Der Richter und die Henker
Der spanische Untersuchungsrichter Baltasar Garzón erläßt internationalen Haftbefehl gegen 98 Verantwortliche der argentinischen Militärdiktatur
Wir haben die Kolonisation und die Evangelisierung unseres Landes durch Spanien erduldet. Aber die neuerliche juristische Kolonisation werden wir nicht akzeptieren.“ So lautete die erste Reaktion des argentinischen Noch-Präsidenten Carlos Menem am 2. November. Wenige Stunden zuvor war bekannt geworden, daß der Untersuchungsrichter Baltasar Garzón in Madrid internationalen Haftbefehl gegen 98 Mitglieder der Militärdiktatur von 1976–83 erlassen hat. Freunde waren sie noch nie, der Richter und der Präsident. Menem bezeichnete seinen Gegner stets als „publicitygeile Diva“, Garzón hielt sich mit öffentlichen Äußerungen zurück. Erst voriges Jahr erließ Menem ein Dekret, demzufolge niemand auf Vorladungen oder Fragestellungen des Spaniers reagieren muß. Wohlwissend, was auf ihn und das Militär zukommen könnte.
Hoffnung auf den neuen Präsidenten
Der Zeitpunkt des 2. November ist offenbar kein Zufall. Wenige Tage zuvor wurde Fernando de la Rúa von der Radikalen Bürgerunion (UCR) zum neuen Präsidenten gewählt. Seine Amtseinführung findet am 10. Dezember statt. Niemand ist sich derzeit sicher, wie der designierte Präsident mit der neuerlichen Wendung umgehen wird. Am wenigsten offenbar Menem: „Wir werden dieses Problem vor dem 10. Dezember lösen“, beeilte er sich zu beteuern. Das ist fragwürdig, da der argentinischen Staatskanzlei bisher weder der internationale Haftbefehl noch ein Auslieferungsgesuch vorliegt. Menem kann deshalb nicht viel tun – wahrscheinlich ein Teil von Garzóns Kalkül. Denn wenn ein Auslieferungsgesuch vor dem Amtsbeginn der neuen Regierung eingereicht würde, so fiele es Menem leicht, dieses mit Hilfe seines Dekretes von 1998 zu blockieren. Zunächst setzt Garzón kurz nach der Wahl nur ein Zeichen. Zu einer Verhaftung der 98 Militärs wird es hingegen nicht kommen, solange sie Argentinien nicht verlassen. Außerhalb der Landesgrenzen freilich droht ihnen dasselbe Schicksal wie Chiles Ex-Diktator Augusto Pinochet.
Menschenrechtsorganisationen und Angehörige der etwa 30.000 Verschwundenen bauen auf De la Rúa. „Wir vertrauen darauf, daß die neue Regierung eine wirkliche Veränderung gegenüber der alten darstellt“, sagte Carlos Slepoy, Vorsitzender der argentinischen Vereinigung für Menschenrechte (ADHA). De la Rúa kündigte einerseits an, das Verfahren der Justiz zu überlassen. Andererseits erklärte er: „Die Einmischung des Auslandes ist nicht gerechtfertigt, wenn die argentinische Justiz im Rahmen ihrer Souveränität und ihrer eigenen Gesetze ermittelt.“ Er spricht damit die Probleme an, die auch Garzón schwer im Magen liegen dürften.
Juristische Komplikationen
Zum einen wurden viele der 98 Verantwortlichen, um die es jetzt geht, schon 1985 zu teilweise lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt. Die meisten befinden sich freilich auf Grund einer Amnestie von 1990 auf freiem Fuß. Doch darf nach dem juristischen Grundsatz „ne bis in idem“ niemand ein zweites Mal für dasselbe Verbrechen belangt werden. Garzón wird also andere Anklagepunkte als die von 1985 verhandeln müssen. Das trifft allerdings nicht auf die unteren Ränge zu: Das Schlußpunktgesetz und das sogenannte Gesetz zum Befehlsnotstand von 1989 machen eine Verurteilung der subalternen Militärs bis heute unmöglich.
Zum anderen laufen derzeit Verfahren in Argentinien, bei denen es um die Entführung und die spätere Adoption oder den Verkauf der Kinder inhaftierter und dann ermordeter Frauen geht. Von der Amnestie ausgenommen war das Delikt der Kindesentführung. Auf der Anklagebank sitzen deswegen die bekanntesten Verantwortlichen der Diktatur: Jorge Videla und Emilio Eduardo Massera (vgl. LN 295). Sie werden, solange das Verfahren läuft, auf keinen Fall ausgeliefert werden. Zudem hilft das Verfahren zur Untermauerung der Argumentation, daß die argentinische Justiz selbst stark genug sei, um Verbrecher der Militärdiktatur hinter Gitter zu bringen.
Vermeintlicher Kronzeuge
Außerdem hatGarzón einen wichtigen Zeugen verloren. Adolfo Scilingo, ehemaliger Kapitän der Kriegsflotte, nahm alle seine vorherigen Aussagen zurück.
