Die Justiz auf der Anklagebank
Das Schwarzbuch von Alejandra Matus dokumentiert das Unrecht im chilenischen Rechtssystem
Wenn man wie Alejandra Matus nahezu ein Jahrzehnt als Gerichtsreporterin für chilenische Tageszeitungen gearbeitet hat, können einem die Abgründe hinter den Kulissen der chilenischen Justiz unschwer verborgen bleiben. Als selbstgefällig, pflichtvergessen und auf dem rechten Auge blind sind insbesondere die Richter des Obersten Gerichtshofs in der Öffentlichkeit bekannt, ein Bild, das sich insgesamt mit einer von der breiten Bevölkerung als korrupt und willfährig angesehenen Judikative deckt. Nachdem diese Eindrücke jedoch bisher nur die Gestalt von Gerüchten hatten, unternahm nun das „Schwarzbuch“ den Versuch, die wenigen Hinweise durch Recherchen zu erhärten.
Herausgekommen ist ein durch zahlreiche Episoden und Anekdoten angereicherter dreihundertseitiger Bericht, der die dunklen Machenschaften der chilenischen Justiz ohne Rücksicht auf Rang und Namen beschreibt. Will man den Schilderungen der Autorin Glauben schenken, dann standen und stehen Rechtsbeugung, Bestechung und unlautere Einflußnahme auf laufende Gerichtsverfahren nachgerade auf der Tagesordnung der obersten Richter.
Die Laster der Richter
Und über den bis 1998 vorsitzenden Richter des Obersten Gerichtshofes, Servando Jordán, weiß Matus zu berichten: „Nicht selten ertappten ihn Mitarbeiter (…) dabei, wie er den Whisky aus der Flasche trank, die er in seinem Büro (…) stets griffbereit hielt. (…) Auch die Carabineros, die sein Haus bewachten, wußten um seine Gewohnheiten. Zum Beispiel über seine Leidenschaft, im Suff auf Motorrädern herumzurasen.“ Selbstredend auch das Portrait, das die Autorin von dem ehemaligen Militärstaatsanwalt García Pica zu zeichnen weiß: „Tagtäglich [kamen] verschiedene Mädchen und [fragten] nach dem ‘Onkel Staatsanwalt’. Alle [waren] sie seine Nichten. (…) Er [zog] sie aus, [machte] Photos von ihnen.“ Einziger Schönheitsfehler, der Alejandra Matus zugleich zum Verhängnis wurde: Im konkreten Einzelfall bleibt sie einen letzten Nachweis für ihre Anschuldigungen schuldig, wenn sie, gestützt auf „Aussagen hoher Beamter“ und „Gespräche mit Angestellten des Obersten Gerichtshofes“, jene als dem Alkohol verfallene, zur Pädophilie neigende oder vom Drogenhandel korrumpierte Tattergreise porträtiert.
Schluß mit der Selbstzensur
Unklar ist, warum die Verfasserin meinte, sich zu diesen Anschuldigungen ausdrücklich versteigen zu müssen, mußten diese – unbeschadet der Glaubwürdigkeit ihrer Behauptungen – angesichts der fehlenden Fakten doch beinahe notwendigerweise zu einem Publikationsverbot ihres Buches führen. Mangelnde Kenntnis der chilenischen Gesetze, die kritische Journalisten de facto immer wieder zur Selbstzensur nötigen, oder fehlendes schriftstellerisches Geschick wird man ihr nicht vorwerfen können. Möglich, daß es Matus einfach leid gewesen ist, sich immer wieder „alle möglichen Euphemismen und Sprachwendungen auszudenken, um der Strenge des Staatssicherheitsgesetzes auszuweichen“, wie sie im Vorwort der argentinischen Ausgabe ihres Bandes mit Blick auf ihre jahrelange Tätigkeit als Gerichtsreporterin beklagt. Möglich aber auch, daß die Verfasserin durch eine solche Vorgehensweise insgeheim darauf spekulierte, sich die (Un-)Rechtslage im eigenen Land und die programmierte Reaktion der in ihrer „Ehre“ verletzten Richter nicht gänzlich selbstlos für eigene PR-Zwecke zunutze machen zu können. Ohne die Konfiszierung ihres Schwarzbuches hätte dieses wohl kaum jenen Bekanntheitsgrad erlangt, der ihm nun, weit über die Grenzen des Landes hinaus, zuteil wird.
Dennoch täte man der Autorin unrecht, ihr Buch als eine auf einer ungenügenden Quellenlage basierende Sammlung richterlicher Einzelportraits abzutun. Tatsächlich zeichnet Matus nicht nur das Bild eines nach wie vor durch Vetternwirtschaft, Korruption und Kooptierung seiner Mitglieder bestimmten Obersten Gerichtshofes, sondern sie stellt in insgesamt sechs – halb chronologisch, halb thematisch angeordneten – Kapiteln auch historische und aktuelle politische Bezüge her. Ihre These: Eine Justiz, die sich als dritte Gewalt begreift, hat es in Chile nie gegeben; vielmehr handele es sich bei ihr um einen Teil des öffentlichen Dienstes. Matus hat dabei vor allem eines im Blickpunkt: die erbärmliche Praxis der Obersten Richter zur Zeit des Pinochet- Regimes, vor den massiven und systematischen Menschenrechtsverletzungen die Augen zu verschließen.
