Die Linie
Hunderttausende Mexikaner warten an der Grenze auf eine Möglichkeit, illegal in die USA einzureisen. Aber die „Linie“ wird militärisch abgeschottet.
In Tijuana will eigentlich keiner bleiben. Trotzdem wird die mexikanische Grenzstadt zu den USA immer größer. Die Busse aus dem Süden bringen jeden Tag Hunderte, deren Reisegepäck aus einer Plastiktüte oder einem kleinen Koffer besteht. Menschen aus Guatemala, El Salvador, Nicaragua, aber die meisten kommen aus den südlichen Bundesstaaten Mexikos. Und auch aus dem Norden, aus den USA, treffen jeden Tag Tausende ein, unfreiwillig allerdings. Sie sind die von der Grenzpolizei Abgeschobenen. Ihr Gepäck ist genauso ärmlich. Etwa 1,5 Millionen MexikanerInnen waren es laut offizieller Zahlen, die 1997 von den US-Behörden des Landes verwiesen wurden. Sie hatten geschafft, was die Ankömmlinge in Tijuana erst noch vor sich haben: Illegal die Grenze, die „Linie“, zu überqueren. Doch Tijuana ist für viele Ausgangspunkt und Endstation ihrer Reise ins Land der spiegelverglasten Wolkenkratzer, wo es Arbeit geben soll und wo man Geld verdienen kann, wenn man nur tüchtig genug ist. Wo allerdings auch die Migrationspolizei jeden verhaftet, der nicht um Erlaubnis gefragt hat, sich den „amerikanischen Traum“ zu erfüllen. In Tijuana, der Stadt der Gewalt, des Drogenhandels, der Billiglohnfabriken und unzähligen Bordelle, will keiner bleiben, doch die Armenviertel wachsen in alle Richtungen.
Ramón ist einer, der hängen geblieben ist. „Ich warte auf Arbeit“, sagt er. Mit einem Dutzend anderer junger Männer steht er bei Sonnenaufgang an einer Straßenecke in einem der Vororte. „Hin und wieder kommt hier ein Unternehmer vorbei und nimmt uns mit in eine Fabrik oder auf eine Baustelle“, erklärt er. Wie die meisten möchte er Geld verdienen, um einen Schlepper, einen „Coyoten“, bezahlen zu können. „Sie wollen von jedem 1.400 Dollar, damit sie uns rüberbringen“, sagt er. Die anderen nicken stumm. Auf eigene Faust ist es fast unmöglich geworden, den Sprung auf die andere Seite zu schaffen. Die Grenzanlagen haben sich nördlich von Tijuana zu einer unüberwindbaren Barriere ausgewachsen: Mauern, Polizeipatrouillen, Infrarotgeräte, versteckte Sensoren im Boden, Flutlichtanlagen und Helikoptertiefflüge.
Der Drang nach Norden
„Es gibt eine gemeinsame Verantwortung der Regierungen der USA und Mexikos für diese Situation“, sagt Fidel Fuentes López. Er ist Mitarbeiter eines Menschenrechtsbüros in Tijuana und kennt die Probleme der Migranten wie kaum ein anderer: „Die Kluft zwischen den armen und reichen Staaten hat sich in den letzten zwanzig Jahren drastisch vergrößert. An dieser Grenze schweben wir über diesem Abgrund“, beginnt er zu erklären. „Die verschiedenen Handels- und Wirtschaftsverträge zwischen den beiden Ländern, zuletzt das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA, haben über die Jahre hinweg immer den mächtigen Wirtschaftsinteressen gedient und nicht der Lösung der inneren Probleme Mexikos. Daher konnte die Regierung nie ausreichend Arbeitsplätze im Land schaffen.“ Zudem orientierten sich die verschiedenen mexikanischen Regierungen seit den 40er Jahren an den Entwicklungsmodellen der westlichen Industrienationen, meint er. „Sie unterstützten Großinvestoren beim Bau von Straßen und sonstiger Infrastruktur, während sie gleichzeitig den Kleinbauern keine günstigen Kredite mehr gewährten und die garantierten Mindestpreise aufhoben. Die Planung geht nur für die Industrieländer und ihre Firmen auf, die hohe Gewinne verzeichneten. In Mexiko ist eine massive Abwanderung aus den ländlichen Regionen in die Städte und nach Norden in die USA die Folge.“
