“Der Strudel der Gewalt”
Das Brasilienbild in den deutschen Medien
Natürlich ist die Eskalation der Gewalt nicht zu leugnen. Natürlich gehören die Verbrechen zum Alltag in den Metropolen des Landes. Mindestens ebenso interessant wie die veröffentlichten Meldungen sind jedoch die Informationen, die keine Erwähnung finden. So existieren in Brasilien mehr Bürgerinitiativen, soziale Organisationen als in der BRD. Zwar gibt es laut Veja vom Juli 1993 ungefähr 16.000 Gruppen und Organisationen mit circa einer halben Million Mitglieder, die sich mit sozialen und ökologischen Problemen beschäftigen. Verwunderlich, glaubt man doch nach der Lektüre der meisten Zeitungsartikel, die Bevölkerung bestehe nur noch aus skrupellosen Drogenhändlern, schießwütigen Polizisten, korrupten Politikern und deren Opfern. Trotz tausender Basisorganisationen, Menschen-rechtsgruppen und Bürgerrechtsbewegungen: den Eingang in die deutschen Medien finden nur sehr wenige, wie zum Beispiel die sehr Publicity-wirksame “Kampagne gegen den Hunger” des Soziologen Betinho. Oder die Initiativen sind gar selber das Problem: “Die Strassenkinder als Objekt von Weltverbesserern”. Nach exklusiven Informationen der FAZ gibt es in Rio mehr NGO’s als Straßenkinder. Kein Wunder, schließlich läßt es sich mit den Spendengeldern aus dem reichen Norden prächtig leben. Dagegen gibt es kaum Berichte über die Selbstorganisation der Straßenkinder, über Volmer do Nascimento oder Tania Moreira. Der ehemalige Sozialarbeiter und die Staatsanwältin haben in mühseliger jahrelanger Kleinarbeit die Verantwortlichen für die Massaker namentlich ausfindig gemacht und angeklagt. Opfer passen einfach besser ins Bild. Überhaupt: etwas anderes als Mord und Korruption ist man von diesem Land eh nicht gewöhnt.
Die sozialen und wirtschaftlichen Probleme sind – so der Eindruck – hausgemacht. Vor wenigen Jahren schrieb man auch über andere Gründe der Miseren, beispielsweise den immensen Schuldendienst für die nordamerikanischen und westeuropäischen Banken, die Auflagen des Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank. Sie kommen heute bestenfalls noch in Nebensätzen im Wirtschaftsteil vor. Korrupte Politiker, unfähige Regierungen – verantwortlich für das Elend sind die Brasilianer selbst, das Ausland kann da eigentlich nur mitleidig zusehen. Damit hat man heutzutage nun wirklich nichts mehr zu tun.
Der engagierte Dritte-Welt Journalist folgt so den Ansichten, die in akademischen Kreisen schon seit längerem zum guten Ton gehören. In den 50er Jahren wurde unter der Parole “von Europa lernen” noch jeder neue Traktor, der fortschrittsweisend über die Äcker von Brasilien oder Peru seine Bahnen zog, in den Sonntagsbeilagen bejubelt. Eine Dekade später hatte sich das Bild gewandelt. Nun prägten die “Strukturen” und “Abhängigkeiten” die Artikel. Hoffnungsfrohes war aber auch zu berichten: über Ché und rote Fahnen. Und heute? Wer schreibt heute noch gerne über Nicaragua? Die Zeit der Entwicklungsträume und der revolutionären Hoffnung ist vorbei. Modernisierungstheorien sind wieder so aktuell wie ihre Botschaft einfach ist: jeder ist eben in seinem eigenen Land seines eigenen Glückes Schmied.
Das Wesen der Brasilianer – das Unwesen der Presse
Über die Politik kann man also wenig Gutes sagen. Was bleibt, damit das Bild nicht gar zu duster wird, ist die Kultur. Karneval und Fußball werden gern zitiert. Ein paradoxes Bild: Gewalt, Mord und ausgelassene Menschen. Kann man sich das alles nicht mehr so recht erklären, so findet man in der Mentalität manche überraschende Antwort. So klärt uns Die Zeit über das eigentliche Wesen der Brasilianer auf: Es entspreche “dem Lebensgefühl vieler Brasilianer…mit einem Trick, einem jeito, mit einem Minimum an Arbeit schnell reich zu werden.” (Zeit, 25.2.1994) Als ob dieser Wunsch nicht auf der ganzen Welt der gleiche wäre. Kultur und Mentalität werden zur Erklärung sozialer Vorgänge bemüht, wo politische Analysen nicht mehr gefragt sind. Bei soviel Müßiggang und Schlendrian braucht man sich schließlich nicht zu wundern, wieso die Armut hartnäckig an diesem Lande klebt. “No Brasil, tudo acaba em Samba” – In Brasilien endet eben alles im Samba. (ebenda)
Die Artikel über das exotische Land in den Tropen erzeugen den Eindruck einer Gesellschaft, die aus den Fugen gerät, die nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu steuern. Der kurze mediale Ausflug in die “Anarchie” von Mord, Korruption und Karneval hinterläßt eine Gänsehaut und die beruhigende Gewißheit, daß man selbst doch (im Vergleich) in geordneten Verhältnissen lebt. Unausgesprochen wird suggeriert, die Geschehnisse aus einem sicheren Hort zu betrachten, in dem die Regeln der Zivilisation noch Gültigkeit haben – und wo hoffentlich alles so bleibt, wie es ist.
Das Deutschland-Bild in der brasilianischen Presse
Welcher Leser käme da noch auf den Gedanken, den Spiegel einmal umzudrehen? Wäre er der portugiesischen Sprache mächtig, er würde erstaunt sein, was über sein zivilisiertes Land alles geschrieben steht. Rostock, Solingen und Mölln sind dem brasilianischen Zeitungsleser so vertraut, wie es in hiesigen Medien für wenige Tage die Candelaria-Kirche in Rio war. Auch von der Gewohnheit vieler seiner Einwohner, ihre Gäste in Lager zu sperren, sie zu beleidigen, zu schlagen und des öfteren auch zu verbrennen, kann man regelmäßig lesen. In den großen Zeitungen des Landes, die übrigens bei der Auflage mit den hiesigen Erzeugnissen kein Vergleich zu scheuen brauchen, wird über die Ursachen der Gewalt oft mit einer Deutlichkeit gesprochen, die man hier nur noch selten findet.
Für einen Zeitungsleser aus Recife oder Rio ist es also durchaus fraglich, wo er sich letzten Endes sicherer fühlen kann. Doch – wer mag sich hierzulande darüber den Kopf zerbrechen? Der “Strudel der Gewalt” spielt sich für die meisten Leser letztlich in sicherer Entfernung ab – egal, ob nun in Rio de Janeiro oder vor dem Asylanten-Lager um die Ecke.