Eine unabhängige Justiz gab es nie
„Keine zwanzig Mal“, so will die Verfasserin wissen, „haben die Gerichte ihre Untersuchungsrichter angeordnet, in den Haftzentren der Geheimpolizei vorstellig zu werden (…) bei insgesamt mehr als 10 000 Habeas Corpus-Gesuchen, die ihnen während des Militärregimes vorgelegt wurden.“ In der Regel wiesen die Richter dabei die Gesuche mit der Begründung zurück, „daß es keine Informationen gäbe, die eine rechtlich wirksame Verhaftung belegten. Gab das (Innen-)Ministerium die Verhaftung zu, selbst wenn es diese zuvor abgestritten hatte (…), wiesen die Gerichte das Gesuch gleichwohl zurück, indem sie darauf verwiesen, daß die Verhaftung durch die zuständige Behörde angeordnet worden sei.“
Hätten die Richter entschlossener und pflichtbeflissener gehandelt; viele Menschenleben hätten wohl gerettet werden können, wie diejenigen der drei Opfer, die 1985 auf offener Straße verschleppt und tags darauf mit durchgeschnittenen Kehlen aufgefunden wurden. Der zuständige Richter Manuel Silva Ibañez, so Matus, hatte der Bitte eines Anwaltes, „unverzüglich [in einem nahegelegenen Polizeiquartier, wo die Opfer gefangengehalten wurden] vorstellig zu werden, kein Gehör schenken (wollen).“ Schade nur, daß die Autorin hier gänzlich auf die Angabe ihrer Quellen verzichtet hat und offenbar noch nicht einmal den Versuch unternehmen wollte, ihre Behauptungen auch nur ansatzweise zu belegen.
Herzliche Beziehungen zwischen Justiz und Militär
Wirklich zu überzeugen vermag hingegen der Versuch von Matus, den Grund für die „von Anbeginn herzlichen Beziehungen“ zwischen Militär und Justiz im historischen Rückblick auszumachen: Nach dem Bürgerkrieg (1891), mutierten die Gerichte, die definitiv eine Domäne der Konservativen waren, nicht nur bald zu „bloßen Verwaltungsstellen der Exekutive“, sondern waren außerdem als korrupte Klassenjustiz auch in der Öffentlichkeit – ähnlich wie die Uniformierten nach ihren politischen Ausflügen in den 20er Jahren – zutiefst diskreditiert. Vom chilenischen Gesetzgeber wurden sie seit den dreißiger Jahren vernachlässigt, dann zunehmend vergessen. So konnte sich in der Judikative – wie auch in den Streitkräften – unter dem Banner der „Professionalisierung“ ein Korpsgeist und ein immer stärkeres doktrinäres Eigenleben entwickeln, angefangen mit zunächst „unverdächtigen“ Forderungen nach Lohnerhöhungen unter Frei Montalva (1964–70), die dann unter Allende (1970–73) ungleich politischer wurden, als man sich gegen den Vorwurf seitens der Gewerkschaften und der UP-Regierung wehren mußte, eine Klassenjustiz zu sein. Tatsächlich durften sich Richter und Uniformierte gleichermaßen zum Zeitpunkt des Putsches von der Bevölkerung wie von der politischen Klasse als „ausgegrenzt, geringgeschätzt, unverstanden und instrumentalisiert“ verstanden haben.
Parallelen fanden sich schließlich auch unter der Pinochet-Diktatur: Beide bürokratischen Apparate werden von den einschneidenden Rationalisierungsmaßnahmen ausgenommen und schalten sich durch personelle Säuberungen definitiv ideologisch gleich. Gesicherten Angaben der Autorin zufolge, wurden allein „zwischen 1973 und 1975 mehr als 250 Richter und Justizbeamte versetzt, abgesetzt oder zum Rücktritt gezwungen.“
Jene handvoll Richter, die wie Carlos Cerda, René García oder Milton Juica versuchten, sich gegen die herrschende Doktrin des Unterlassens, Wegsehens und Verschweigens zu stellen, wurden von ihren eigenen Kollegen abgestraft und mit Berufsverboten belegt, weil sie „auf das Schwerste gegen die richterliche Disziplin verstoßen (hatten)“. Sie denunzierten Fälle von Folter oder weigerten sich, die Amnestieverordnung automatisch auf jedes Menschenrechtsverfahren anzuwenden. Auch nach fast zehn Jahren unter den demokratischen Vorzeichen der Regierungen Aylwin und Frei finden sich diese Richter heute mitnichten rehabilitiert. Im Gegenteil: Erst letztes Jahr wurde Milton Juica die Berufung zum Obersten Richter durch den von der politischen Rechten dominierten Senat versagt.
Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen
Deshalb ist auch die als „Jahrhundertwerk“ gepriesene Justizreform eher den um Rechtssicherheit für ihre Geschäfte besorgten ausländischen Investoren zu verdanken denn „der Haltung der Justiz gegenüber dem Thema der Menschenrechte“. Gleichwohl lassen die jüngsten strukturellen Reformen die Autorin am Ende auf eine „bessere, (…), menschlichere (…) und entschiedenere Justiz als in der Vergangenheit“ hoffen. Es wäre Chile auf dem Weg zu einem Rechtsstaat zu wünschen.
Alejandra Matus: El Libro Negro de la Justicia chilena. Editorial Planeta Argentina, Buenos Aires 1999. [ISBN 950-49-0222-7, 349 S., 17 US$.]