Brasilien | Nummer 246 - Dezember 1994

“Der Strudel der Gewalt”

Das Brasilienbild in den deutschen Medien

An Katastrophen mangelt es in Brasilien nicht: von Morden, Todesschwadro­nen bis hin zum angeblichen Kannibalismus ist viel zu lesen. Der absolute Me­dienrenner: das Massaker an acht Straßenkindern in Rio im letzten Jahr. Selten gab es so viele Berichte in so kurzer Zeit über die Gei­ßeln des modernen Brasi­lien. “Brasilien im Strudel der Gewalt” (Sämtliche kursiv gesetzte Passagen sind Zitate aus Tages­zeitungen (ausgewertet wurden: SZ, FR, FAZ, Berliner Mor­genpost, Zeit, Berliner Zeitung, NZZ). Die Auffassung, eine Nation habe die Kontrolle über sich selbst verloren, prägt das Bild: “Eine Gesellschaft treibt zum Selbstmord”. Quasi per Natur­gewalt sind die Menschen dem Schreckli­chen aus­geliefert, unaufhaltsam scheint die Gemeinschaft zu kollabieren. Der So­zialdarwinismus ist die vorherrschende Umgangsform: “Gewalt und Verbrechen als Normalität”. Ein apokalyptisches Bild wird gezeichnet: von “Mordgier” und von “Killern, die wie im Rausch töten”, ist die Rede, von einer “Todesindustrie” und den neuen “Konzentrationslagern” – gemeint sind die Favelas von Rio. Wo alles im Strudel versinkt, das Leben die reinste Hölle ist (“Rio ist die Hölle für Bewohner und Straßenkinder”), wird auch der scheinbar einzige Ausweg ver­ständlich: “Die letzte Hoffnung ist das Militär”.

Anton Landgraf / Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile/Lateinamerika (Berlin

