Erinnerung | Nummer 363/364 - Sept./Okt. 2004

Die Grenzen der Erinnerung

Repression, Erinnerungskultur und Erinnerungsarbeit in Guatemala

Fünfeinhalb Jahre nach Veröffentlichung des Abschlussberichtes der guatemaltekischen Wahrheitskommission sind die Möglichkeiten des Erinnerns in der Nachkriegsgesellschaft immer noch stark beschränkt. Die öffentliche Berichterstattung wird zur Zeit von zwei Themen dominiert: den Entschädigungsforderungen der ehemaligen Mitglieder der PAC (ehemalige zivile Selbstverteidigungspatrouille) und der zunehmenden öffentlichen Unsicherheit, die sich in Form einer rapide steigenden Zahl von Frauenmorden manifestiert. Beides sind ganz unterschiedliche Phänomene, die den Erinnerungsprozess in Guatemala beeinträchtigen. Sie zeigen zudem auf, in welchen Arenen der ungleiche Kampf um eine gerechte Erinnerung ausgetragen wird.

Anika Oettler

Eine wahre Schockwelle zog sich durch die Stadt, als die guatemaltekische Kommission zur historischen Aufklärung (CEH) im Februar 1999 ihren Abschlussbericht präsentierte. Die Kommission hatte die bürgerliche Öffentlichkeit mit dem zwischen 1981 und 1984 staatlich begangen Völkermord konfrontiert und auf die jahrhundertelange Tradition der Ausbeutung und Unterdrückung der indigenen Bevölkerung verwiesen. Insgesamt 200.000 Menschen, so die Schlussfolgerung der CEH, waren zwischen 1961 und 1996 der »bewaffneten Auseinandersetzung« zum Opfer gefallen. Mit der »Politik der verbrannten Erde« hatte der guatemaltekische Staat in den frühen 1980er Jahren versucht, die indigene Bevölkerung auszulöschen, die als soziale Basis der Guerilla galt: 626 Massaker sind die blutige Spitze eines Eisberges unvorstellbarer Grausamkeiten, die in diesem Kontext verübt wurden. 93 Prozent aller Menschenrechtsverletzungen, die die Wahrheitskommission registriert hatte, gingen aufs Konto staatlicher Kräfte. In 18 Prozent aller Fälle von Menschenrechtsverletzungen waren Mitglieder der staatlich eingerichteten „Zivilen Selbstverteidigungspatrouillen“ (PAC) beteiligt (siehe Kasten).
Zwar weigerten sich sowohl der damalige Präsident, Alvaro Arzú, als auch führende ProtagonistInnen der Aufstandsbekämpfung, die Ergebnisse der Wahrheitskommission öffentlich anzuerkennen, doch schien die Veröffentlichung der „Erinnerung an das Schweigen“ einen Wendepunkt in der guatemaltekischen Geschichte und einen umfassenden Bewusstseinswandel zu markieren. Bis dato war es in Guatemala unmöglich gewesen, über die politische Geschichte des Landes zu sprechen. Nachdem jahrzehntelang die Angst vor allem die zivilen Opfer des Krieges beherrscht hatte, öffnete sich nun ein öffentlicher Raum zur Bearbeitung der Kriegsvergangenheit.

Weniger Lügen

Damit hatte die guatemaltekische Wahrheitskommission ihr Ziel erreicht. Ihr Ziel erreicht? Seit in den frühen achtziger Jahren die ersten Wahrheitskommissionen eingesetzt wurden, hat sich nicht nur die Praxis der Wahrheitsfindung kontinuierlich verfeinert, auch die Zielsetzung ist immer umfangreicher geworden. Inzwischen gelten Wahrheitskommissionen im politischen Diskurs oft als Allheilmittel zur Überwindung traumatischer Vergangenheiten und zur gesellschaftlichen Versöhnung. Allerdings kann es psychologisch verheerende Auswirkungen haben, das Projekt einer Wahrheitskommission mit solcherart übersteigerten Ansprüchen zu versehen und damit Erwartungen zu produzieren, die mit diesem politischen Instrument niemals eingelöst werden können. Der Professor für Menschenrechtspolitik an der Universität Harvard Michael Ignatieff stellte fest, dass eine Wahrheitskommission lediglich die Anzahl der Lügen beschränken kann, die unangefochten im öffentlichen Raum kursieren. Das wesentliche Ziel einer Wahrheitskommission besteht also darin, eine vormals hegemoniale Wahrheit aufzubrechen: die Wahrheit der TäterInnen. Im guatemaltekischen Fall suchten diese die von ihnen begangenen Grausamkeiten mit der Notwendigkeit zu legitimieren, das Land vor der Subversion zu retten. Die Schuld an den Gräueltaten schoben sie den Opfern selbst zu.