Mexiko-Stadt liegt im Süden des Landes, dreitausend Kilometer von der Grenze zu den USA entfernt. In den vierziger Jahren war es noch eine eher beschauliche, fast dörfliche Hauptstadt. Bilder in den Museen zeugen von dieser längst vergangenen Zeit, als noch Pferdekutschen die Prachtboulevards entlang schaukelten. Heute wälzen sich nicht enden wollende, qualmende Autoschlangen über ein verknotetes Stadtautobahnnetz. Hinter den Vorstädten liegen andere Vorstädte und dahinter die unüberschaubaren Armenviertel. In Mexiko-Stadt lebten vor 60 Jahren noch knapp eine Million Menschen, heute überschreitet die Einwohnerzahl des größten Ballungsraumes der Welt die 22-Millionen-Grenze. Die Regierung hat alles in dieser Stadt konzentriert: Industrie, Bürokratie, Universitäten. Und so hat sich die Metropole auch in ein Auffangbecken für die verarmten Kleinbauern aus den südlichen Bundesstaaten verwandelt. Nur hier hatte man Aussicht auf Arbeit. Doch auch das hat sich längst verändert. Mit der Wirtschaftskrise seit Beginn der 80er Jahre verwandelte sich die aufstrebende Hauptstadt in ein selbstzerfleischendes Monster. Die „Postapokalypse“, wie Carlos Monsívais, der literarische Hauptstadtchronist meint: Unterbeschäftigung, Armut, Umweltzerstörung, Gewalt. Heute treibt es viele aus der Hauptstadt fort nach Norden, in die USA. Doch noch immer kommen jeden Tag die Campesinos aus den Dörfern. Man sieht die Familien im unendlichen Stau an Ampelanlagen, wo sie die Windschutzscheiben der Autos putzen oder an einer Ecke Akkordeon spielen. Aber auch für sie ist Mexiko-Stadt zu einer Durchgangsstation geworden.
Willkür gegen MigrantInnen
Florencio Arteaga Rivas ist Kleinunternehmer. Er fährt mit seinem Bus die Strecke Mexiko-Stadt – Tijuana. Drei Tage hin, ein Tag Pause, drei Tage zurück. Rivas kennt aus jahrelanger Erfahrung die Schicksale vieler Migranten nur zu gut. „Sie verkaufen ihr bißchen Land, oder verpfänden es, um sich einen Fahrschein von hier nach Tijuana kaufen zu können. Aber es gibt viele Probleme auf dem Weg. Der Hauptfeind der armen Leute ist die Polizei, weil sie Straßensperren aufrichtet, entweder die Bundesgerichtspolizei, die Straßenpolizei oder die Migrationspolizei. Die Polizei holt die Ärmsten, die lediglich etwas zu essen und Geld für die Reise dabei haben, aus dem Bus und nimmt ihnen von ihrem Geld einen Teil ab. Sie lassen beispielsweise fünf, sechs Personen aussteigen, bringen sie in einen Raum und fragen sie ‘Wo fahrt Ihr hin?’ Wenn sie den Polizisten nicht antworten oder keine Ausweispapiere dabei haben, nehmen sie ihnen zehn bis zwanzig Dollar ab.“ Arteaga Rivas ist sichtlich erbost und berichtet weiter: „Die Polizisten mißbrauchen manchmal auch die Frauen, ich habe es mit eigenen Augen gesehen.“
Auch die Menschenrechtsakademie Baja California, so ihr Mitarbeiter Fidel Fuentes López in Tijuana, „hat zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen MigrantInnen von der mexikanischen Polizei verhaftet wurden, weil sie keine Ausweispapiere bei sich trugen.