Kolumbien | Nummer 337/338 - Juli/August 2002

“Die Beschaffenheit und Dynamik des Krieges hat sich verändert”

Interview mit dem kolumbianischen Professor für Philosophie und Wirtschaftswissenschaft Jaime Zuluaga

Jaime Zuluaga ist zur Zeit Gastprofessor am Pariser Institut für Lateinamerika-Studien an der Sorbonne. Ende Mai hielt er in Berlin einen Vortrag zum Thema: „Präsidentschaftswahlen in Kolumbien – Entscheidung über Krieg oder Frieden?“ Die LN sprach mit ihm über das kolumbianische Parteiensystem, die Auswirkungen der Gewalt und die Rolle der EU sowie über die internationale Verantwortung für Probleme des Drogenhandels in Kolumbien.

Fanny Rubio Lorza

Der Wahlsieg des abtrünnigen liberalen Kandidaten Alvaro Uribe bei den Präsidentschaftswahlen am 26. Mai ist ein Zeichen dafür, dass weite Teile der kolumbianischen Bevölkerung einen Präsidenten wollen, der mit harter Hand den bewaffneten Konflikt im Land zu lösen sucht. Haben Sie dieses Ergebnis erwartet?

Das Ergebnis war voraussehbar. Aber für die Situation im Land wäre es wünschenswert und politisch opportun gewesen, hätten mehr Menschen für demokratische Alternativen wie den Polo Democrático gestimmt [Anm. d. Redaktion: Der Polo Democrático war ein Wahlbündnis unabhängiger Parlamentarier und Linksparteien].

Sie sagten, der kolumbiansche Krieg sei ein Krieg mit doppelter Agenda. Könnten Sie das näher erläutern?

Ursprünglich war es ein aufständischer Krieg, der von der Guerilla ins Leben gerufen wurde, um die Gesellschaft von Grund auf zu verändern. Darin gleicht seine Agenda der der revolutionären Guerillabewegungen der sechziger und siebziger Jahre in Lateinamerika im Rahmen des Kalten Krieges. Aber die Ausdehung der bewaffneten Konfrontation, das Ende des Kalten Krieges und das Aufkommen internationaler Drogenmafias haben die Beschaffenheit und Dynamik des Krieges verändert. Als Konflikt der Ära nach dem Kalten Krieg stehen auf seiner Agenda Probleme wie zum Beispiel Drogenhandel, Menschenrechte und Umweltverschmutzung. Es gibt also diese doppelte Agenda, und aus diesem Grund kann man ihn nicht einfach als einen der „neuen Kriege“ bezeichnen, wie Wirtschaftsspezialisten heute die Gewalt in Kolumbien benennen.

Der Plan Colombia, angeregt von den USA, bezieht sich auf den Drogenhandel und die angebliche Stabilität der Andenregion. Ändert sich diese Perspektive mit der Wahl Uribes?

Was meinen wir, wenn wir vom Plan Colombia sprechen? Die kolumbianische Regierung redet von einem Plan Colombia, der im Grunde ihr nationaler Entwicklungsplan ist. Aber der Plan, von dem ich rede, ist der, welcher von der US-amerikanischen Regierung mit 1.350 Millionen US-Dollar für den Kampf gegen den Drogenhandel finanziert wird. Seit fast drei Jahren findet der Plan Anwendung, aber seine Ergebnisse sind minimal. Er wurde entwickelt, um den Drogenhandel durch die Besprühung von Kokaanbaugebieten in den von der Guerilla kontrollierten Zonen zu bekämpfen. Das verbotene Kokaanbaugebiet hat sich trotz der Besprühungen jedoch vergrößert, und der Drogenhandel wächst weiterhin. Im Grunde ist er ein Plan zur Aufstandsbekämpfung, was sich in der Stärkung von Armee und Polizei ausdrückt. Ich denke, dass mit der von der Regierung Bush entwickelten Anden-Initiative eine neue Strategie des nordamerikanischen Interventionismus in Kolumbien und der Andenregion geschaffen wird, um die Aufständigen zu liquidieren, den Drogenhandel einzudämmen und die politische Stabilität zu garantieren. Unabhängig vom Wahlergebnis in Kolumbien besteht die Tendenz, den Militarismus zu stärken. Der Präsident hat vor, den Bestand der bewaffneten Truppen zu verdoppeln und eine Million Zivilisten durch kooperative Aufgaben für den Antiguerillakampf zu verpflichten.