Natürlich ist die Eskalation der Gewalt nicht zu leugnen. Natürlich gehören die Verbrechen zum Alltag in den Metropolen des Landes. Mindestens ebenso interes­sant wie die veröffentlichten Meldungen sind jedoch die Informationen, die keine Erwähnung finden. So existieren in Brasi­lien mehr Bürger­initiativen, soziale Orga­nisationen als in der BRD. Zwar gibt es laut Veja vom Juli 1993 ungefähr 16.000 Gruppen und Organisationen mit circa einer halben Million Mitglieder, die sich mit sozialen und ökologischen Problemen beschäfti­gen. Verwunderlich, glaubt man doch nach der Lektüre der meisten Zeitungs­artikel, die Bevölkerung bestehe nur noch aus skrupellosen Drogenhänd­lern, schießwütigen Polizi­sten, korrupten Poli­tikern und deren Op­fern. Trotz tau­sender Basisorganisationen, Menschen-rechts­gruppen und Bürger­rechtsbewe­gungen: den Eingang in die deutschen Medien fin­den nur sehr wenige, wie zum Beispiel die sehr Publicity-wirk­same “Kampagne ge­gen den Hunger” des So­ziologen Betinho. Oder die Initiativen sind gar selber das Problem: “Die Stras­senkinder als Objekt von Weltverbes­serern”. Nach exklusiven Informationen der FAZ gibt es in Rio mehr NGO’s als Straßenkinder. Kein Wunder, schließlich läßt es sich mit den Spendengeldern aus dem reichen Norden prächtig leben. Da­gegen gibt es kaum Berichte über die Selbstorganisation der Straßenkinder, über Volmer do Nascimento oder Tania Mo­reira. Der ehemalige Sozialarbeiter und die Staatsanwältin haben in mühseliger jahrelanger Kleinarbeit die Verantwortli­chen für die Massaker namentlich ausfin­dig gemacht und angeklagt. Opfer passen einfach besser ins Bild. Überhaupt: etwas anderes als Mord und Korruption ist man von diesem Land eh nicht gewöhnt.
Die sozialen und wirtschaftlichen Pro­bleme sind – so der Eindruck – hausge­macht. Vor wenigen Jahren schrieb man auch über andere Gründe der Miseren, beispielsweise den immensen Schulden­dienst für die nordamerikanischen und westeuropäischen Banken, die Auflagen des Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank. Sie kommen heute besten­falls noch in Nebensätzen im Wirt­schaftsteil vor. Korrupte Politiker, unfä­hige Regierungen – verantwortlich für das Elend sind die Brasilianer selbst, das Ausland kann da eigentlich nur mitleidig zusehen. Damit hat man heutzutage nun wirklich nichts mehr zu tun.
Der engagierte Dritte-Welt Journalist folgt so den Ansichten, die in akademischen Kreisen schon seit längerem zum guten Ton gehören. In den 50er Jahren wurde unter der Parole “von Europa lernen” noch jeder neue Traktor, der fortschrittsweisend über die Äcker von Brasilien oder Peru seine Bahnen zog, in den Sonntagsbeila­gen bejubelt. Eine Dekade später hatte sich das Bild gewandelt. Nun prägten die “Strukturen” und “Abhängigkeiten” die Artikel. Hoffnungsfrohes war aber auch zu berichten: über Ché und rote Fahnen. Und heute? Wer schreibt heute noch gerne über Nicaragua? Die Zeit der Entwick­lungsträume und der revolutionären Hoff­nung ist vorbei. Modernisierungstheorien sind wieder so aktuell wie ihre Botschaft einfach ist: jeder ist eben in seinem eige­nen Land seines eigenen Glückes Schmied.
Das Wesen der Brasilianer – das Unwesen der Presse
Über die Politik kann man also wenig Gutes sagen. Was bleibt, damit das Bild nicht gar zu duster wird, ist die Kultur. Karneval und Fußball werden gern zitiert. Ein paradoxes Bild: Gewalt, Mord und ausgelassene Menschen. Kann man sich das alles nicht mehr so recht erklären, so findet man in der Mentalität manche über­raschende Antwort. So klärt uns Die Zeit über das eigentliche Wesen der Brasilia­ner auf: Es entspreche “dem Lebensgefühl vieler Brasilianer…mit einem Trick, einem jeito, mit einem Minimum an Arbeit schnell reich zu werden.” (Zeit, 25.2.1994) Als ob dieser Wunsch nicht auf der ganzen Welt der gleiche wäre. Kultur und Mentalität werden zur Erklä­rung sozialer Vorgänge bemüht, wo politi­sche Analysen nicht mehr gefragt sind. Bei soviel Müßiggang und Schlendrian braucht man sich schließlich nicht zu wundern, wieso die Armut hartnäckig an diesem Lande klebt. “No Brasil, tudo acaba em Samba” – In Brasilien endet eben alles im Samba. (ebenda)
Die Artikel über das exotische Land in den Tropen erzeugen den Eindruck einer Gesellschaft, die aus den Fugen gerät, die nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu steuern. Der kurze mediale Ausflug in die “Anarchie” von Mord, Korruption und Karneval hinterläßt eine Gänsehaut und die beruhigende Gewißheit, daß man selbst doch (im Vergleich) in geordneten Verhältnissen lebt. Unausgesprochen wird suggeriert, die Geschehnisse aus einem si­cheren Hort zu betrachten, in dem die Re­geln der Zivilisation noch Gültigkeit ha­ben – und wo hoffentlich alles so bleibt, wie es ist.
Das Deutschland-Bild in der brasiliani­schen Presse
Welcher Leser käme da noch auf den Ge­danken, den Spiegel einmal umzudrehen? Wäre er der portugiesischen Sprache mächtig, er würde erstaunt sein, was über sein zivilisiertes Land alles geschrieben steht. Rostock, Solingen und Mölln sind dem brasilianischen Zeitungsleser so ver­traut, wie es in hiesigen Medien für we­nige Tage die Candelaria-Kirche in Rio war. Auch von der Gewohnheit vieler sei­ner Einwohner, ihre Gäste in Lager zu sperren, sie zu beleidigen, zu schlagen und des öfteren auch zu verbrennen, kann man regelmäßig lesen. In den großen Zeitun­gen des Landes, die übrigens bei der Auf­lage mit den hiesigen Erzeugnissen kein Vergleich zu scheuen brauchen, wird über die Ursachen der Gewalt oft mit einer Deutlichkeit gesprochen, die man hier nur noch selten findet.
Für einen Zeitungsleser aus Recife oder Rio ist es also durchaus fraglich, wo er sich letzten Endes sicherer fühlen kann. Doch – wer mag sich hierzulande darüber den Kopf zerbrechen? Der “Strudel der Gewalt” spielt sich für die meisten Leser letztlich in sicherer Entfernung ab – egal, ob nun in Rio de Janeiro oder vor dem Asylanten-Lager um die Ecke.

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