“ Er holt die mexikanische Verfassung aus seiner Tasche und liest Artikel elf vor, in dem geschrieben steht, daß kein Mexikaner Ausweispapiere benötige, um sich innerhalb Mexikos zu bewegen: „Die Migranten werden lediglich wegen ihres Aussehens, ihrer Armut, festgenommen“, faßt er zusammen. Der Menschenrechtsaktivist führt in Tijuana regelmäßig Informationsveranstaltungen im Migrantenhaus des Scalabriner-Orden durch und klärt die Migranten, die dort für zwei Wochen Unterschlupf und Verpflegung bekommen können, über ihre Rechte auf. Die Informationsabende sind gut besucht, im Haus kommen in Hochzeiten bis zu 170 Migranten zusammen, mehr Betten gibt es nicht. Pater Gianni Fanzolato, der aus Italien stammende Leiter der Notunterkunft, erzählt: „Der Migrant kommt hier mit psychischen Problemen an, da ihm auf dem Weg hierher alles mögliche passiert ist, er wurde ausgeraubt, überfallen. Daher fühlt er sich niedergeschlagen und denkt ‘was ist mein Leben wert?’. Endlich in Tijuana denkt er ‘ich bin am Tor zum gelobten Land angekommen’, also in Kalifornien. Aber was findet er in Tijuana vor? Eine Stadt mit vielen Problemen, eine schreckliche Mauer und die Migra, die Migrationspolizei, die grausam ist.“
Nebenan befindet sich ein ähnliches Haus für Frauen und Kinder, „Wir sind aus dem Süden gekommen und wollen nach Los Angeles gehen. In unserem Dorf haben wir weder genügend Arbeit, noch ausreichendes Einkommen, um davon leben zu können. Deshalb sind wir hier, um Geld zu sparen, einen Coyoten, einen Schlepper, zu bezahlen, und nach drüben zu gelangen. Die Schlepper verlangen 700 bis 1.500 Dollar. Manchmal können sie uns bis ins Landesinnere bringen, manchmal nur bis über die Grenze“, erklärt Isabel, die dort vorübergehend untergekommen ist, ihre Situation. Sie hat mit der Notunterkunft Glück im Unglück gehabt, ihr Mann hingegen muß draußen schlafen, wie viele der täglich Neuankommenden. Sie verbringen die Nacht am Kanal, unter freiem Himmel. Im Morgengrauen machen sie sich dann auf die Suche nach Arbeit. An einer Straßenecke in einem Außenstadtteil warten einige von ihnen auf Kleinlastwagen, die hin und wieder vorbeikommen, um ein paar Leute aufzuladen und zu einer Arbeitsstelle zu fahren.
„Wir dachten, es wäre einfach, rüber zu kommen. Aber nein, wir sehen, daß es sehr schwer ist, auf die andere Seite zu gelangen“, sagt einer. Dann kommt ein Lastwagen die Straße herunter und in wenigen Sekunden umringen ihn die Arbeitsuchenden. Sie recken den Finger, rufen, und rangeln sich nach vorne an einen Platz an der Pritsche des LKW. Ein hemdsärmeliger Mann zeigt auf eine Handvoll von ihnen, die aufsteigen dürfen, dann fährt er davon. Die anderen stehen wieder an der Ecke. „Wir hatten die Grenze schon überquert. Wir waren in Montana, in der Nähe von Kanada, dort hat uns die Migrationspolizei aufgegriffen. Wir warten hier bis der Winter kommt, um wieder auf die andere Seite zu kommen“, erklären zwei der Übriggebliebenen ihr Vorhaben. „Hier, die zwei Hemden sind das einzige, was ich besitze“, sagt einer und deutet auf eine Plastiktüte. Dann schiebt sich Martín in den Vordergrund: „Ich habe in den Vereinigten Staaten einen offenen Fall vor Gericht. Ich habe eine Tochter im Alter von zwei Jahren und sieben Monaten, sie ist Amerikanerin, ihr Mutter ist Amerikanerin. Mich hat die Polizei festgenommen und dann der Migrationspolizei übergeben, die mich ausgewiesen hat“, beginnt er seine Geschichte zu erzählen. “Die Regierung hat mich aufgegriffen, weil ich keine Papiere besitze. Sie packen mich, dann nehmen sie mir meine Tochter, mein Baby, weg, geben mir einen Tritt und schmeißen mich aus dem Land“, erzählt er verbittert. Alle hier Versammelten haben ein ähnliches Schicksal. Entweder kommen sie aus dem Süden und brauchen Geld, um über die Grenze zu kommen. Oder sie waren bereits auf der anderen Seite, sind als illegale Einwanderer deportiert worden, nur um jetzt wieder zu versuchen, zurückzukommen.
