Demokratie und Marktwirtschaft – real existierend
Zwischen Liberalismus und Sozialismus
Den verbissenen Liberalen war die Demokratie schon immer unheimlich. Demokratie bedeutet zunächst einmal Politik. Demokraten maßen sich an, in das freie Leben der Gesellschaft und vor allem der Wirtschaft politisch einzugreifen. Demokratie bedeutet weiter das Bemühen um kollektive Entscheidungen. Demokraten maßen sich an, sich über die freien Entscheidungen der Individuen und vor allem der Wirtschaftssubjekte gemeinsam hinwegzusetzen. Und schließlich bedeutet Demokratie eine Begünstigung der Mehrheit. Demokraten dulden oder begrüßen es gar, daß den Interessen der zahlenmäßigen Mehrheit mehr Rechnung getragen wird als der zahlungsfähigen Nachfrage.
Wo Demokratie überhaupt wirksam wird, greift sie in den freien Markt ein, setzt sie ihm Grenzen, reguliert sie ihn. Insofern erscheint eine funktionierende Demokratie den verbissenen Liberalen bereits als das Schlimmste, was sie sich vorstellen können: als Sozialismus. Die Militärputsche, die zwischen 1964 und 1976 in Südamerika die demokratischen Regierungen Brasiliens, Boliviens, Uruguays, Chiles und Argentiniens hinwegfegten, wurden deshalb von ihnen als antisozialistische “Befreiungsaktionen” begrüßt.
Nun steht Demokratie aber nicht umsonst unter dem Sozialismusverdacht. Was immer in den kapitalistischen Industriegesellschaften an sozialem Fortschritt und sozialer Gerechtigkeit gegen den Widerstand der Manchesterkapitalisten und anderer erreicht worden ist, konnte nur in dem Maße erkämpft und gesichert werden, wie gleichzeitig die Demokratie als politisches System erkämpft und gesichert wurde. Umverteilung zugunsten der zahlenmäßig starken, aber ökonomisch schwachen Schichten kann dauerhaft nur wirksam sein, wo anerkannt ist, daß die Mehrheit das Recht hat, in einem kollektiven Entscheidungsprozeß ihre Interessen durchzusetzen. Es ist daher auch nicht erstaunlich, daß die internationale Arbeiterbewegung Demokratie immer als eine Voraussetzung für Sozialismus und diesen als die Vollendung der Demokratie begriffen hat.
Der real existierende Sozialismus osteuropäischer Prägung hat diesen Anspruch, Vollendung der Demokratie zu sein, durchaus aufrechterhalten. Aber er hat die Beweisführung einfach umgedreht, um sich diesen Vorzug möglichst lange in die Tasche lügen zu können: Schon weil eine Entscheidung im vorgestellten Interesse oder auch nur im Namen einer strukturellen Mehrheit gefällt wurde, konnte sie nach dem dort geltenden Schema als sozialistisch und damit auch als demokratisch gelten. Schon weil das System den Kräften des Marktes keinen Raum ließ und alle Handlungen als bewußte politische Maßnahmen wertete und einem Plan unterordnete, glaubte es, den Anspruch auf Verwirklichung des Sozialismus und daraus dann auch noch den Anspruch auf Vollendung der Demokratie ableiten zu können. Es ist gerade diese Anmaßung, die bei der ersten Befragung des wirklich existierenden Volkswillens in den meisten Ländern Osteuropas zum Sturz des Systems geführt und die verheerende Diskreditierung des Begriffs Sozialismus offengelegt hat.
Marktwirtschaft – fast allenthalben
Spätestens seither hat sich das Generalthema der weltweiten politisch-ökonomischen Debatte gründlich verschoben. Statt eines Kampfes zwischen den extremen Polen eines Manchesterkapitalismus einerseits und einer alle Marktmechanismen ablehnenden Planwirtschaft gibt es, sieht man von Fidel Castros Kuba ab, nur noch die allgemeine Akzeptanz der Marktwirtschaft. Und noch mehr: Auch daß sie sozial und ökologisch orientiert sein muß, ist von Alaska bis Kamtschatka, von Spitzbergen bis Feuerland völlig unumstritten. Der Streit geht nur noch darum, was das denn nun im einzelnen heißen soll: sozial und ökologisch orientiert.