Wahrheitskommission und kulturelles Gedächtnis

Vor diesem Hintergrund hatte der 25. Februar 1999, der Tag der Wahrheit, eine herausragende Bedeutung für die guatemaltekische Nachkriegsgeschichte – ungeachtet der Abwehrbewegung durch erzreaktionäre oder militärische Kreise. Die Präsentation des Abschlussberichtes hatte zum ersten Mal in der Geschichte Guatemalas zu einer umfassenden und freien Debatte über Rassismus, Autoritarismus und Schuld geführt. Neben PolitikerInnen, Geistlichen und JournalistInnen, die ohnehin stets zur Produktion des öffentlichen Diskurs beitragen, beteiligten sich daran viele Menschen – vor allem aus der Mittelschicht – die sich noch nie mit der Geschichte ihres Landes auseinander gesetzt hatten. Auch wenn die „Erinnerung an das Schweigen“ schnell von anderen tagespolitischen Ereignissen und alltäglichen Sorgen überlagert wurde, haben die grundsätzliche Akzeptanz der Kommissionsergebnisse und die öffentliche Diskussion den Grundstein für künftige Auseinandersetzungen gelegt. Aus den Mittelschichten rekrutieren sich traditionell die Berufe, die mit der Vermittlung von Geschichtsbewusstsein unmittelbar oder mittelbar im Zusammenhang stehen. LehrerInnen, ÄrztInnen und JuristInnen etwa haben großen Einfluss auf die Tradierung historischer „Wahrheiten“. Sie werden mit der „Erinnerung an das Schweigen“ auf einen historischen Grundlagentext zurückgreifen können, der einen wesentlichen Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses bildet – oder bilden wird, denn nur wenige haben den Bericht bisher gelesen.

Lebendiges Erinnern

Entscheidend für den Umgang mit der Vergangenheit und den trotz allem weiter bestehenden Angst- und Repressionsstrukturen in Guatemala sind lokale Ansätze von Erinnerungsarbeit. Auch aus der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte kennen wir das Phänomen, dass es eine umfassende offizielle Erinnerungskultur gibt, in den Familien jedoch die Vergangenheit tabuisiert und beschwiegen wird. In Guatemala haben sich eine Reihe von Initiativen gefunden, die auf lokaler Ebene die Aufarbeitung der Vergangenheit vorantreiben und dort wirken, wo Geschichtsbewusstsein gebildet und weitergegeben wird: in der alltäglichen Kommunikation.
In diesem Kontext war und ist vor allem das von der katholischen Kirche getragene „Projekt zur Wiederaneignung der historischen Erinnerung“ (REMHI) bedeutend, das inzwischen von einer ganzen Reihe von kirchlichen und nicht-kirchlichen Projekten zur Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit flankiert wird. REMHI hat 1998 einen Bericht mit dem Titel „Guatemala- nie wieder!“ vorgelegt, der den methodischen Ansatz des Projektes widerspiegelt: es handelte sich nicht darum, auf der Basis von Zeuginnen- und Zeugenaussagen Statistiken des Horrors zu erarbeiten, sondern die Erfahrung der Menschen zu dokumentieren und an und mit dieser Erfahrung zu arbeiten. Die Sammlung von Aussagen sollte die Initialzündung für einen sozialen Prozess sein, der auf eine Wiederherstellung des Zusammenhaltes in den Gemeinden zusteuert.
Es ging den MitarbeiterInnen des REMHI-Projektes nicht um eine individuelle Betreuung oder Therapie, sondern um angeleitete Gruppenprozesse. Vielerorts sind Gruppen von Betroffenen entstanden – oftmals Frauengruppen -, die sowohl die Vergangenheit durch das Erzählen des Geschehenen gemeinsam bearbeiten als auch existenzielle Sorgen der Gegenwart angehen. Die Bedeutung dieses Erzählens oder das künstlerische Bearbeiten dessen, was kaum erzählbar ist, lässt sich selbst nur schwer in Worte fassen: ein Teilen von Trauer, das Kraft gebiert.
REMHI und andere Projekte sind erste und entscheidende Schritte, um Vergangenheit erzählbar zu machen, um die durch den Terror erzeugte soziale Isolation der Opfer aufzubrechen und um ihre existenziellen und psychischen Nöte zu lindern.

