Film | Nummer 274 - April 1997

Der zarte Charme des Establishments

Doces poderes – Süße Mächte

Bia ist jung, ehrgeizig und erfolgreich. Doch mit einem derart rasanten Aufstieg hat­te sie selber nicht gerechnet: Die Journalistin wird Leiterin des Studios eines großen Fern­sehsenders in der Hauptstadt Brasília. Ihr Vorgänger, ein väterlicher und gön­ner­hafter Freund, verrät ihr auch den Grund für den Satz auf der Karriere­leiter. Er und ein großer Teil seiner biherigen MitarbeiterInnen machen nun Wahl­kampf für Gou­ver­neurs­kandidaten in verschiedenen Bundesstaaten.

Jens Holst

Und tatsächlich, das Studio ist fast verwaist, die meisten ehe­maligen Fernsehleute tingeln durch das Land und entwerfen mehr oder weniger phantasie­volle Werbespots für ihre je nach Staat eher smarten oder eher bo­denständigen Kandidaten. So wie sie in Lateinamerika zu den be­sten Sendezeiten über den Bild­schirm flimmern, ziehen die mit bunten Bildern untermalten Slo­gans immer wieder über die Kino­leinwand. Diese Werbeper­si­flagen, die vom Gerede der MacherInnen über ihre ver­meintlich originären Ideen unter­malt sind, werden eigent­lich nur noch von den Originalen über­trof­fen, die in schöner Re­gel­mäßigkeiten im brasiliani­schen TV zu sehen sind.

Im Wirbel der Korruption und Machtintrigen

Aber Bia ist bemüht, die Fahne der journalistischen Ethik und Integrität hochzuhalten, die bei immer mehr KollegInnen zu­nehmend nach dem Wind der fi­nanziellen Möglichkeiten dreht. Doch schon nach den ersten po­litischen Sendungen regt sich Widerspruch. Der favorisierte Kandidat des Establishment vermißt die bisher gewohnte Unterstützung durch den Fern­sehkanal. Sein Drängen wird von Sendung zu Sendung und von Meinungsumfrage zu Meinungs­umfrage heftiger. Bia gerät in ein immer enger werdendes Netz aus Abhängigkeiten, persönlichen Be­zie­hungen, Manipulation und Korruption. Viel schmutzige Wä­sche wird gewaschen im Kampf um die Macht, die süß und verlockend auf bestimmten Posten winkt. Bia fällt es zu­nehmend schwerer, ihren eige­nen Vorstellungen treu zu blei­ben, zumal sie sich von ver­meintlich loyalen KollegInnen im Stich gelassen fühlt.
Die manipulierende Rolle der Medien und allen voran des übermächtigen Fernsehens ist in Brasilien spätestens seit dem Wahlsieg des vorzeitig geschaß­ten Präsidenten Fernando Collor de Melo ein offenens Geheimnis. Ihm gelang der Wahlsieg 1992 nur durch den massiven Endspurt des marktführenden TV-Kanals Globo, der linke Gegenkandidat Lula konnte nur durch gezielte Schläge weit unter die Gürtelli­nie besiegt werden. Die Anspie­lungen in “Doces poderes” auf dieses zentrale medienpolitische Ereignis sind offenkundig. Über­haupt zeichnet sich dieser Film durch seine explizit politische Geschichte aus. Gerade die Tat­sache, daß die dargestellten Po­litikerInnen für das Publikum in Brasilien unzweifelhaft wieder­erkennbar sind und mit real exi­stierenden Figuren identifiziert werden können, macht ihn zu ei­nem kurzweiligen und witzigen Kinoerlebnis. Die Reaktion der KinobesucherInnen in Rio und Sao Paulo machte jedenfalls deutlich, daß explizit politische Filme keineswegs überholt sind.
Schwungvoll hat Lúcia Murat das komplexe Thema der Macht der Medien und die Rolle von Journalisten in unserer Zeit auf­gegriffen. Sie verzichtet dabei auf jede Schwarz-Weiß-Malerei und das klassische Gut-und-Böse-Schema. Alle Charaktere stoßen auf uneindeutige Situa­tionen und durchleben innere Konflikte. “Doces poderes” zeich­net ein getreues Bild der real existierenden Polit-Szene in Brasilien und vor allem in der Landeshauptstadt Brasília. Was spontan an einen Dokumentar­film denken läßt, entpuppt sich als Mischung aus Drama und Komödie, die von Romancen, Intrigen, realen Konflikten und einer gehörigen Portion Humor lebt. Humor mit dem bitteren Geschmack einer Tragikomödie.


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