Einige Analysten meinen, dass die Wahl des ehemals liberalen Alvaro Uribe Vélez das Ende der traditionellen Parteien bedeutet, und die Notwendigkeit aufzeigt, eine oppositionelle demokratische Kraft aufzubauen…

Die traditionellen Parteien in Kolumbien, die Liberalen und die
Konservativen, sind in ihrer Funktion, der Vermittlung zwischen Gesellschaft und Staat, schwächer geworden. Aber sie sind nicht verschwunden. Es stimmt, dass sie Wählerstimmen verloren haben, aber ihre Gegenwart ist im Feld der Politik noch immer bedeutsam, und ich denke, dass es noch eine Zeit lang so bleiben wird. Der neue Präsident ist ein Liberaler. Er war ein abtrünniger Kandidat, der sich dem offiziellen Kandidaten der Liberalen entgegen stellte und ihn schlug. Aber es ist wahrscheinlich, dass diese Präsidentschaft der Partei zu einem Prozess der Selbsterneuerung verhilft und damit stärkt. Eines der schlimmsten Mängel der kolumbianischen Demokratie ist das Fehlen von starken Parteien mit klaren Programmen. Daher die Bedeutung, alternative Politiken zu entwickeln, neue Parteien mit demokratischen Programmen zu konstruieren, welche die demokratische Kompetenz stärken und ihre Kontrollfunktion wahrnehmen. Die Wahl des Polo Democrático zeigte in diese Richtung. Hoffentlich hält sich diese Allianz und wächst als politische Macht. Aber in Kolumbien ist das auf Grund traditioneller Formen der Parteipolitik und der Situation des internen Krieges nicht einfach.

Südkolumbianische Gouverneure haben eine Initiative ins Leben gerufen, verbotene Drogenkulturen selbst zu kontrollieren und regionale Alternativen zu entwickeln. Dies steht im Kontrast zur zentralisierten Regierungsform, die die Drogenpolitik national leitet. Wie hat sich dieser Vorschlag entwickelt?

Die Gruppe, genannt „Gouverneure des Südens“, hat die Notwendigkeit eingesehen, die Besprühungen zu stoppen und gemeinsam mit den Bauern Programme zur manuellen Ausrottung der Pflanzenkulturen zu entwickeln. Aber die zentrale Regierung hat auf den Besprühungen bestanden, obwohl sie die Möglichkeit einer regionalen Abstimmung nicht vollständig verworfen hat. Ich denke, dass die lokalen und regionalen Verwaltungen zweckmäßigere Politikformen erarbeiten könnten, welche weniger schädigend für die Bevölkerung und die Umwelt sind. Aber hier gibt es noch einen verfassungsrechtlichen Streit zwischen den lokalen und regionalen Mächten und der zentralen Gewalt. Die Gouverneure und viele Bürgermeister bestehen weiterhin auf diese Alternative der manuellen Ausrottung unter Teilnahme der Gemeinden. Es sollte aber auch an Großprogramme zur Rückansiedlung von Ortschaften gedacht werden, um diese angemessen in den Markt integrieren zu können.

In Deutschland redet man viel über die Narcoguerilla, das heißt, eine Guerilla, die sich durch den Drogenhandel finanziert. Ist es denkbar, dass der Frieden in diese Regionen zurückkehrt, die heute von Gruppen der Paramilitärs oder der Guerilla kontrolliert werden, wenn der Drogenhandel ausgerottet wird?