Der Kampf um die Erinnerung

Diese Arbeit jedoch stößt immer wieder an die Grenzen der gesellschaftlichen Wirklichkeit. 48 Stunden nach der Präsentation von „Guatemala – nunca más!“ wurde der Projektleiter von REMHI, Bischof Juan Gerardi Conadera, in seiner Garage erschlagen.
Die Ermordung Gerardis im April 1998 wurde gemeinhin als eine Warnung an all diejenigen verstanden, die sich im Kampf um eine gerechte Erinnerung engagieren. Dieser Kampf war nach der Präsentation des Abschlussberichtes der Wahrheitskommission indes längst nicht beendet. Wenn eine Wahrheitskommission – um bei dieser einfachen, aber grundlegenden Formel zu bleiben – im wesentlichen dazu dient, die Anzahl der unangefochtenen Lügen im öffentlichen Raum zu reduzieren, so stellt sich 5 ½ Jahre nach dem Ende der Kommissionstätigkeit die Frage nach der Nachhaltigkeit dieses Unternehmens. Die Erinnerung an die vergangenen Gräuel, die als traumatische Erlebnisse immer präsent sind, findet in einer gewalttätigen gesellschaftlichen Atmosphäre statt. Nach dem Friedensschluss ist die Kriminalität explodiert: im Verlaufe dieses Jahres sind bei der Polizei in der Hauptstadt bereits 807 Anzeigen eingegangen, die das Verschwinden von Personen betrafen. Ein besonders bedrohliches Symptom der Unsicherheit ist die Zahl der Frauenmorde, die in der ersten Jahreshälfte bei 250 liegt. Ein großer Teil der Verbrechen ist das Produkt intrafamiliärer Gewalt. In vielen Fällen werden jedoch Frauen vergewaltigt, ermordet, verstümmelt und als Zeichen des Terrors in Straßengräben hinterlegt. Damit werden in einem Klima von Straflosigkeit die Angststrukturen, die sich nach dem Friedensschluss nie aufgelöst hatten, nicht nur gefestigt: zu der Allgegenwart der Bedrohung kommt das Unheimliche, das daraus resultiert, dass – insbesondere bei den Frauenmorden – die Hintergründe und die Urheberschaft im Dunkeln liegen. Seit Mitte 2001 leben außerdem Angehörige von Menschenrechtsorganisationen, Bauern- und Gewerkschaftsverbänden, kirchlichen Einrichtungen und indigenen Gruppierungen erneut unter dem Damoklesschwert einer selektiven Repression. Diese ist auf eine von Mafia, militärischen Gruppen und lokalen Repressionsinstrumenten gebildete klandestine Struktur zurückzuführen.
Die Entwicklung der ökonomisch oder politisch motivierten Gewalt setzt den Möglichkeiten des Erinnerns enge Grenzen. Doch auch auf der Ebene der nationalen (symbolischen) Politik steht gegenwärtig die Wahrheit der Opfer, die durch die Wahrheitskommission öffentliche Anerkennung erfuhr, erneut auf dem Spiel.

Ehre, wem Ehre gebührt?

