Demokratie auf dem Vormarsch
Eine segmentierte Gesellschaft.
Chile diente als bestes Beispiel einer Politik der “Sanierung” und Durchsetzung neuer konservativer kapitalistischer Strategien. Den Staat von seinen hohen Ausgaben, seiner kranken Wirtschaft, hohen Inflationsrate und seinen “viel zu hohen Lohnkosten” zu befreien war oberstes Ziel, eine neue Form von Akkumulation im Rahmen des freien Marktes zu ermöglichen. Das Land diente als Experimentierfeld. Die Diktatur strebte die Einführung eines reinen, ungebundenen Marktes an, frei von Protektionismus, Interventionismus, Etatismus und vor allem von jeglicher Behinderung durch politische Organisationen und Kompromisse, Privatisierung und Entpolitisierung der Gesellschaft wurden zu den Grundlagen dieser neoiliberalen Strategie. Auf diese Weise wird versucht, das Monopol von Macht und Politik für das Bürgertum zurückzugewinnen. Vereinzelung und Entpolitisierung bezwecken, das historisch gewachsene Kräftepotential der Arbeiterbewegung und der ärmsten Schichten der Gesellschaft zu zerstören. Durch Propaganda, Einschüchterungsmaßnahmen, neue Erziehungsmethoden, veränderte Arbeitsbedingungen und -verhältnisse wird ein extremer individualisierter Egoismus gefördert. Er wird zu einem neuen Grundwert dieser Gesellschaft, da nur seine Mechanismen letztendlich die Effektivität des notwendigen Konkurrenzverhaltens garantieren. Der Kampf ums Überleben wird zum Mittel jener Strategie, deren Ziel schließlich der absolute Sieg der Marktgesellschaft ist.
Die strukturellen Veränderungen sind heute spürbar in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die materielle Basis für die Arbeits- u. Lebensbedingungen der Arbeitnehmer änderte sich radikal. Die Beschäftigungsstruktur hat sich grundlegend gewandelt: Das Schrumpfen des Industriesektors und die Zunahme der Beschäftigung im Dienstleistungsbereich oder informellen Sektor ist hier von besonderer Bedeutung. Diese Neustrukturierung der Beschäftigunsverhältnisse hat auf die gesamte Gewerkschaftsbewegung negative Auswirkungen. Das neu praktizierte Wirtschaftskonzept fügte dem Industriesektor erheblichen Schaden zu, jenem Sektor, aus dem sich die Arbeiterschaft historisch entwickelt hatte. Hier konzentrierten sich gewerkschaftliche Kräfte, übten linke Parteien starken Einfluß aus. Mehr als 250.000 Arbeitsplätze gingen in diesem Bereich verloren, schätzungsweise 3.500 Betriebe mußten bis Ende 1984 Konkurs anmelden. Dies bedeutete empfindliche Verluste für die organisierte Arbeiterschaft. Folglich verringerte sich ihre Zahl erheblich. Somit verlor das strategische Gewicht der chilenischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung innerhalb der Gesellschaft an Bedeutung.
Doch 1984 setzt eine Neuentwicklung auf Grund einer Korrektur des Wirtschaftsmodells ein. Beschäftigungsstruktur und Mitgliedszahlen der Gewerkschaften verschieben sich: 1988 sind 46,4% aller Beschäftigten im produktiven Sektor tätig, davon allein 16,2% im Bereich der Industrieproduktion. Hier ist eine deutliche Erholung gegenüber den Vorjahren spürbar. Parallel dazu erhöhen sich die Mitgliedszahlen der Gewerkschaften.
Die Fragmentierung der chilenischen Arbeiterklasse besteht jedoch weiterhin. So sind z.B. Zeit -und Saisonarbeit (subcontratados, temporeros) mittlerweile auf dem chilenischen Arbeitsmarkt weit verbreitet. Ihr Anteil beträgt in bestimmten Industrien 50%, in der Landwirtschaft sogar 70%. Die Differenzen bestehen nicht nur in unterschiedlichen Arbeitsverträgen, sondern auch im Hinblick auf allgemeine Arbeitsbedingungen, Gesundheitsversorgung, Lohn -und Sozialversicherung sowie gewerkschaftliche Organisationsformen. “Trabajo precario” (Zeitarbeit) ist für einen Großteil der chilenischen Arbeitnehmer zu einem Dauerzustand geworden. Die damit einhergehende soziale Unsicherheit hat Auswirkungen für tausende chilenischer Familien.
