Chile | Nummer 375/376 - Sept./Okt. 2005

Die „demokratische“ Konsolidierung des autoritären Neoliberalismus

Verfassungsreformen zu Gunsten der Rechten

„Der Übergang zur Demokratie ist beendet!“, sagte vor ein paar Wochen feierlich Ricardo Lagos, amtierender Präsident Chiles, nachdem das Oberste Haus des chilenischen Parlaments praktisch einstimmig eine Verfassungsreform verabschiedet hatte. Mit denselben Worten begrüßte auch der rechtskonservative Sergio Romero, amtierender Senatspräsident, die Verabschiedung des Projekts. Ist die Vergangenheit wirklich überwunden ?

Isidoro Bustos Valderrama

Die verabschiedeten Reformen der Verfassung, die noch aus der Diktatur stammt, sind zugegebenermaßen nicht zu unterschätzen. Dennoch sollte man die euphorische Äußerung des Sozialdemokraten Lagos kritisch hinterfragen. Auffällig ist die Einstimmigkeit des chilenischen Parlaments bei der Verabschiedung der Reformen. Besonders die Zustimmung der Partei Nationale Erneuerung (RN), der „liberale“ Flügel der Rechten, und der ultrarechten Unabhängigen Demokratischen Union (UDI) sind auffällig. Beide Parteien haben jahrelang das Handeln und die Person Pinochets fast ausnahmslos leidenschaftlich verteidigt. Erst die Verhaftung des Ex-Diktators in London brachte einige Sektoren der Rechten zum Nachdenken.
Hierbei haben sicher der Bericht der Valech-Kommission über die politischen Gefangenen und die Folter unter der Diktatur sowie die Enthüllung der schmutzigen Geschäfte des Generals Pinochets eine wichtige Rolle gespielt. Dennoch bedeutet die aktuelle Verfassungsreform noch keine „Versöhnung“ der chilenischen Rechten mit der Demokratie.
Wem die Reformen wirklich nützen, wird deutlich, wenn man die konkreten politischen Folgen der wichtigsten Reformen kurz skizziert.

1. Verfassungsänderung: Abschaffung der institutionellen Senatoren und der Senatoren auf Lebenszeit

Entsprechend der Verfassung von 1980 sitzen in der oberen Kammer des Parlaments vier vom Nationalen Sicherheitsrat gewählte Senatoren (als Vertreter der drei Waffengattungen und der Militärpolizei), zwei Vertreter des Obersten Gerichtshofes, ein ehemaliger Vorsitzender der Obersten Kontrollbehörde der Republik, der ebenfalls vom Obersten Gerichtshof gewählt wird, ein ehemaliger Staatsminister und ein ehemaliger Universitätsrektor, beide vom Präsidenten der Republik designiert. Dazu kommen die ehemaligen Präsidenten der Republik. Als die Verfassung in Kraft trat, war dies nur Augusto Pinochet. Demzufolge saßen im ersten Parlament 1990 zehn nicht gewählte Senatoren, die schon während der Diktatur an der Spitze des Staates gestanden hatten und nun die Möglichkeit hatten, eine Sperrminorität zu bilden.
Im Laufe der letzen 15 Jahre hat sich die Situation deutlich verändert. Ohne eine Reform des entsprechenden Verfassungsartikel würden ab März 2006 zumindest fünf nicht gewählte Mitglieder des Senats aus der heute regierenden Koalition von Sozial- und Christdemokraten (Concertación para la Democracia) kommen: Die ehemaligen Präsidenten Frei und Lagos (als Senatoren auf Lebenszeit) zusammen mit einem ehemaligen Vorsitzenden der Kontrollbehörde, dem Ex-Rektor einer Universität und einem ehemaligen Staatsminister (als institutionelle Senatoren), die zur Concertación gehören. Ihnen gegenüber säße im besten Fall eine Gruppe von vier Vertretern der Uniformierten und zwei des Obersten Gerichtshofes, es entstünde also eine Pattsituation.
Die zukünftige Besetzung der zuletzt genannten vier Stellen durch Richter, die durch die regierende Koalition in den Obersten Gerichtshof gekommen sind, oder durch Vertreter des Militärs, die sich von der Rechten verraten fühlen, könnte die Situation für die Parteien RN und UDI noch schwieriger gestalten. Mit anderen Worten: Die Institution der designierten Senatoren war für die konservativen Kräfte keine Garantie mehr, sondern hatte zur Stärkung der regierenden Concertación beigetragen.

2. Verfassungsänderung: Absetzbarkeit der Oberbefehlshaber von Militär und Polizei

Angesichts der Unhaltbarkeit des Anspruches, die Autonomie des Militärs gegenüber dem Staatschef aufrechtzuerhalten, haben die konservativen Kräfte Chiles auf eine andere Karte gesetzt. Sie forderten, in Zusammenhang mit den Befugnissen der obersten Staatsautorität gegenüber dem Militär eine Kontrollinstanz zu schaffen. Um einen Oberbefehlshaber in Ruhestand zu versetzen, muss der Präsident der Republik nunmehr zuerst den Senat informieren und die Meinung der oberen Kammer des Parlaments einholen. Damit verwandelt sich die „normale“ Funktion der Exekutive in ein Politikum.