Im Sommer 2002 hatten (ehemalige) Mitglieder der (ehemaligen) PAC (siehe Kasten) begonnen, Entschädigungszahlungen für ihre im Krieg geleisteten Dienste einzufordern. Die Regierung Portillo hatte damals, im Vorfeld der Wahlen, schnell reagiert und die Zahlung von umgerechnet etwa 556 Euro pro PAC-Mitglied zugesagt. Noch unter Portillo erhielt ein großer Teil von insgesamt 450.000 (ehemaligen) PAC-Mitgliedern eine erste Rate von etwa 185 Euro. Nachdem unter dem neuen Präsidenten zunächst das Verfassungsgericht gegen die Entschädigungsleistungen entschieden hatte, verabschiedete der Kongress Ende August ein Gesetz, welches Entschädigungen an PAC-Mitglieder vorsieht – und zwar ungeachtet ihrer Verstrickung in schwere Menschenrechtsverletzungen.
Die Entschädigungszahlungen werfen nicht nur hinsichtlich der Vergabepraxis große Probleme auf: sie sind psychologisch verheerend. Die Frage der Entschädigungen der PAC hatte zunächst überdeutlich gezeigt, dass die lokalen Repressionssysteme mit der formalen Auflösung der PAC im Jahre 1995 nicht verschwunden sind. Im Gegenteil, die gesellschaftliche Realität ist von einer äußerst intakten und lebendigen klandestinen Repressionsstruktur geprägt. Mit der faktischen Anerkennung der PAC-Organisationen durch die Regierung Portillo ist nicht nur eine repressive soziale Kraft gestärkt worden, sondern zugleich die Wahrheit der Täter.
Auch wenn sich mit 556 Euro einige Löcher in Armutshaushalten stopfen lassen, geht es bei Entschädigungen nicht um materielle Zuwendungen. Es geht um die offizielle Anerkennung als Opfer und damit um das Eingeständnis staatlicher Schuld. Als die guatemaltekische Wahrheitskommission 1999 ihren Abschlussbericht präsentierte, empfahl sie unter anderem ein „nationales Entschädigungsprogramm“ durchzuführen. Dieses sollte den zivilen Opfern der „bewaffneten Auseinandersetzung“ zugute kommen. Dieses Entschädigungsprogramm wurde unter den Regierungen Arzú und Portillo nicht aufgelegt und befindet sich gegenwärtig in einem Vorbereitungsstadium. Die diesbezüglichen Planungen sehen kollektive Reparationen und keine individuellen Entschädigungen vor. Solche kollektiven Reparationen beschränken sich oftmals auf soziale Basisinfrastruktur wie Schulen und Krankenhäuser und in einigen comunidades erreichen sie deshalb die Opfer und die TäterInnen gleichermaßen. Abgesehen davon können sie vor allem eines nicht leisten: die Leidensgeschichten der einzelnen anzuerkennen. Für die Bearbeitung von Traumata sind Rituale bedeutend, die einen symbolischen Abschluss der Leidensgeschichte ermöglichen. Bei diesen Ritualen kann es sich sowohl um Exhumierungen und die anschließende Bestattung der Knochen handeln als auch um Reparationsleistungen. Letztere müssen jedoch für die Hinterbliebenen eine erkennbare Gabe zur „Wiedergutmachung“ des konkreten Leides sein. Schwammige Gesten und dürftige Finanztransfers in abgelegene Regionen helfen nicht.
Die Entwicklungen im Zusammenhang mit der Entschädigungsfrage haben insgesamt eine für viele Opfer retraumatisierende Wirkung. Viele der PAC-Mitglieder waren nicht nur TäterInnen, sondern zugleich Opfer. Dennoch führt die gegenwärtige Entschädigungspraxis ausschließlich zu einer Anerkennung der Leidensgeschichten derjenigen, die in das Zwangssystem der PAC integriert wurden und in diesem Kontext unvorstellbare Verbrechen begangen haben. Die Überlebenden dieser Gräueltaten indes werden nicht oder nur am Rande gehört.
Die Entwicklungen in der guatemaltekischen Nachkriegszeit laden nicht zu optimistischen Prognosen ein. Doch auch wenn Gewalt und Repression ihre blutige Spur durch die guatemaltekische Nachkriegszeit ziehen, ist vielerorts der Kampf um eine gerechte Erinnerung nicht aufgegeben worden. Die steigende Anzahl lokaler Denkmäler ist ein sichtbarer Ausdruck davon.

Kasten:
Das Zwangssystem der „Zivilen Selbstverteidigungspatrouillen“

1981 begann das guatemaltekische Militär damit, die militärische Aufstandsbekämpfung durch die Bildung eines paramilitärischen Überwachungs- und Terrornetzes zu ergänzen. Mit der Einrichtung der „Zivilen Selbstverteidigungspatrouillen“ (PAC) verband sich der Versuch, alle Bewegungen der Zivilbevölkerung zu kontrollieren (Ausgangssperren, Passierscheine), traditionelle Autoritäten zu ersetzen und die comunidades, die als Brutstätte der Subversion galten, zu spalten. In den Militärbasen wurde die Bevölkerung registriert, Befehle ausgegeben und das Foltern und Töten gelehrt. Bei den PAC handelte es sich um ein Zwangssystem, das sich vor allem durch die Verpflichtung zu zeitaufwendigen Patrouillengängen (die nicht selten 24 Stunden dauerten) und ein umfassendes Strafsystem auszeichnete.
Trotz des Zwangs- und Überwachungscharakters der PAC variierte ihre Einbeziehung in die Repressionspraxis; einige comunidades haben sich zwar organisiert, jedoch das Überwachungssystem unterlaufen (CEH, Bd. II, S.199, §1313). Viele PAC-Mitglieder haben jedoch die damit verbundene Machtposition ausgenutzt, persönliche Zwiste blutig beendet, Nachbarn denunziert, Exzesse begangen, vergewaltigt, geplündert und geraubt. Über das Zwangssystem, die Androhung und Durchführung von Strafen und das gemeinsame Erleben von Folter, Mord und Vergewaltigung wurden die Mitglieder der PAC in eine männerbündlerische Komplizenschaft hineingezogen. Die Wahrheitskommission ist zu dem Ergebnis gekommen, daß die PAC an 18 Prozent aller von der CEH dokumentierten Fälle von Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren. Davon hatten sie 85 Prozent gemeinsam mit dem Militär und 15 Prozent eigenständig begangen.

(Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Iberoamerika-Kunde in Hamburg. Gerade ist ihr Buch „Erinnerungsarbeit und Vergangenheitspolitik in Guatemala“ beim Vervuert-Verlag erschienen.)

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