Demokratie für eine Ein-Drittel-Gesellschaft?
Wie kann sich nun ein Demokratisierunsprozeß für Millionen von der Gesellschaft ausgeschlossene Chilenen gestalten? Die Armen machen sich besonders große Hoffnungen auf positive Änderungen. Nach den jüngsten Veröffentlichungen des Nationalen Statistischen Instituts (INE) gibt es in Chile nicht nur fünf Millionen Arme – wie immer behauptet wurde – sondern sieben Millionen. Das bedeutet, daß 60 % aller Chilenen unter bzw. am Rande des Existenzminimums leben. Vor allem in den letzten 10 Jahren entwickelte sich eine Umverteilung des Nationaleinkommens zugunsten der Reichen. 20% aller chilenischen Haushalte konsumieren heute mehr als die Hälfte des gesamten Nationaleinkommens. Der “moderne” Kapitalismus erreicht nur ein Drittel der Gesellschaft. Die ärmsten Haushalte können bspw. nur 3.000 Pesos monatlich für Brot ausgeben (1 US-$ = 300 Pesos), während die reichsten 7.000 Pesos monatlich zur Verfügung haben. Diese 3.000 Pesos bedeuten für die Ärmsten allein 18% ihres Gesamteinkommens, für die Reichsten lediglich 3%. Für Erziehung und Unterhalt haben die Ärmsten 300 Pesos monatlich zur Vefügung, die Wohlhabenden im Durchschnitt 21.000. Da in Chile viele Bereiche der Gesellschaft privatisiert wurden, kann ermessen werden, welche verheerenden Folgen die Umverteilungspolitik der Diktatur für breite Bevölkerungsschichten hatte und wie weitreichend dementsprechend die Aufgaben der neuen Regierung sind.
Erste Schritte der demokratischen Regierung
Seit nunmehr drei Monaten existiert in Chile wieder eine demokratische Regierung. Doch das Erbe der beinahe 17jährigen Militärdiktatur lastet schwer auf der neuen Regierung Aylwin. -Und dies in jeder Hinsicht, denn Macht und Spielraum dieser jungen Demokratie sind stark eingeschränkt. So dürfen beispielweise alte, pinochettreue Funktionäre nicht entlassen werden. Neueinstellungen sind nur geringfügig möglich. Pinochet bleibt verfassungsgemäß weiterhin Oberbefehlshaber der Streitkräfte, und auch die Kommunalverwaltung wird personell und organisatorisch nicht verändert. Bis Ende März hatte die Diktatur bereits den größten Teil des für 1990 geplanten Haushalts ausgegeben. Allein ein Viertel aller Sitze im Senat wurde durch das Militärregime im voraus vergeben. Auf diese Weise ist es für eine demokratische Regierung nur schwer möglich, notwendige Mehrheiten zu erlangen. Verhandlungen mit dem konservativen Lager, das ohnehin mit 43 % im Parlament vertreten ist, sind somit vorprogrammiert. Hinzu kommt, daß eine Vielzahl von Konflikten zwischen der neugewählten Regierung und den Streitkräften existieren.
