Kolumbien | Nummer 562 – April 2021

DER KRIEG GEHT WEITER: EIN DORF HAT ANGST

Eine alltagsnahe Geschichte über den bewaffneten Konflikt in Kolumbien im Jahr 2021

Politische Entscheidungen wirken oft abstrakt. In Kolumbien wird erst in den Geschichten der Menschen verstehbar, was die kriegsfördernde Politik der Regierung für all jene, die nicht über genügend Ressourcen verfügen, sich der Gewalt weitestgehend zu entziehen, bedeutet. Aber darüber zu sprechen ist gefährlich – tödlich. Deswegen erzählt dieser Text reale Ereignisse der vergangenen zwei Monate in einem kolumbianischen Dorf – allerdings unter gänzlich geänderten Namen von Personen und Orten. Stellen wir uns also vor, dieses Dorf hieße Las Cruces, und die Menschen, die von ihrer Situation berichten, hießen Felipe, Laura und Juliana.

Von Fabian Grieger

„Limpieza social“ Soziale Säuberung mit rabiaten Methoden (Illustrationen: Katherine Rodríguez)

Es ist Montag. Heute ist ein freundlicher Tag in Las Cruces. Bewölkt, natürlich, aber es sind helle Wolken und geregnet hat es auch noch nicht. Und dann sind da diese Möwen, die rastlos über das Dorf kreisen; obwohl hier ja gar kein Meer in der Nähe ist. Stattdessen ist das Dorf umgeben von Bergen, grünen Hügeln, auf denen die Kreuze bedrohlich thronen, denn eines ist Las Cruces bis ins tiefste Mark: katholisch.

Ein Kreuz hängt auch um den Hals von Felipe. Es baumelt hin und her, als er mit dem Fahrrad um die Ecke gedüst kommt und dann so stark bremst, dass die Hinterräder zur Seite driften. Freudige Begrüßungsumarmung: „Wow Felipe, seit wann bist du wieder hier?“ „Seit gestern. Und schon habe ich einen Job: Ich bin als Reporter auf der Straße unterwegs, für Telecruces, hab heute schon Visitenkarten verteilt; bei der Feuerwehr, der Stadtverwaltung, der Frau vom Kiosk: Ruft mich an, wenn was ist, dann komme ich mit der Kamera.“ Während er das erzählt, formt Felipe mit seiner Hand einen Hörer und hält die Hand ans Ohr. Felipe strahlt, er wirkt auch nicht mehr ganz so dünn wie früher.

„Aber sag mal Felipe, bist du sicher, dass du wieder hier in Las Cruces sein kannst?“ Die Augen unter seinem Käppi schauen nun etwas nachdenklicher. „Ja, das geht schon. Ich hab vorher in Medellín mit dem Priester geredet und er hat gesagt, dass Gott mich begleitet und ich zurückkommen kann.“

Die Flecken in seinem Gesicht sind noch da. Sie verraten, dass er früher Drogen genommen hat. Vielleicht nimmt er sie auch immer noch; aber er sagt, dass er es nicht mehr tut. Das meiste war billiges Gras, aber nicht nur.

Felipe ist nach wie vor jung, 20 Jahre alt. Aber als er noch viel jünger war, da konsumierte er erst Drogen und weil er und seine Familie immer Geldprobleme haben, verkaufte er sie auch. Auf der Straße im Dorf. Oft auf der Partymeile, wo düstere Diskotheken sind, die eher nach zwielichtiger Großstadt aussehen als nach einem Dorf, umgeben von grünen Bergen, wo Kaffee angebaut wird. Das Verkaufen lief gut. Er nahm viel Geld ein, auch weil seine Freund*innen gute Kund*innen waren. Denjenigen, die das Sagen über das Gras und das Koks in Las Cruces haben, gefiel das. Der Junge schien zuverlässig zu sein. So sehr, dass er auch komplexere Aufgaben übernehmen könnte. Schon bald holte er einen Koffer am Rande des Dorfes ab und brachte ihn im öffentlichen Bus nach Medellín und übergab ihn an den dortigen Händler. Im Koffer: Groß- und kleinkalibrige Waffen; je nach Gebrauch. Ob für die oft minderjährigen Auftragsmörder in den Vierteln Medellíns oder die illegalen Gruppen in den Bergen und Wäldern des ländlichen Kolumbiens. Felipe wurde nie erwischt und er verdiente gutes Geld; konnte seinen Freunden einen ausgeben und für sich sorgen. Ausgerechnet er, an den sie eigentlich nicht geglaubt hatten.