Diese Debatte ist auf merkwürdige Weise einförmig geworden. Als ob die Welt bereits eine einzige geworden sei, dreht sie sich in allen Ländern, ob reich, ob arm, ob stark, ob schwach, nur um die scheinbar überall gleiche Frage nach dem grundsätzlich richtigen Ausmaß der Regulierung oder Deregulierung. Dabei wird übersehen, daß in einem armen, unterentwickelten Land im Rahmen der Marktwirtschaft mit keinem Grad von Regulierung oder Deregulierung auch nur ein Bruchteil dessen erreicht werden kann, was etwa in der Bundesrepublik Deutschland an sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Vernunft im Prinzip durchsetzbar und finanzierbar wäre.
Es gibt eben nicht eine einzige, weltweite Marktwirtschaft, über deren soziale und ökologische Orientierung weltweit gestritten werden könnte, sondern es gibt viele verschiedene Marktwirtschaften, die mit den internationalen Märkten für Waren, Dienstleistungen, Kapital, Technologien und Arbeitskräfte in unterschiedlichem Ausmaß verbunden sind. Welche Marktwirtschaften sich von welchen internationalen Märkten abkoppeln dürfen – wie Westeuropa von den internationalen Märkten für Arbeitskräfte und für Agrarprodukte – und welche Marktwirtschaften von welchen internationalen Märkten ausgeschlossen werden – wie Osteuropa von bestimmten Technologien -, darüber entscheiden allein die Regierungen der reichsten Länder. Sie sind deshalb die einzigen, die innerhalb dieses halbfreien Weltmarktes noch über ein Minimum an Kontrolle über die Koordinaten der eigenen Marktwirtschaft verfügen und damit im Prinzip für eine soziale und ökologische Orientierung sorgen könnten.
In den lateinamerikanischen Ländern dagegen erleben wir die Marktwirtschaft, wie sie real existiert. Die für ein auch nur normales Funktionieren der inneren Marktkräfte erforderliche Kontrolle der äußeren Bedingungen ist den Regierungen unmöglich gemacht. Dem Fluchtkapital können keine Grenzen gesetzt werden, ihm sind die Tore der internationalen Banken weit geöffnet. Dagegen haben Arbeitslose keine Chance, als Wirtschaftsflüchtlinge im reichen Ausland Aufnahme zu finden. Um auch nur die Zinsen für die enormen Auslandsschulden bezahlen zu können, müssen unentwegt riesige Exportüberschüsse erzielt werden, während die reichen Länder gleichzeitig den Import bestimmter Produkte erschweren oder verwehren. Intensive Ausbeutung aller menschlichen und natürlichen Ressourcen, das Gegenteil also von sozialer und ökologischer Orientierung, werden zur Pflicht.
Jede auf Wachstum zielende wirtschaftspolitische Strategie hat zur Voraussetzung eine noch tiefere Verbeugung vor der Macht des in- und ausländischen Kapitals und einen Panzerschutz gegen das Aufkommen sozialer Gefühle. Und Wachstum ist nicht nur gefordert, weil man gern etwas umverteilen würde, sondern schon, weil die Zinsen zu bezahlen sind. Politik beschränkt sich auf die Einsicht in die Notwendigkeit des Sachzwangs.
Warum eigentlich Demokratie?
Seit langem ist die Abhängigkeit Lateinamerikas von den Zentren des Weltkapitalismus nicht so eindeutig und so sichtbar gewesen wie heute, aber noch nie wurde so wenig davon gesprochen. Die demokratisch gewählten Präsidenten und Regierungen des Subkontinents erheben den Anspruch und erwecken den Anschein unbezweifelbarer Souveränität – und beugen sich vor dem Sachzwang, freiwillig, aus Einsicht in die Notwendigkeit. Von Abhängigkeit zu sprechen gilt nicht mehr als fein.