Es stimmt, dass Erlöse aus dem Drogenhandel in die Guerilla, vor allem in die Kassen der FARC (Revolutinäre Streitkräfte Kolumbiens) fließen. Aber sie finanzieren außerdem in großem Maße den Paramilitarismus und nähren die Korruption in der Gesellschaft und im Staat. Das bedeutet, dass aufständischer Krieg und internationaler Drogenhandel in Beziehung zueinander stehende Phänomene sind. Aber man darf daraus nicht eine Beziehung der Ursächlichkeit zwischen Guerilla und Drogenhandel herleiten. Die Guerilla existierte vor der Verankerung einer internationalen Drogenmafia in Kolumbien. Ihre Entwicklung hängt keinesfalls von den Geldern des Drogenhandels ab. Aus diesem Grund sollte man die Lösung des aufständischen Krieges nicht von der Lösung des Drogenhandelproblems abhängig machen. Der aufständische Krieg kann sich durch einen Prozess der politischen Verhandlungen zwischen Guerilla und Regierung unter Teilnahme gesellschaftlicher Kräfte lösen lassen. Die Lösung des Drogenhandelproblems hängt nicht nur von Kolumbien und den Kolumbianern ab. Sie ist abhängig von der weltweiten Gemeinschaft, welche die Drogen konsumiert, die finanziellen Zirkel des internationalen, organisierten Verbrechens nährt und ihnen Steuerparadiese für die Anhäufung ihres Kapitals bietet.

Für die kolumbianische Bevölkerung sind die Auswirkungen des jahrzehnte langen Krieges sehr groß. Die Gewalt beeinflusst das alltägliche Leben der Menschen, ihre Beziehungen, ihre Vision von der Welt und der Gesellschaft. Wie erleben die Kolumbianer ihren Alltag? Und gemeinsam mit den Bauern wie erleben Sie diese Problematik an der Universität?

Die kolumbianische Bevölkerung hat unter einer politischen und einer sozialen Gewalt zu leiden. Wenn wir die Gewalt in der Anzahl der Tötungsdelikte messen, sind nur zwischen 10 und 15 Prozent der Todesfälle durch politische Gewalt motiviert, die anderen sind Opfer sozialer Gewalt. Und dies beeinträchtigt das alltägliche Leben in unterschiedlichem Ausmaß je nach Schauplatz. In Zonen des bewaffneten Konflikts, also in fast allen ländlichen Zonen, leben die Leute unter der Belagerung der Guerilla, der Paramilitärs und der Polizei. Dieses schränkt die Bewegungsfreiheit ein, begrenzt den Zugang zu Nahrung, Medizin und Treibstoff. Aus diesem Grund verlassen viele ihr Land. Jeden Tag werden tausend Kolumbianer durch diese Gewalt vertrieben, in der Mehrzahl der Fälle auf Grund der Aktionen von paramilitärischen Gruppen, welche Massaker an der Zivilbevölkerung ausüben. In den städtischen Regionen ist die Gewalt dagegen überwiegend sozialer Natur. Vielleicht ist der schlimmste Effekt ihre Banalisierung, und der Verlust der Fähigkeit, sich zu empören und darauf zu reagieren. In der Universität entkommen wir natürlich diesen Effekten nicht, jedoch ist die Gewalt, wenn sie auftritt, meistens politischer Natur. Verständlicherweise suchen die verschiedenen politischen Gruppen, inklusive der illegalen, den universitären Raum, um sich kenntlich zu machen.

Welche Rolle könnte Europa in der aktuellen Situation des kolumbianischen Konfliktes spielen?

Die Lösung des Konfliktes hängt im Wesentlichen von den Kolumbianern ab, aber in der aktuellen Situation benötigt das Land politische Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft. Kolumbien braucht weder Waffen noch Helikopter, gebraucht wird politische Unterstützung und in diesem Sinne ist die Rolle Europas fundamental. Einige europäische Länder, unter ihnen Frankreich, die Schweiz, Spanien, Schweden und Deutschland, haben die Friedensprozesse unterstützt. Hoffen wir, dass sich Europa nicht der Unterstützung von Projekten verschreibt, die an einer Intensivierung des Krieges mitwirken, dass es keine möglichen Pläne der Einmischung aus humanitären Gründen unterstützt. Sie sollten ihre wachsame Einstellung gegenüber den bewaffneten Akteuren und auch gegenüber dem Staat beibehalten, um die Einhaltung der internationalen Menschenrechte einfordern zu können. Von Europa erwarten wir politische Unterstützung für eine Verhandlungslösung und für die Revision der Antidrogenpolitik, sowie Hilfe im Wiederaufbau unseres Landes für die Zeit nach dem Konflikt.

Interview: Fanny Rubio Lorza
Übersetzung: Anke Rafflenbeul

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