Dann kommt ein Anruf, Nummer unbekannt, aber die Stimme erkennt Felipe. Es ist „der Alte“, wie sie ihn nennen. „Der Alte“ ist nicht aus Las Cruces. Er ist Chef einer der größten paramilitärischen Organisationen im Norden Kolumbiens; aber seine Fühler reichen weit hinein in die Dörfer des Landes. Er sagt, er habe einen besonderen Auftrag für Felipe. In Las Cruces und dem Nachbardorf sei er der Mann für die „limpieza social“, die „soziale Säuberung“. Das heißt: Er soll als Auftragsmörder alle die umbringen, die den Paramilitärs ein Dorn im Auge sind: Junkies, die ihre Schulden nicht bezahlen, Drogenverkäufer*innen, die Geld abzweigen, Verräter*innen, Dieb*innen, Aktivist*innen, die sich gegen die Gewalt im Dorf einsetzen, Schwule, Obdachlose …

Felipe will keine Waffe in die Hand nehmen. Er will raus aus dem Ganzen. Aber das geht nicht so einfach. Er erzählt es einer Freundin. Die kennt jemanden, der bei der UNO arbeitet. Zwei Anrufe später landet Felipe in einem Schutzprogramm. Geheime Evakuierung aus dem Dorf, Unterbringung in einem schicken Hotel in Medellín, Kontaktierung von Verwandten in der Großstadt – eine Woche lang. Danach: Nichts. Keine psychologische Unterstützung, keine ökonomische Unterstützung. Der 16-Jährige hat die Schule noch nicht beendet.

Fast zwei Jahre versucht er es mit der Schule in Medellín. Aber er schafft den Anschluss nicht. Also arbeiten. Wurstverkäufer auf der Straße, dann Burger. Arbeiten und trotzdem nicht genug zum Essen haben.

Es ist die Zeit, in der er sich Gott annähert – oder andersherum. Als dieser ihm sagt, dass er nach Las Cruces zurückkehren kann, da zögert er nicht lange. Dort findet er Arbeit, dort sind seine Eltern und seine Freund*innen und dort zieht nun auch seine neue Freundin hin, die schwanger ist. Aber dort, in Las Cruces, stehen auch immer noch die Männer an den Straßenecken, die alles und jeden im Blick haben. Sie haben seine Ankunft längst registriert und sie wissen, dass er viel weiß. Er kennt Mittelsmänner, Schmuggelrouten, Befehlsketten.

Felipe ist anerkannt als schutzbedürftige Person. Ob er sich nicht bei der Polizei melden sollte, damit sie seinen Schutz gewährleistet? „Das wäre das Schlimmste“, sagt Felipe. „Das sind noch dieselben Polizist*innen wie früher und die stecken mit den Paramilitärs unter einer Decke.“

Es ist Mittwoch, der Tag an dem sich die Bars und Cafés gegen Abend schon etwas füllen. In Las Cruces gibt es eine Bar, die hip ist, so als könnte sie in einem der angesagtesten Viertel der Großstadt beheimatet sein. Tische aus Holz, Craft Beer und Cocktails mit kreativen Namen und so. So richtig lecker schmecken auch die Milchshakes, jeder Schluck fühlt sich so an, als würde man sich 100 Kilometer wegbewegen von der Realität da draußen vor der Tür. Zumindest so lange, bis Laura anfing zu erzählen, wie die Dinge gerade laufen im Dorf. Laura ist so etwas wie das personifizierte Nachrichtenportal von Las Cruces. Was auch immer sich tut im Dorf, sie weiß Bescheid.