Der neue „Eiserne Vorhang“
„In den letzten Jahren hat die Zahl der Deportierten drastisch zugenommen,“ berichtet Pater Gianni Fanzolato. Die Ursache liegt in der neuen US-amerikanischen Migrationspolitik. „Die USA haben einen Plan, gemäß dem sie innerhalb von zwei Jahren mehr als fünf Millionen Mexikaner deportieren wollen und innerhalb der nächsten zehn Jahre weitere fünf Millionen. In den USA leben insgesamt 14 Millionen Mexikaner, und nach dem neuen Migrationsgesetz würden sie gerne alle Mexikaner abschieben. Das neue Migrationsgesetz ist das unmenschlichste und rassistischste aller Migrationsgesetze, die ich auf der ganzen Welt kenne,“ stellt der Pater fest.
An der Grenze in Tijuana ist tatsächlich kein Durchkommen mehr möglich. An einem Metallzaun enden die ärmlichen Hütten aus Wellblech, Plastik und Holz. Die Mittagsonne knallt auf einen kahlen, staubigen Hügel, der dahinter liegt. Flutlichtanlagen sind auf Metalltürmen angebracht, in der Nacht ist der Grenzstreifen hell erleuchtet. Unter einer Plane, die Schatten spenden soll, steht ein Fahrzeug der Border Patrol, der US-Grenzpolizei. Direkt hinter dem Metallwall zieht sich ein steiniger Feldweg entlang, auf dem andere Jeeps Patrouille fahren. Hin und wieder knattert ein Hubschrauber im Tiefflug die „Linie“, wie hier die Grenze genannt wird, entlang. Erst viele Meilen weiter im Landesinneren verliert sich die undurchdringbare Metallmauer, die wie eine endlose stählerne Schlange im Sand liegt, im Gebirge.
Noch ist die mehr als dreitausend Kilometer lange Grenze zwischen Mexiko und den USA nicht überall militärisch befestigt wie in Tijuana. Doch die Aufrüstung gegen die Armutsflüchtlinge ist im vollen Gang. 10.000 Soldaten sollen an die Grenze verlegt werden, Radargeräte werden installiert. Die Nationalgarde und verschiedene Sondereinheiten, wie das INS (Immigration and Naturalization Service) und die Border Patrol wurden bereits verstärkt. An verschiedenen Stellen in Tijuana kann man beobachten, wie hinter der ersten zwei weitere Mauern aufgebaut werden.
Ein illegaler Grenzübertritt ist riskant. Nicht nur die von Menschen geschaffenen Barrieren müssen überquert werden, er ist auch ein Kampf gegen die unwirtliche Natur entlang der Grenze: Die unerträgliche Hitze der Wüste im Sommer, die Canyons, die sich in der Regenzeit innerhalb von Minuten in reißende Ströme verwandeln und die eisige Kälte im Winter mit Temperaturen unter dem Gefrierpunkt in den Bergen, die nur wenige Kilometer östlich von Tijuana liegen. Laut einer gemeinsamen Studie der US-amerikanischen Menschenrechtsorganisation American Friends Service Committee aus San Diego und der Universität Houston sind allein zwischen 1993 und 1996 1.185 Menschen an der Grenze umgekommen. Das American Friends Service Committee dokumentiert jährlich Hunderte von Übergriffen, Mißhandlungen und Vergewaltigungen seitens der US-Grenzpatrouille und Polizei.
An der Ecke der Arbeitsuchenden in Tijuana ist es nicht schwer, Zeugen für die Vorwürfe der Menschenrechtsgruppen zu finden. Immer wieder erzählen die Männer von den Prügeln, die sie in den USA einstecken mußten, bevor sie deportiert wurden. Doch auch auf der mexikanischen Seite werden sie verfolgt. „Warte noch ein paar Minuten, dann kommt hier die Polizei vorbei und vertreibt uns“, sagt einer der Arbeitsuchenden. Tatsächlich fährt pünktlich um acht Uhr ein Fahrzeug der mexikanischen Polizei vor und kündigt per Lautsprecher an, daß alle verhaftet werden, die sich nicht sofort entfernen. „Manchmal sperren sie uns für 24 oder 36 Stunden ein, ohne Grund, nur weil wir nach Arbeit suchen“, sagt der Mann und setzt sich wieder an den Randstein. Auch die anderen bleiben, denn wenn sie nicht in der nächsten halben Stunde Arbeit finden bis die Polizei wiederkommt, wartet auf sie ein verlorener Tag, ohne Geld in der Tasche, ohne Essen, ohne Unterkunft in der Nacht.