Trotz all dieser Schwierigkeiten versucht die Regierung Aylwin, politisch zu handeln. Ein wichtiger Punkt ist die Gründung der “Comisión Nacional de Verdad y Reconciliación” (Nationale Kommission der Wahrheit und Versöhnung), die zur Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen unter der Militärdiktatur ins Leben gerufen wurde; denn der öffentliche Druck zur Aufklärung dieser Verbrechen wächst ständig. Die Kommission besteht aus acht prominenten Mitgliedern, unter anderem Jaime Castillo Velasco, Vositzender der Menschenrechtskommission, sowie José Zalaquet, ehemaliger Präsident von Amnesty International in London. Die Resonanz innerhalb der Bevölkerung Chiles ist groß. In den Reihen der Militärs und der neuen Opposition trifft die Arbeit dieser Kommission jedoch auf wenig Gegenliebe. Pinochet versuchte, die Gründung mit allen Mitteln zu verhindern. Offiziell, einen Tag vor der Gründung, bat Pinochet Aylwin um einen Gesprächstermin, um ihm in seiner Funktion als Oberbefehlshaber der Armee abzuraten. Aylwin verschob diesen Termin auf einen späteren Zeitpunkt. Daraufhin versuchte Pinochet, den Nationalen Sicherheitsrat – mit überwiegend militärischer Präsenz – aufzurufen, doch auch innerhalb der Streitkräfte stieß er auf Ablehnung. Zuletzt versuchte Pinochet, auch über eine öffentliche Erklärung des Heeres die genannten Maßnahmen zu kritisieren. Aus diesem Grund bestellte Aylwin in seiner Funktion als Präsident der Republik Pinochet zu sich, um eine Erklärung zu verlangen. Auf diese Erklärung des Heeres hin ließ die Regierung verlauten, es handele sich hier um eine politische Stellungnahme, wobei das Heer eindeutig seinen Kompetenzbereich übertreten habe. Letztendlich sei es allein Angelegenheit der Regierung, eine entsprechende Kommission zu gründen. Von den Militärs erwarte man vielmehr eine aktive Unterstützung der Regierungspolitik. Gleichzeitig forderte Aylwin Pinochet auf, einen genauen Bericht darüber abzugeben, wieweit die vor längerer Zeit angekündigte Auflösung des CNI bereits vorangeschritten sei; denn es existierten berechtigte Hinweise auf weitere Aktivitäten des ehemaligen Geheimdienstes. Drittens verlangte Aylwin konkrete Aufklärung über die Funktion eines Beratungsstabes um Pinochet, der nach Meinung der Regierung eine Art “Schattenkabinett” darstellt. Die Beziehungen zwischen Regierung und Heer bleiben weiterhin gespannt. Ziel der Regierung ist zunächst die Isolierung Pinochets, weiterhin auch, die gesamte Armee der Regierung zu unterstellen und die “alten Diktatoren” von den übrigen Streitkräften zu trennen. Ihr politischer Handlungsspielraum würde sich dadurch einschränken.
Bei der Umstrukturierung der Gesellschaft haben die Militärs eine ganz entscheidende Rolle gespielt. Viele von ihnen sind sogar auf dieses “historische Werk” stolz. Sie fühlen sich als die eigentlichen Herren des Landes. Ihre Präsenz innerhalb der Gesellschaft macht sich weiterhin bemerkbar. Ihre Reaktion angesichts des Fundes von Massengräbern in Pisagua zeigt dies deutlich. (Siehe Artikel in diesem Heft)
Wiederherstellung der politischen Spielregeln. Soziale Forderungen und Erwartungen.
Der Autoritarismus prägte nicht nur die Politische, sondern auch viele andere Bereiche sozialen Lebens in Chile. Er ist heute gesellschaftlich tief verwurzelt. Seine Demontage muß grundlegende Voraussetzung für den Wiederaufbau der Zivilgesellschaft und demokratischer Strukturen sein. Frühere historische Erfahrungen zeigen jedoch, daß ein solcher Prozeß stets schwierig ist.
Sozialwissenschaftler gehen davon aus, daß bestimmte institutionelle Reformen (bspw. die Reform der Arbeitsgesetzgebung) im weiteren Verlauf bestimmte Umstrukturierungen und neue Handlungsspielräume der Arbeitnehmer und Gewerkschaften ermöglichen. Zweifelsohne werden politische Reformen auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zugunsten der sozialen Akteure ändern, allerdings mit unterschiedlichen Auswirkungen, je nach konkreter Situation der verschiedenen Sektoren innerhalb ihres sozialen Umfeldes.