„Also es gibt zwei Gruppen, die den Drogenhandel in Las Cruces kontrollieren und die beiden bekämpfen sich. Aber eine hat eigentlich am meisten Macht und das ist die Gruppe von Angélica Morales. Das ist die Frau, die eine der wertvollsten Minen in der Region besitzt.“

In der Nähe von Las Cruces schlängelt sich ein großer Fluss durch die Berge, der bedeutende Mengen an Gold befördert. Schon immer war der Goldbergbau eine der Haupteinnahmequellen der Bevölkerung von Las Cruces; und meistens hatte er auch seine Schattenseiten. Heute finanziert der illegale Goldbergbau die Waffen der illegalen Gruppen.

„Angélica Morales bewegt sich hier im Dorf nur mit mindestens fünf Leibwächtern. Sie ist super eng mit dem Bürgermeister, der ja hier alles tut, um den Goldbergbau zu fördern, egal ob dabei die Umwelt kaputt geht. Sie hat in jüngster Zeit drei der größten Häuser des Dorfes gekauft und das Hotel Buenavista. Die Frau hat Geld ohne Ende.“

Aber sie hat auch Feinde. Einen davon, einen Jugendlichen, ließ sie am 31. Dezember, als das ganze Dorf sich ins neue Jahr hineintrank, vor aller Augen erschießen. Das sorgte für Unruhe, ja auch für Empörung. Also setzten sich die Dorfpolizei und die Sonderermittlungseinheit DIJIN mit den beiden Para-Gruppen des Dorfes zusammen und schlossen den Pakt, dass sie sich fortan unauffälliger verhalten und keine Menschen mitten im Dorf töten würden.

Zwei Monate später vermisste eine Mutter ihren Sohn schon seit mehreren Tagen. Sie machte sich große Sorgen und beschloss eine öffentliche Suchaktion zu starten. Sie trat im Fernsehen auf, bat um Hilfe, hängte Vermisstenzettel im ganzen Dorf auf und ging zu den Chefs der beiden Para-Gruppen in Las Cruces. Doch beide erklärten, dass sie nichts von ihrem Sohn wüssten. „Wenn wir ihn umgebracht hätten, dann hätten wir das hier mitten im Dorf gemacht“, erklärte einer von beiden.

Doch dann meldete sich ein Kioskbesitzer bei der Mutter, der den Jungen auf den Aufzeichnungen seiner Videokamera entdeckt hatte. Dort am Straßenende, wo Las Cruces aufhört und in einen Wald übergeht, sah man ihn auf dem Video, wie er etwas verwirrt etwas suchte, vielleicht waren es Drogen; der Junge war abhängig. Dann taucht ein zweiter Mann auf und läuft mit dem Jungen aus der Kamera, in Richtung der Finca La Estacada. Etwa zwei Stunden später läuft der zweite Mann erneut durch die Kamera zurück in Richtung Dorf, ohne den Jungen. Diesen Hinweisen folgend machte sich die Polizei auf die Suche nach dem Jungen auf der Finca und fand dort nur die Knochen eines toten Pferdes.

„Aber viele sagen, dass sie den Jungen beim Pferd begraben haben, um ihn dort verschwinden zu lassen“, flüstert Laura. Kurz darauf wurde der Kioskbesitzer, der den Hinweis gegeben hatte, von Unbekannten bedroht und dazu gezwungen, die Videokameras abzunehmen.

Die Zettel mit dem Foto des Jungen hängen noch immer an den Laternen.

„Und wisst ihr, was jetzt passiert ist?“, setzt Laura zur nächsten Neuigkeit an. „Angélica Morales war auch schon länger im Streit mit einem Minenbesitzer von der anderen Seite des Flusses. Jahrelang hatte jede*r seinen beziehungsweise ihren eigenen Bereich, aber dann wollte Angélica Morales mehr haben und ließ den anderen Minenbesitzer umbringen. Nun war der aber ein Verbündeter der ELN, der Guerilla. Und jetzt hat die Guerilla letzte Woche drei große Bergbau-Maschinen von Angélica Morales verbrannt, von der jede 250.000 Euro kostet.“

Außerdem musste Angélica Morales aus Las Cruces flüchten. Ihre Söldner halten noch die Stellung, aber im Dorf rumort die Angst, dass ohne die Chefin bald neue Gewalt um die Vorherrschaft ausbricht – oder dass Angélica Morales mit noch mehr Waffen und Brutalität zurückkehrt.

Es ist Freitagabend und auf einem der Hügel mit Blick auf das Dorf umarmt die Nacht die gelblichen Lichter der Häuser. Irgendwie ist es auch die Zeit, um Tränen fließen zu lassen. Aber vorher fragt Juliana: „Ist es okay, wenn ich kurz etwas Persönliches erzähle?“ Dann kullert eine Träne über die Wange. „Was ist denn passiert, Juliana?“

„Meine Therapeutin will mich wieder für mehrere Monate in die Geschlossene schicken.“ Eine kurze Pause, dann fährt sie fort: „Dabei weiß ich ganz genau, was mit mir passiert. Ich mache mir einfach riesige Sorgen um Isabel. Du kennst die doch, oder?“ „Na klar, Isabel, also noch von damals, als sie in der Theatergruppe mitgemacht hat.“ „Ja genau, sie hat auch gerne gesungen und war eines der aufgewecktesten Mädchen. Wir sind zusammen aufgewachsen, sie war wie eine Schwester für mich und dann ist sie vor einem Jahr zu ihrer Tante nach Siracó gezogen.“ Dort kamen immer wieder bewaffnete Gruppen ins Dorf und eines Tages hat eine Gruppe sie gezwungen, mit ihnen zu gehen. „Sie durfte noch nicht einmal ihren Ausweis mitnehmen.“ Das Ganze geschah vor den Augen des kleinen Bruders, der seiner großen Schwester nicht helfen konnte und dann die Nachricht der Mutter überbringen musste.

Tränen, Schmerz, Ungläubigkeit über das Geschehene. Von einem Moment auf den anderen ändert sich das Leben komplett. Sie fehlt.

„Und dann rief einen Tag später jemand von der Gruppe die Mutter an und sagte, sie solle zu ihrer eigenen Sicherheit das Dorf verlassen, weil sonst die verfeindeten Gruppen Rache an ihr nehmen könnten, da ihre Tochter ja jetzt Teil der Gruppe sei.“ Erst wird der Mutter die 19-jährige Tochter genommen, dann ihre Finca; ihre Tiere und die Erde, die sie ernähren.

Von Isabel erhalten sie lange Monate kein Lebenszeichen. Dann eines Tages ruft sie ihre Mutter von einer unbekannten Nummer an. Ihre Stimme zittert. Sie erzählt, dass sie einen Compañero von ihr im Kampf umgebracht haben und sie sich sein Handy nehmen konnte. Isabel erzählt auch, dass sie ihr in der Gruppe einen neuen Namen gegeben haben und ihr jeglicher Kontakt zur Familie verboten wurde. Isabel will fliehen. Wenn das jemand aus der Gruppe mitbekommt, erschießen sie sie. Und wenn nach der Flucht die Polizei oder das Militär sie findet? „Dann stecken sie sie für viele Jahre in den Knast, weil sie in einer illegalen Gruppe war“, holt Juliana einen von vielen grausamen Gedanken hervor.

Da ist sie nun, die Familie, und sie weiß nicht, wie ihre Tochter zu ihr zurückkehren kann. „Und jetzt sitze ich hier und werde verrückt, weil ich den Klingelton von meinem Handy lautgestellt habe, weil ich jeden Moment auf den Anruf warte, dass Isabel gestorben ist. Und meine Psychologin will mich deswegen wieder in die geschlossene Anstalt schicken, so dass ich meine zwei Kinder nicht mehr sehen kann.“

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