Die gesellschaftliche Struktur der Straffreiheit
“Niemals in der Geschichte von El Salvador hatte sich irgendein Militärangehöriger vor Gericht zu verantworten […] hier war kein Militärangehöriger jemals – und darf es auch in Zukunft nicht werden – an irgendein Gesetz der Republik gebunden.” Der Satz stammt von einem gewissen Aguiles Baires, mutmaßlicher Kommandant der Todesschwadron “Maximiliano Hernández Martínez”, der Allianz der Antikommunistischen Aktion. Der Satz spiegelt eine tiefe Überzeugung breiter Schichten der salvadorianischen Armee wieder.
“Hier war kein Militärangehöriger jemals – und darf es auch in Zukunft nicht werden – an irgendein Gesetz der Republik gebunden”; dies muß auch Oberst Benavides in jener Nacht des 15. November vergangenen Jahres gedacht haben, als er die Sitzung des Generalstabs verließ und die Kommando-Einheit des Bataillons Atlacatl einberief, um die Leutnants Espinoza Guerra und Mendoza Vallecillos mit der “Mission” zu beauftragen, die Jesuiten zu ermorden, weil “das Vaterland in Gefahr” sei. Der Widerstand gewisser Sektoren innerhalb des Militärs gegen die gerichtliche Verfolgung von Benavides läßt sich angemessen nur durch diese allgemeine Wahrnehmung der Offiziere erklären. Sie glauben sich, wie Nietzsches Übermensch, an einem Ort, jenseits von Gut und Böse, dort, wo sie kein Gesetz der Republik erreichen kann. Ironischerweise maßen sie sich jedoch gleichzeitig an, Legalität für sich in Anspruch zu nehmen.
Als am 6. Januar der Präsident Cristiani öffentlich verkündete, was Tutela Legal (Menschenrechtsorganisation der kath. Erzdiozöse; d. Übers.) schon sechs Wochen vorher behauptet hatte, nämlich, daß die Armee an dem Massaker an den Jesuiten beteiligt war, schien die bisher ungebrochene Straffreiheit der Militärs für Menschenrechtsverletzungen Risse zu bekommen. Einige glaubten sogar, El Salvador würde zu einer richtigen Demokratie werden. Diese Hoffnung verstärkte sich noch, als der Präsident eine Woche später die Namen der Offiziere enthüllte, die an dem Massaker beteiligt waren. Das hatte es in der Geschichte des Landes noch nie gegeben, daß ein Oberst in einer solchen Angelegenheit vor Gericht gestellt wurde. Aber die Ressourcen der Straffreiheit sind unerschöpflich; die Nachricht, daß Benavides ein Privatappartement habe, häufig Besuch erhalte und besonderes Essen serviert bekomme, erschien zuerst in der Washington Post am 22. Februar, blieb aber zunächst völlig unbeachtet. Die Zeitung fügte hinzu, daß Cristiani ärgerlich sei über die konfortable Luxusbehandlung Benavides`; die Situation sei jedoch – so Cristiani – tolerierbar, solange Benavides an seinem Zwangsaufenthalt verbleibe.
Die Situation ist ernst, nicht so sehr wegen der materiellen Bequemlichkeiten, die Benavides genießt, sondern vielmehr wegen der gesellschaftlichen Struktur der Straffreiheit, die dies ermöglicht. Das übergeordnete Problem des Respekts der Menschenrechte in El Salvador wurzelt in eben dieser Struktur der Straffreiheit für die Streitkräfte, die die Menschenrechte konsequent und immer wieder mit Füßen treten. Die Bemühungen der USA, die Idee der Achtung der Menschenrechte innerhalb der Armee zu verankern, sind kläglich gescheitert. Die USA haben während des zehnjährigen Krieges nicht ein einziges Mal wirksame Maßnahmen ergriffen, um zu verhindern, daß Soldaten straffrei davonkommen. Man konnte nach dem Massaker an den Jesuiten glauben, daß sich die Situation zu verbessern begänne, aber die Tatsache, daß die Armee als Institution an der “Strafverfolgung” maßgebend beteiligt ist und Benavides ein solch luxuriöses Leben bereitet, könnte den größten Optimisten demoralisieren. Die Struktur der Straffreiheit der Streitkräfte nach Menschenrechtsverletzungen ist so tief verwurzelt, daß auch die USA nichts dagegen unternehmen konnten. Wenn dies in einem Fall wie dem der Jesuiten passiert, in dem Protest und Abscheu weltweit zu vernehmen waren und in dem die USA soviel Druck ausgeübt haben, was ist dann bei Gewalttaten zu erwarten, die Soldaten in irgendeinem abgelegenen Dorf verüben?
Dieses Problem der Straffreiheit hat auch wichtige Konsequenzen für die Durchführbarkeit des sogenannten demokratischen Prozesses in El Salvador. Streng genommen handelt es sich um ein strukturelles Problem eines jeden politischen Systems, das eine demokratische Struktur über einem hypertrophierten Militärapparat installieren möchte. Es ist kaum zu erwarten, daß “wer bewaffnet ist, bereitwillig dem gehorcht, der unbewaffnet ist”, formulierte Machiavelli im Jahre 1513. Die Menschen unter Waffen sind von daher immer versucht, die politische Kontrolle von Demokratien zu übernehmen, deren Bestehen sie eigentlich garantieren sollten. Die Geschichte Lateinamerikas bietet dafür überreiches Anschauungsmaterial. El Salvador ist dabei keine Ausnahme gewesen. Aber es gibt verschiedene Niveaus von Straffreiheit, und hier kann sehr wohl davon gesprochen werden, daß unser Land zu den Ausnahmefällen gehört.
Einigen Militärdiktaturen schlug bereits – wenngleich noch schüchtern – mit dem Beginn der Demokratie ihre Stunde von Nürnberg. Die südamerikanischen Militärs haben begonnen zu begreifen, daß sie nicht straffrei ihre Gewehre auf die zivile Gesellschaft richten können. In El Salvador hingegen existiert noch keine Rechtsstruktur, die in der Lage wäre, einen uniformierten Kriminellen zur Verantwortung zu ziehen. Dies ist nicht nur ein Mangel der Vergangenheit. Wir haben hier im letzten Vierteljahr die Massaker an der UCA, von Cuscatancingo und von Guancorita erleben müssen. Dies wird – ohne Ermittlungsverfahren und Anklageerhebung – so weitergehen, während die salvadorianischen Militärs sich auch zukünftig als eine gesellschaftliche Kaste wähnen, die über “den Gesetzen der Republik” steht.