Betrachtet man die politischen Absichten und sozialen Programme der neuen demokratischen Regierung, besteht die Gefahr einer neuen, anderen gesellschaftlichen Polarisierung zwischen denjenigen sozialen Sektoren, die durch die Demokratisierungprozesse begünstigt sind (Mittelschichten; Teile der Arbeitnehmerschaft und bestimmte Segmente aller Marginalisierten) und dem auch weiterhin großen Teil der Bevölkerung, der immer noch ausgeschlossen sein wird. Hier werden sich möglicherweise recht unterschiedliche Gruppeninteressen bilden. Gerade an diesem Punkt wird die gegenwärtige extrem schwierige Herausforderung an die junge Demokratie Chiles deutlich.
Vertreter der Regierungsparteien (Concertación) behaupten, Priorität müsse die Wiederherstellung der demokratischen Spielregeln haben, um auf diese Weise gesellschaftliche Konflikte auf eine “zivilisierte” Art lösen zu helfen: Dies macht eine Politik des Konsenses notwendig, die jedoch ihrerseits auch wieder Opfer abverlangt, was jedoch nicht gesamtgesellschaftlich akzeptiert wird.
Die Arbeiter – wie auch andere unterpriviligierte soziale Schichten – stellen hohe Erwartungen an die neue Regierung. Entsprechende Forderungen werden daher nicht auf sich warten lassen und mit Sicherheit auch Auswirkungen auf gesellschaftliche Organisationsformen und politisches Handeln haben. Integrationsbestrebungen innerhalb bestimmter gewerkschaftlicher Sektoren werden deutlich werden, einhergehend mit Forderungen nach besserer Arbeitsplatzstabilität, höheren Löhnen, Mitbestimmungsrechten, beruflicher Qaulifikation und sozialen Aufstiegsmöglichkeiten. Andere werden hingegen ganz allgemein Arbeitsplätze, bessere Löhne, mehr soziale Gerechtigkeit und tiefere politische Reformen verlangen. Bei der Entwicklung der einen oder anderen Tendenz wird die Haltung von Unternehmenschaft und Regierung daher stets von großer Bedeutung sein.
Zum ersten Male, nach 16 Jahren Autoritarismus, gab es nun eine kleine Annährung zwischen der Arbeitnehmerorganisation CUT, den Arbeitgeberverband CPC und der Regierung. Bereits Ende Januar unterzeichneten die CUT und der Arbeitgeberverband eine Absichtserklärung hinsichtlich der Bildung von Kommissionen zur Frage von Tarifverhandlungen, Arbeitsverträgen etc. Anfang Mai wurde von der Regierung angekündigt die Mindestlöhne von 18.000 auf 26.000 Pesos und das Kindergeld von 550 auf 1.100 Pesos monatlich zu erhöhen. Dies waren erste kleine Ansätze auf dem langen Weg zu sozialen Reformen. Doch schon Ende Juni gab es keine Verständigung mehr zwischen CUT und Regierung im Bezug auf notwendige Reformen der arbeitgeberfreundlichen Arbeitsgesetzgebung. Die Unternehmerschaft ist nicht bereit, größere Konzessionen zu machen, die Rechte und Handlungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer und Gewerkschaften verstärken würden. Die Regierung dagegen ist sehr daran interessiert gute Beziehungen zur Unternehmerschaft aufzubauen. Man betrachtet eine solche Verbindung als fundamentale Grundlage notwendiger wirtschaftlicher Stabilität. Um Konflikte zu vermeiden, versucht die Regierung zwar, ihre Arbeitspolitik sowie konkrete Reformen der Arbeitsgesetzgebung in Verhandlungen mit den konservativen Parteien voranzutreiben, um auf diese Weise einen politischen Konsens im Parlament zu schaffen. Die CUT sieht in dieser Politik jedoch eine Gefahr: solche Reformen sind in ihrer Wirkung eher unbedeutend. Bei den jüngsten Unterredungen mit Vertretern der Regierung gab es diesmal keine Annährung. Arturo Martínez, Vize-Präsident der CUT äußert mit tiefer Besorgnis nach langen gescheiterten Verhandlungen mit der Regierung: “Wir befinden uns am Nullpunkt, weil es so aussieht, als sei die Regierung – vor allem das Ministerium für Arbeit – nicht an einer starken und soliden Gewerkschaftsbewegung interessiert.” Mit großer Enttäuschung wenden sich die CUT-Vertreter nun an die Parteien, um ihre Forderungen durchzusetzen. Doch auch hier herrscht eine Tendenz zur Konsenspolitik. Deshalb scheint es so, als reiche der momentan überhaupt machbare Minimalkonsens mit der Regierung doch nicht aus, um langfristig tiefere Konflikte zu verhindern. Dadurch wiederum vertiefen sich die Autonomiebestrebungen der chilenischen Gewerkschaftsbewegung. Diese Bestrebung werden vor allem durch zwei Faktoren beeinflußt: Spannungen zwischen Forderungen und Angeboten, sowie die Konsolidierung der sozialen Organisationen und die Schaffung einer neuen kulturellen Identität und eines neuen Bewußtseins.
Beteiligung und Selbstbestimmung.
Die Entwicklung gewerkschaftlicher Basisorganisationen sowie die Entstehung zahlreicher Selbsthilfeorganisationen sind Ausdruck eines starkes Bedürfnisses nach Beteiligung und Selbstbestimmung. Neben Stadtteilorganisationen handelt es sich auch um produktive Werkstätten, Gemeinschaftsküchen, Volksbäckerein, Einkaufsgenossenschaften, Gemüsengärten -und Hausbaukomitees, Gesundheitsgruppen usw. Ihre Zahl nimmt seit Beginn der 80er Jahre ständig zu. Im Jahr 1982 gab es im Raum Groß- Santiago 459 wirtschaftliche Basisorganisationen, 1988 schon 2.306. Etwa 200.000 Personen sind von diesen Selbshilfeorganisationen begünstigt, was ungefähr 15% aller Bewohner der Arbeiter- und Elendsviertel Santiagos entspricht. Bei ihrer Entstehung und Weiterentwicklung erhalten sie Unterstützung (Betreuung, Bildungsmaßnahmen, usw.) durch sogenannte nicht-staatliche Organisationen (ONGs), die ebensfalls während dieser Zeit entstanden. Die Selbsthilfeorganisationen bestehen heute in vielen Stadtteile (poblaciones), sind demokratisch organisiert und verfügen über kleine Handlungsspielräume auf lokaler Ebene, manchmal besitzen sie auch eine regionale Koordinierung. Ihr soziales und politisches Handeln könnte sich im Rahmen eines Demokratisierungsprozesses der Kommunen durchaus verstärken.
Alle diese sozialen Sektoren sind verständlicherweise viel stärker an der Mitgestaltung einer sozialen Demokratie mit Selbstbeteiligung interessiert als an der bloßen Änderung politischer Spielregeln. Dies wird in den Beschlüssen der Gewerkschaftsbewegung bei der Gründung des neuen Dachverbandes CUT und den gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit der demokratischen Regierung deutlich. Auch Frauenorganisationen sowie Indianerorganisationen fordern dies.
Am 5. Oktober 1988, als die Menschen in Chile den Sieg der Opposition kaum fassen konnten, gewann das Volk auch wieder stärkeres Selbstvertrauen. Im Dezember 1989 wurde dieses Selbstvertrauen noch verstärkt durch den Wahlsieg von Aylwin. Hier könnte sich eine neue Qualität kollektiven Selbstbewußtseins entwickeln. Schon während der Protestaktionen der Jahre 1983 bis 1986 artikulierte sich allmählich eine neue Form sozialen Bewußtseins, einhergehend mit neuen Formen einer oppositionellen Kultur sowie alternativen und autonomen gesellschaftlichen Formen. Es ist ein langer Weg, auf welchem auch der kleinste Freiraum wichtig ist. Diese kleinsten Freiräume müssen täglich neu geschaffen werden. Ihre Verschiedenartigkeit muß dabei respektiert werden. Die neue politische Stimmung, die heute unter dem Vormarsch der Demokratie herrscht, wirkt sich auch positiv auf diese Entwicklung aus.
Auf dem Weg zu neuer Stabilität?