3. Verfassungsänderung: Beschränkung der Machtbefugnisse des Nationalen Sicherheitsrats (CSN)

Die Machtbefugnisse des CSN, der von den Juristen der Diktatur als oberste Kontrollinstanz über alle Verfassungsorgane vorgesehen war, ist in bedeutendem Maße beschnitten worden. Der CSN ist lediglich eine beratende Instanz, die in Zukunft prinzipiell nur noch vom Präsident der Republik einberufen wird. Die Vorsitzenden des Senats und des Obersten Gerichtshofes können allerdings eine Sitzung des Rates beim Präsidenten einfordern.
Obwohl der CSN nicht mehr die Befugnis hat, Entscheidungen zu treffen, bleibt jedem Mitglied das Recht vorbehalten, „seine Meinung gegenüber jedem Vorgang, Akt oder Gegenstand, die die Grundlagen der Institutionalität oder der nationalen Sicherheit betreffen könnten“ zu äußern. Dies ist der Wortlaut mit dem auch im CSN die Machtbefugnis des Militärs über die drei klassischen Staatsgewalten, die wie ein Damoklessschwert über der bisherigen Verfassung hängt. Die Tatsache, dass die Akten des CSN in der Regel öffentlich sein sollen, birgt Möglichkeiten für das Militär, sich an die Öffentlichkeit zu wenden, um seine Ansprüche publik zu machen.

4. Verfassungsänderung: Besetzung des Verfassungsgerichts

Die Reformen des Verfassungsgerichts zeigen, dass der Einfluss des Militärs bei der Besetzung des Tribunals zurückgedrängt wurde. So werden die zehn Mitglieder des Verfassungsgerichts künftig vom Obersten Gerichtshof (drei), vom Präsidenten der Republik (drei) und vom Parlament (vier) benannt. Bermerkenswert ist, dass der Senat, in dem die Rechte traditionell stärker vertreten ist, zwei Mitglieder des Gerichts direkt wählt und außerdem die Sonderbefugnis bekommen hat, seine Zustimmung zu den beiden vom Abgeordnetenhaus gewählten Mitgliedern zu geben.

5. Verfassungsänderung: Aufhebung des binominalen Wahlsystems

In Chile wird das Parlament durch Mehrheitswahl bestimmt. Damit wird garantiert, dass in jedem Wahlkreis zwei Parlamentarier gewählt werden. Die zweitstärkste Partei (bzw. ein Parteienbündnis) benötigt nach dem Wahlgesetz nur 34Prozent der Stimmen für einen Parlamentssitz. Auf diese Weise konnte sich bis jetzt die Rechte im Parlament einen festen Platz und eine entscheidende Rolle sichern. Das Gesetz zur Einteilung der Wahlkreise garantiert außerdem durch eine große Zahl von kleinen Wahlkreisen eine zusätzliche Übermacht der konservativen Kräfte. So wird der Rahmen für eine schmutzige Praxis gesetzt, die in der politischen Literatur als „gerrymander“ bekannt ist.
Zukünftig soll das Verhältniswahlsystem gelten. Das Wahlgesetz hat jedoch den Rang eines „organischen“ Verfassungsgesetzes, dessen Änderung eine Mehrheit von vier Siebteln der amtierenden Abgeordneten und Senatoren erforderlich macht. Ein ziemlich schwieriges Anliegen, da die konservativen Kräfte, von der bisherigen Gesetzgebung bevorteilt, ihr Veto einlegen dürften.
Einen Vorgeschmack darauf bekommen wir schon in diesen Tagen. Der Präsidentschaftskandidat der UDI, Joaquín Lavín, das binominale System verteidigte und verkündete, dass die mögliche Pattsituation im Parlament – als Folge des Wahlsystems – gut für Chile sei: Sie zwinge die Regierungen zur Mäßigung. Sebastián Piñeira, der andere Rechtskandidat (RN-Partei), erklärte sich lediglich dazu bereit, „das binominale System zu perfektionieren“.

Keine Aufarbeitung der Diktatur

Diejenigen, die die bestialische Diktatur Pinochets möglich gemacht haben und jahrelang, sogar über die Dauer der Militärregierung hinaus unterstützt und verteidigt haben, sind noch immer nicht bereit, eine wirkliche Demokratisierung des Landes zu akzeptieren.
In letzter Zeit haben sich Armee, Marine, Luftwaffe und Polizei zu ihren Verbrechen während der Diktatur halbherzig und unvollständig bekannt. Auch seitens der Justiz und der Kirche haben wir kritische Stimmen über die Haltung dieser beiden Institutionen gegenüber der Diktatur gehört. Das sorgt noch lange nicht für Gerechtigkeit, ist immerhin aber ein erster Schritt.
Das Unternehmertum allerdings, die bürgerliche Presse und die konservativen Parteien haben sich bis jetzt dazu ausgeschwiegen. Sie versuchen das Land weiterhin im Griff zu behalten, zum einen durch das Instrumentarium ihrer in der Verfassung verankerten Wirtschaftsdiktatur, zum anderen durch neue Blockademechanismen im politischen System und durch die Massenmedien, die sie fast flächendeckend kontrollieren.
Die bürgerliche Presse kann jetzt in Chile und überall auf der Welt behaupten, dass Chile – erstes Beispiel für die Durchsetzung des neoliberalen Modells – sich von seinem blutigen Ursprung befreit hat und inzwischen salonfähig geworden ist. Vergebens: Das historische Gedächtnis, die Erinnerung und der Kampf derjenigen, die sich nicht dem autoritären neoliberalen System unterwerfen wollen – mit oder ohne reformierte Verfassung – lassen dies nicht zu.

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren