Argentinien | Nummer 317 - November 2000

Die dunklen Mächte hinter Olivera

Zahlreiche Hände halfen bei der Befreiung des argentinischen Ex-Militärs aus Italien

Mit Hilfe einer gefälschten Sterbeurkunde entging der argentinische Ex-Major Jorge Olivera seiner Auslieferung an Frankreich. Ohne sich die Echtheit des Dokumentes bestätigen zu lassen, hatte das römische Berufungsgericht eine Verjährung der Straftat angenommen. Das nach dem Völkerrecht unverjährbare Delikt der Folter wurde nicht einmal geprüft. Auf argentinischer Seite wird mittlerweile davon ausgegangen, dass eine ganze Organisation „helfender Hände“ an der Ausstellung des gefälschten argentinischen Dokuments beteiligt war.

Niels Müllensiefen

Am 6. August wurde der argentinische Ex-Major Jorge Olivera auf dem Flughafen in Rom auf Grund eines französischen Haftbefehls wegen der Entführung und Folter der Französisch-Argentinierin Marie Anne Erize festgenommen (vgl. LN 315/316). Nach 42 Tagen Haft, am 18. September, ließ ihn das römische Berufungsgericht wieder laufen.

Dunkle Mächte

„Welche dunklen Mächte befreiten Olivera?“ fragte die argentinische Zeitschrift Tres Puntos in ihrer jüngsten Ausgabe. Die italienischen Zeitungen La Repubblica und Il Manifesto waren zuvor so weit gegangen, eine Verwicklung von Geheimdiensten in die Befreiung des argentinischen Ex-Militärs anzunehmen. Eines steht jedenfalls fest: Der Fall Olivera hat sich zu einem handfesten Skandal sowohl für die italienische Justiz als auch für die Behörden der Stadt Buenos Aires ausgeweitet.
Eine Schlüsselfigur in diesem Skandal ist zweifellos Augusto Sinagra, einer der beiden italienischen Verteidiger Oliveras. Der streitbare Rechtsanwalt ist für seine Aufsehen erregenden Fälle bekannt. 1996 trat er vor der italienischen Justiz als Verteidiger des von Argentinien ausgelieferten ehemaligen SS-Hauptsturmführers Erich Priebke auf. Im vergangenen Jahr vertrat er die türkische Regierung im Auslieferungsverfahren gegen den nunmehr in Ankara zum Tode verurteilten Kurdenführer Abdala Öcalan. Außerdem unterhalten Sinagra wie auch sein Mandant Olivera gute Kontakte zu zahlreichen ehemaligen Mitgliedern der Loge Propaganda 2 (P 2). Dieser antikommunistische Geheimbund, der mit dem italienischen und dem US-amerikanischen Geheimdienst kooperierte, unterstützte auch die argentinische Militärdiktatur. 1982 war die P 2 durch ein italienisches Gesetz zur Bekämpfung von Geheimorganisationen aufgelöst worden. Zu diesem Zeitpunkt war Sinagra Anwalt von Licio Gelli, dem später aus Italien geflohenen Chef der Loge. Olivera, ebenfalls Jurist, ist heute Anwalt der Ex-Logenmitglieder Suárez Mason und Emilio Eduardo Massera. Gegen die beiden berüchtigten ehemaligen Angehörigen der argentinischen Streitkräfte laufen in Rom und in Buenos Aires Verfahren wegen Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur.

Die Richterin – ein Mitglied des Geheimbundes P 2?

Eine für den Fall Olivera mehr als brisante Verbindung deckte nunmehr die argentinische Zeitung Página 12 auf. Ihren Informationen zufolge soll die römische Richterin Serenella Siriaco, die mit zwei Kollegen für die Freilassung Oliveras sorgte, Mitglied der P 2 gewesen sein. Vor dieser Richterin und ihren beiden Kollegen spielte Sinagra die entscheidende Karte zur Befreiung seines Mandanten Olivera aus, als er dem Gericht die angebliche Sterbeurkunde von Marie Anne Erize vorlegte. Dem Dokument zufolge war die damals 24-jährige Erize am 11. November 1976, weniger als einen Monat nach ihrer Entführung am 15. Oktober 1976 in der Provinz San Juan, gestorben. Trotz gegenüber den Richtern geäußerter Zweifel an der Echtheit des Dokumentes hielten diese eine Untersuchung desselben nicht für erforderlich.

Haarsträubende Argumentation

Stattdessen legten sie als Ausgangsdatum für die Verjährung der Strafverfolgung den November 1976 fest. Da seit der Entführung Erizes, das heißt ihrer illegalen Festnahme durch Olivera, mehr als 22 Jahre vergangen sind, nahmen sie die Verjährung der Delikte nach italienischem Recht an. Dies schließt nach dem anzuwendenden europäischen Auslieferungsabkommen aus, dass der ehemalige Militärbefehlshaber an Frankreich übergeben werden kann.
Es wäre ein Leichtes gewesen, durch eine richterliche Anfrage bei den städtischen Behörden von Buenos Aires herauszufinden, dass es sich bei der vermeintlichen Urkunde und dem entscheidenden Datum um eine Fälschung handelte. Und zwar, wie es jetzt nach ersten argentinisch-italienischen Ermittlungen heißt, gar um eine plumpe. Verteidiger Sinagra hatte dem Gericht nichts anderes als die Fotokopie eines Antragsformulars für die Suche nach vermissten Personen präsentiert, nachträglich versehen mit offiziellen Stempeln und dem falschen Datum.

Kein Völkerrecht in Rom

Für Menschenrechtsanwälte und Völkerrechtler in aller Welt war die Entscheidung des römischen Berufungsgerichts bereits vor Bekanntwerden der Täuschung der Richter skandalös. In der Stadt, in der 1998 das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs verabschiedet worden war, wurde im Fall Olivera das Völkerrecht missachtet. Weder das Olivera von der französischen Justiz vorgeworfene Delikt der Folter noch das Verschwindenlassen von Personen wurde von den römischen Richtern geprüft. Beide Delikte sind im Völkerstrafrecht und im Statut des Internationalen Strafgerichtshofes als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft und unterliegen damit nicht der Verjährung.

Falsche Urkunde

Die falsche Urkunde wäre somit bei Anwendung des Völkerrechts bedeutungslos geworden. Mittlerweile sind sowohl in Rom als auch in Buenos Aires zahlreiche disziplinarische und strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet worden. Sie richten sich gegen die drei Richter des Berufungsgerichtes, gegen die beiden Verteidiger Oliveras, gegen Olivera selbst und gegen die für die Urkundenfälschung verantwortlichen Beamten in der argentinischen Hauptstadt. Der Bürgermeister von Buenos Aires, Aníbal Ibarra, reiste zur Aufklärung des Falles nach Rom, der italienische Vizekanzler Franco Danieli nach Buenos Aires.

Verhöhnung der Opfer

Doch den Folteropfern Oliveras und den Angehörigen der Verschwundenen können all diese Bemühungen freilich kein Trost sein, nachdem Olivera so kurz vor einer Auslieferung und Verurteilung in Frankreich stand. Kaum zurück in seiner Heimat, nahm er sofort die Gelegenheit wahr, seine Opfer auf ein Neues zu demütigen. Gestärkt durch das erfolgreiche Gerichtsmanöver warf der argentinische Ex-Militär vor den Fernsehkameras die Fäuste in die Luft und verkündete: „Es gab keine Repression in Argentinien!“

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