Die Stimmung innerhalb des Regierungslagers – trotz erwähnter Schwierigkeiten – ist gekennzeichnet durch Optimismus. Nach den jüngsten Meinungsumfragen bestätigt sich diese Tendenz: die Popularität der Regierung stieg inzwischen von 55,2% auf 62,8%, während die Aylwins bereits die 70% – Marke überschritt. Entgegen allen Prognosen hat sich die Regierungskoalition bewährt. Es fand eine interne Umgruppierung statt, wonach sich unter anderem die sozialistischen Parteien mit der MAPU zur Partido Socialista zusammenschlossen. Parallel dazu hat sich die Erkenntnis gefestigt, das nur durch breite Mehrheiten eine stabile Politik möglich ist. In der Vergangenheit war Chile stets von Minderheiten regiert worden. Instabilität war die Folge. Man hat aus der Vergangenheit gelernt. Die ehemals strenge klassen- und schichtenspezifische Zuordnung der Parteien ist durchlässiger geworden. In der Folge bedeutet dies eine höhere Konsensbereitschaft, stärkere Kompromißfähigkeit, was allerdings nicht zwangsläufig immer den Interessen der sozial Benachteiligten entspricht. Andere, nicht an der Regierung beteiligten linken Parteien wie die Kommunisten, der MIR und die Christliche Linke, sind nach ihrer Wahlniederlage vom Dezember 1989 nicht fähig, eine alternative linke Politik anzubieten. Die Kommunisten führen vielmehr innerparteiliche Auseinandersetzungen um Fehlentscheidungen über ihre Politik der “Rebelión Popular” unter der Militärdiktatur. Außerdem sind sie allgemein durch die Krise des Sozialismus in Osteuropa stark betroffen. Überlegungen zur Neugruppierungen beschäftigen die anderen linken Parteien, die damals zu der instrumentellen Partei “PAIS” gehörten.
Die wirtschaftliche Entwicklung gestaltet sich bis heute positiv. 1989 war das BSP um 10% gestiegen. Künstliche Überhitzung trieb diese Rate in die Höhe. Inzwischen ist ein Normalisierungsprozeß eingetreten. Die Steigerung des BSP beläuft sich zur Zeit auf etwa 5%. Nach der tiefen Krise von 1982/83 erholte sich die chilenische Wirtschaft von Jahr zu Jahr. Es wird sogar behauptet, daß parallel dazu ein Reindustrialisierungsprozeß stattgefunden hat. Durch die Schaffung neuer Arbeitsplätze im produktiven Bereich ist die Zahl die Industriearbeiter gestiegen. Nach INE ist die Arbeitslosigkeit insgesamt zurückgegangen. Diese Angaben dürfen allerding nicht vorbehaltlos übernomen werden; denn bereits eine Person, die nur zwei Stunden pro Woche beschäftigt ist, gilt als nicht mehr arbeitslos. Ein entscheidender Schritt nach vorne muß jedoch darüber hinaus im sozialen Bereich liegen. Ohne tiefgreifende Reformen werden sich sozialen Mißstände nicht von allein verändern. Für die Regierung Aylwin ist das Festhalten an jener makroökonomischen Stabilität von lebenswichtiger Bedeutung. Die Regierung plant, die bestehende exportorientierte Wirtschaft in eine zweite Phase zu führen, indem hier verstärkt Investitionen getätigt werden sollen. Chile exportiert bis heute in der Regel nicht verarbeitete Produkte. Hier soll im Bereich der Verarbeitungsbranche ein Industrialisierungsprozeß in Gang gesetzt werden. Die gerade bewilligten 13 Milliarden US-Dollar ausländischer Investoren sollen hier gezielt eingesetzt werden. Leider wird dabei zu wenig berücksichtigt, da die natürlichen Ressourcen nicht grenzenlos ausgebeutet werden dürfen. Es mangelt noch immer an dem notwendigen Bewußtsein.
Der derzeitige Optimismus der Regierung Alywin ist durchaus berechtigt. Die Militärdiktatur hat ein schweres Erbe hinterlassen. Aylwin muß nun das Kunststück vollbringen, den bestehenden wirtschaftlichen Aufschwung voranzutreiben und gleichzeitig spürbare Verbesserungen im sozialen, politischen und ökologischen Bereich in Gang zu setzen. Nur so wird auf die Dauer das momentan vorherrschende positive Meinungsbild innerhalb der Bevölkerung weiterhin bestehen bleiben können.