Nicaragua | Nummer 377 - November 2005

Der Pfahl im Herzen

Ein Kommentar des nicaraguanischen Intellektuellen Sergio Ramírez zu den bevorstehenden Wahlen

Sergio Ramírez

Ich weiß nicht, ob sich Somoza um Wahlumfragen geschert hätte, zu seiner Zeit gab es sie ohnehin nicht. Ich stelle mir aber vor, was er wohl gesagt hätte, wäre er mit den Ergebnissen einer Popularitätsumfrage konfrontiert worden, wobei die öffentliche Meinung sicherlich kein gutes Haar an ihm gelassen hätte: „Ich glaube nicht an diese Umfrageergebnisse, die sind von meinen Gegnern in Auftrag gegeben worden.” Und vielleicht hätte er auch gesagt: „Bei den Wahlen zählen die Ergebnisse, nicht bei den Umfragen, und bei den Wahlen werden wir sehen, wer gewinnt!” Das hätte er natürlich in der Sicherheit gesagt, zu wissen, dass seine treuen Untergebenen es waren, welche die Stimmauszählung vornahmen, und er so der sichere Sieger sein würde.
Der alte Somoza hatte einen treuen Gefolgsmann: Dr. Modesto Salmerón, Rechtsanwalt und Notar, der unter anderem für die Stimmauszählung bei den Wahlen zuständig war. Wenn einmal die Urnen verschlossen waren, rief er Somoza an, um ihn zu fragen, wie viele Stimmen er gerne haben würde. Während einer Woche waren die Wahlurnen dann im Keller des Nationalpalastes, bis Dr. Salmerón dann den Verlierer zum Sieger erklärte.
Warum erzähle ich diese alte Geschichte? Weil jene Politiker, die im Nicaragua von heute in den Wahlumfragen ganz unten erscheinen, öffentlich kund tun, dass sie nur so schlecht abschneiden, weil die Umfrageinstitute bewusst lügen. Der „Comandante” Daniel Ortega zum Beispiel ist einer jener Ungläubigen. Und das, obwohl alle Umfragen darin übereinstimmen, dass Ortegas Ansehen in der Bevölkerung auf einem absoluten Tiefpunkt ist.
Am meisten verachten die Bürger den Pakt, den Daniel mit Dr. Arnoldo Alemán abgeschlossen hat. Auch dieser liegt in den Umfragen im absoluten Hinterfeld, da sind die beiden „Leidensgenossen”. Das Problem Nicaraguas ist, dass eben diese beiden die Macht im Land kontrollieren: die Abgeordneten der Nationalversammlung, das Justizsystem, den Rechnungshof und vor allem den Obersten Wahlrat, der auch die Wählerstimmen auszählen wird.
Keiner der beiden „Caudillos” ist bereit, zu akzeptieren, dass sie in der Bevölkerung keinen Rückhalt mehr haben. Beide würden die Präsidentschaftswahlen haushoch verlieren, und nicht nur das: sie würden auch jegliche Mehrheit im Parlament verlieren. Das große Risiko ist demnach ein erneuter Wahlbetrug, ganz im Stile des „seligen” Dr. Salmerón.
Wenn die Umfragen für nichts gut sind, wie die beiden uns glauben machen wollen, dann haben sie ja die besten Chancen, die Wahlen zu gewinnen. Dazu müssten sie sich zuerst der anderen Präsidentschaftskandidaten entledigen. Die nämlich verfügen über ausreichende Zustimmung unter der Bevölkerung: Herty Lewites, Dissident der FSLN Daniel Ortegas, und Eduardo Montealegre, Dissident der Liberalen Partei Arnoldo Alemans. Die Art und Weise, wie man die beiden verhindern könnte – so wie das schon angekündigt wurde – ist, ihre Zulassung zu den Wahlen mittels eines Richterspruches des Obersten Wahlrates einfach zu verbieten. Irgendein juristischer Grund wird sich sicherlich finden lassen, und wenn nicht, dann wird er einfach erfunden, wie das in Nicaragua schon so oft geschehen ist. Denn wenn der elektrische Strom auch ständig fehlt, und wenn Managua auch ständig durch die Streiks der TransportunternehmerInnen lahm gelegt wird, so funktioniert die Fabrik der Richtersprüche dennoch immer ganz perfekt.
Die Menschen wollen keinen Pakt und sie unterstützen die Kandidaten, die sich gegen das Übel auflehnen. Wenn wir den Umfragen Glauben schenken, dann vereinen Lewites und Montealegre mehr als 70 Prozent der Wählergunst auf sich. Beide hätten die nötige Mehrheit in der Nationalversammlung, um die Verfassung zu ändern und den Pakt abzuschaffen.
Die einzige Form, um das Gespenst des Dr. Salmerón bei den kommenden Wahlen im November 2006 zu bannen, sind saubere und echte Wahlen. Seriöse Wahlen, die von außen und von innen überwacht werden. Ortega und Alemán, die die Wahlen ausschließlich für sich selbst planen, kann nichts Schlimmeres geschehen, als wenn diese Wahlen keine Legitimität haben und weder von den BürgerInnen noch international anerkannt werden.
Aus diesem Grund brauchen wir dutzende Wahlbeobachter, nein, besser hunderte, die in Nicaragua und auch außerhalb Nicaraguas diese Wahlen beobachten, aber nicht nur am Wahltag, sondern ab sofort. Die Wahlbeobachter müssen die bereits jetzt geplante Verhinderung von Lewites und Montealegre aufzeigen, sie müssen mit einer Lupe die Ausstellung der Personaldokumente, die für die Teilnahme an der Wahl von allen Nicaraguanern benötigt werden, überwachen, sie müssen die Erstellung des Wählerverzeichnisses verfolgen, sie müssen die gleichen Rechte aller an den Wahlen teilnehmenden Parteien garantieren, und zwar bis zur Wahlurne im kleinsten Dorf Nicaraguas. Nebenbei müssen sie die gerechte Verteilung der staatlichen Mittel für alle Parteien kontrollieren, sie müssen den Druck und die Verteilung der Stimmzettel minutiös verfolgen, und es müssen zur offiziellen Wahlauszählung parallele Auszählungsmodi geschaffen werden.
Niemand soll mir sagen, dass die massive Präsenz von internationalen Wahlbeobachtern eine Verletzung der Eigenständigkeit Nicaraguas sei. Wir hatten bei den Wahlen 1990 unzählige Wahlbeobachter, welche von der damaligen sandinistischen Regierung ins Land gerufen wurden, um den erwarteten sandinistischen Triumph zu bestätigen, und wir akzeptierten es, als sie unsere Niederlage bekannt gaben.
Aus diesem Grund rufe ich alle auf, Nicaragua nicht alleine zu lassen, wenn sich mein Land der Vergewaltigung der Demokratie durch die beiden „Caudillos” entziehen will. Kommt! Lasst den Dr. Salmerón nicht aus seinem Sarg auferstehen! Wir müssen dem Pakt einen Pfahl mitten ins Herz treiben!

Übersetzung: Günther Pilz

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren