an dem notwendigen Be­wußtsein.

Der derzeitige Optimismus der Regierung Alywin ist durchaus berechtigt. Die Militärdiktatur hat ein schweres Erbe hinterlas­sen. Aylwin muß nun das Kunst­stück vollbringen, den bestehenden wirtschaftlichen Aufschwung voranzutrei­ben und gleichzeitig spür­bare Verbesserungen im sozialen, politischen und öko­logischen Be­reich in Gang zu setzen. Nur so wird auf die Dauer das momentan vorherrschende positive Meinungsbild innerhalb der Bevölkerung weiterhin be­stehen bleiben können.

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