Nun hat Demokratie ja eigentlich nicht die Funktion, den Sachzwang zu vollziehen, sondern dem Volkswillen Ausdruck zu verschaffen. Und wo der Sachzwang ganz eindeutig den unmittelbaren Interessen der großen Mehrheit entgegensteht, wäre eigentlich die große Revolte zu erwarten, die sich dann auch gegen eine als ungenügend oder betrügerisch empfundene Demokratie richten würde. Es fehlt auch nicht an Revolten. Die heftigen Unruhen in Caracas vom Februar 1989, die politischen Proteste in Mexiko nach den letzten Präsidentschaftswahlen, die Guerilla-Bewegungen in Peru oder die Streiks in Managua vom Juli 1990 sind Anzeichen einer großen sozialen und politischen Unzufriedenheit bei breiten Bevölkerungsschichten. Aber sie verdecken nicht den anhaltenden Trend eines breiten Siegeszugs der Demokratisierung in (fast) ganz Lateinamerika. In einem Kontinent, in dem vor zehn Jahren Generäle in den meisten Ländern das unbeschränkte Sagen hatten, vergeht heute kaum ein Monat, in dem nicht irgendwo das Volk zur Wahlurne gerufen wird. Wer hat daran ein Interesse?
Die Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler, die sich mit den Demokratisierungsprozessen in Lateinamerika beschäftigt haben, haben sich in der Regel auf die Logik der inneren Entwicklung der Militärdiktaturen konzentriert und aus dem sich kumulierenden Legitimationsdefizit die geradezu zwangsläufig sich ergebenden Demokratisierungstendenzen erklärt. Auf diese Art sind viele kluge und differenzierende Analysen entstanden, über denen aber die historisch-soziale Bedeutung der Militärdiktaturen nicht verloren gehen darf: Zwischen den Demokratien vorher und hinterher klafft ein himmelweiter Unterschied.
Die lateinamerikanischen Demokratien, die in den sechziger Jahren mit der Hilfe ausländischen Kapitals die Strategie der importsubstituierenden Industrialisierung verfolgten und dann Anfang der siebziger Jahre zusammen mit anderen Ländern der Dritten Welt für die Schaffung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung eintraten, haben sich unter dem Druck der Wählerinnen und Wähler bemühen müssen, ihrer Marktwirtschaft eine soziale Orientierung zu geben – von ökologischer Orientierung sprach damals noch niemand. Die sozialisierenden Tendenzen der Demokratien bedrohten die freie Bewegung des Kapitals.
Die historisch-soziale Bedeutung der Militärdiktaturen – mit der Ausnahme der peruanischen von Velasco Alvarado 1968-1975 – bestand unter diesen Umständen in der Herstellung der vollen Bewegungsfreiheit des Kapitals, einer völligen oder doch – im Fall Brasilien – weitgehenden Integration in den Weltmarkt und der Ausrottung aller sozialisierenden Tendenzen. Diese liberale Revolution, die zweifellos in Chile am gründlichsten betrieben wurde, aber in den anderen Diktaturen kaum weniger effektiv funktioniert hat, hat zum Ergebnis gehabt, daß die neu erstandenen Demokratien auf einer völlig neuen Basis operieren, gewissermaßen auf einer tabula rasa. Die heute real existierende Demokratie basiert auf der nackten Marktwirtschaft. Wo der Sachzwang dieser real existierenden Marktwirtschaft regiert, bedarf es der Militärs nicht mehr.
Das hindert nun nicht, daß der Volkswille etwas anderes fordert: Die Präsidentschaftskandidaten Menem in Argentinien, Aylwin in Chile oder Fujimori in Peru haben sich in der letzten Zeit mit der Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit eindeutig gegen neoliberale Rivalen durchgesetzt, die die herrschende Ungleichheit auch noch zum Programm erhoben haben. Wenn man aber auch nur ihre ersten Maßnahmen und Ankündigungen analysiert, wird deutlich, mit welcher Konsequenz sie sich dem Sachzwang der Marktgesetze gebeugt haben. Ihre wirtschaftspolitischen Berater waren früher in der Regel die schärfsten Kritiker der neoliberalen Politik der Militärs. Heute dagegen warnen sie gelegentlich schon vor demagogischen Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit wegen der damit verbundenen Gefahren für die frisch errungene Demokratie.
Und dennoch gibt es bei den Massen der Bevölkerung nur wenig wirklichen Überdruß. Sie wissen, daßie einzige reale Alternative die Diktatur ist, von der sie keine Verbesserungen ihrer wirtschaftlichen Situation, wohl aber politische Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen erwarten können. Und manche mögen immer noch hoffen, daß die innere Logik der Demokratie doch noch zu sozialer Gerechtigkeit oder zum Sozialismus führt.