Im Oktober 1997 war er nach Madrid gereist und hatte erklärt, persönlich an den Flügen teilgenommen zu haben, bei denen Oppositionelle in den Río de la Plata geworfen wurden. „Aus Respekt vor den Opfern und damit so etwas nie wieder stattfindet“, habe er damals insbesondere gegen Emilio Massera ausgesagt. Offenbar hatte er eine Kronzeugenregelung im Sinn, mit der er seine eigene Weste weißwaschen wollte. Doch darauf wollte Garzón sich von Anfang an nicht recht einlassen. Seitdem bekannt wurde, daß sein Name als Nummer 64 auf der Anklageliste erscheint, sieht sich Scilingo als Opfer einer „Anwaltsverschwörung“. Selbst sein aufsehenerregendes Buch über die Praxis der Folter während der Diktatur stamme von einem Ghostwriter. Er habe es nie gelesen. Die tatsächlichen Motive, aus denen heraus Scilingo nun alles dementiert, sind unklar.
Es gibt genügend Dokumente, die Scilingos Erklärungen untermauern. Insofern ist er als Zeuge nicht zwingend notwendig. Die jetzige Kehrtwende schadet aber nicht nur Scilingos Glaubwürdigeit. Sie schadet auch Garzón, der ihn 1997 pressewirksam als herausragenden Zeugen präsentiert hatte.
Kritik in Spanien
Unterdessen wächst die Kritik an Garzón in seinem Heimatland. Außenminister Abel Matutes befürchtet, daß ein Auslieferungsgesuch „die guten Beziehungen zu Argentinien gefährden könnte. Die Vernunft spricht dagegen“, sagte er. Matutes denkt bei Vernunft in diesem Fall vermutlich an die Wirtschaft: Aerolíneas Argentinas gehört der spanischen Gesellschaft Iberia, das argentinische Telefonnetz teilen sich die französische Télécom und die spanische Telefónica. Es ließen sich nahezu beliebig viele weitere Beispiele nennen.
Der Journalist Pepe Rei kritisiert den Richter aus einem anderen Grund: Garzón sei in die Aktivitäten der Antiterroreinheit GAL verwickelt gewesen, die in den achtziger Jahren vermeintliche ETA-Mitglieder in Frankreich umgebracht hat. Der Baske Rei steht jedoch im Verdacht, seinerseits stets in engem Kontakt mit der ETA gestanden zu haben.
Innenpolitische Querelen
Auch in Argentinien führt der Haftbefehl zu Diskussionen. Die Peronisten werden Garzón keinesfalls aktiv unterstützen, ebensowenig der Großteil der UCR. Einige Abgeordnete vom FREPASO (Front für ein solidarisches Land) sprachen sich in einem Brief hingegen zugunsten Garzóns aus. UCR und FREPASO hatten sich 1997 zur Alianza zusammengeschlossen und sich immer bemüht, Einigkeit zu demonstrieren (vgl. LN 303/304). Damit ist es jetzt vielleicht vorbei: Sofort hat De la Rúa den designierten Vizepräsidenten Carlos „Chacho“ Alvarez vom FREPASO gebeten, seine unbotmäßigen Parteifreunde zur Raison zu rufen. Und die Öffentlichkeit spekulierte wieder einmal über den Zusammenhalt der Alianza.
Einig sind sich die Parteien im Falle eines Generals, der ebenfalls auf Garzóns Liste steht. Antonio Bussi war in den siebziger Jahren verantwortlich für die „antisubversiven Aktionen“ in der Provinz Tucumán. Etliche Morde gehen auf sein Konto. Von 1995 bis Juli dieses Jahres war er direkt vom Volk gewählter Gouverneur von Tucumán. Peronisten und Alianza wollen nun gemeinsam verhindern, daß er am 10. Dezember als Abgeordneter für die Fuerza Republicana (Republikanische Kraft) in den Kongreß einzieht. Grundlage hierfür bietet ein Gesetz von 1998, das „ethisch unfähige“ Politiker von ihrem Posten entfernen läßt.
Die Militärs selbst unterscheiden sich in ihren Äußerungen nicht wesentlich von Menem. Luciano Menéndez, Ex-Chef des dritten Armeekorps und verantwortlich für ein Massaker in Córdoba, schlug nationalistische Töne an: „Wir sind wieder eine Kolonie. Argentinische Angelegenheiten werden im Mutterland beurteilt.“ Der letzte Junta-Chef, Reynaldo Benito Bignone, orakelte: “Die Dinge sind nicht wie man will, daß sie sind.“ Beide sind von Garzóns Haftbefehl betroffen.
Frankreich kooperiert
Schützenhilfe erhält Garzón zur Zeit einzig und allein aus Paris. Der französische Richter Roger Le Loire beantragte bereits im November 1998 die Auslieferung Pinochets und verfügt jetzt über wichtige Akten, die ihm das französische Verteidigungsministerium zur Verfügung gestellt hat. In ihnen geht es um die sogenannte „Operación Cóndor“, die Zusammenarbeit der Diktaturen des Cono Sur. Die Behörde an der Seine war angeblich bereits 1976 bestens über die Aktivitäten des südamerikanischen Militärs und des CIA informiert. Möglicherweise lagert in diesem Archiv auch Material, das näheren Aufschluß über den Verbleib des deutschen KZ-Arztes Josef Mengele nach dem Krieg geben könnte.
Garzón ermittelt weiter. Gerüchten zufolge will er sich bald einem ganz großen Fisch widmen: Hugo Bánzer, Militärdiktator Boliviens 1971 bis 1978 und seit zwei Jahren wiedergewählter Präsident des Landes.