Kuba | Nummer 329 - November 2001

Die Normalität nach der „Período Especial“

Interview mit dem kubanischen Drehbuchautor Eduardo del Llano

“Alicia im Dorf der Wunder“, eine bittere Satire auf die Absurditäten sozialistischer Bürokratie, erregte vor zehn Jahren den heiligen Zorn der kubanischen Regierung. Der Film darf zwar in Kuba noch immer nicht öffentlich gezeigt werden, doch haben die Revolutionsführer inzwischen dazugelernt, meint Eduardo del Llano, einer der Drehbuchautoren. Der 38-jährige Cinéast, der im Juni kurz in Wien war, sieht Kuba heute als ein ziemlich normales Land der „Dritten Welt“, mit mehr Lastern aber auch größeren Freiheiten als früher. Mit Ralf Leonhard sprach er über seine Filme, über die Probleme mit der Zensur, warum das Fernsehen stärker kontrolliert wird als das Kino, was er Fidel Castro sagen würde, wenn er zehn Minuten Audienz hätte, wie AusländerInnen das Land verändert haben und warum viele KubanerInnen das Land verlassen, wenn sie können.

Ralf Leonhard

In deinem jüngsten Film, „Hacerse el sueco“, auf Deutsch „Der Cuba Coup“, geht es um einen Schweden. Auch in anderen Filmen, bei denen du mitgewirkt hast, spielen weiße AusländerInnen tragende Rollen. Welche Bedeutung haben sie für die heutige kubanische Gesellschaft?

Tatsächlich spielen AusländerInnen, außer bei „Alicia im Dorf der Wunder“ wichtige Rollen: in „Tropicanita“, „La Vida es Silbar“ und „Hacerse el Sueco“. Auch in dem Film, den wir zu Jahresende drehen werden, geht es um einen Ausländer, einen Spanier. 30 Jahre lang kamen AusländerInnen nach Kuba vor allem in Delegationen aus sozialistischen Ländern. Tourismus wurde damals nicht als wirtschaftlich interessant betrachtet. Das hat sich natürlich mit den Veränderungen in Osteuropa dramatisch verändert. Auf einmal wurde der Massentourismus nicht nur interessant, sondern geradezu zum wirtschaftlichen Rettungsanker. Vor allem in den ersten Jahren. Jetzt hat sich das einigermaßen normalisiert. Früher wollte jeder einen Ausländer kennen lernen. Vor allem die einfachen Leute versprachen sich davon gewisse Vorteile. Mit AusländerInnen befreundet zu sein, bedeutete also Zugang zu Dollars. Man geht mit ihnen ins Bett, vermietet ihnen Zimmer oder verkauft ihnen irgendetwas. Aber diese regelrechte Verfolgungsjagd ist vorbei. Die AusländerInnen – es sind vor allem Weiße aus Europa, Kanada oder Lateinamerika – haben unsere Sozialstruktur verändert. Bis vor einigen Jahren wurde bei uns alles mehr oder weniger vom Staat subventioniert. Jetzt leben wir in einer kapitalistischen Gesellschaft wie überall in der Dritten Welt.

Manche behaupten, die Ausländer hätten Laster nach Kuba eingeschleppt: es gibt weit verbreitete Prostitution, Schwarzhandel mit Waren jeder Art, Kleinkriminalität…

Das ist sicher der negative Aspekt dieser Veränderungen und der macht uns zu einem „normalen“ Land. Natürlich bekommen Ausländer hier Mädchen und vielleicht sogar Drogen angeboten. Aber was ist daran das Besondere? Ich war vor kurzem in Hamburg und habe gesehen, dass die Reeperbahn eines der größten Hurenviertel der Welt ist. Und die Polizisten dort glauben, dass alle Schwarzen Drogenhändler sind und kontrollieren sie daher alle paar hundert Meter. Wir haben jetzt durch den stärkeren Tourismus auch Prostitution Das ist ein Laster und macht uns zu einem „normalen“ Land. Das Gute ist, dass uns der Tourismus in einer wirtschaftlich sehr schwierigen Lage gerettet hat. Die so genannte período especial ist jetzt vorbei. Wir sind immer noch arm, aber es gibt keinen Hunger mehr.

Welchen Einfluss hatte die período especial, also die extreme wirtschaftliche Austerität, auf das Kulturschaffen?

Ganz enormen. Bis 1989 wurden in Kuba jedes Jahr sechs, zehn oder zwölf Filme gedreht. Jetzt produzieren wir einen oder zwei. Es gab ein Jahr, da wurde gar keiner gedreht. Oder betrachten wir das Verlagswesen: Früher kamen 10.000 Titel pro Jahr heraus. Fünf Jahre lang gab es dann 20 oder 30. Es gab kein Papier mehr. Wer Romane schrieb, war ein Träumer. Man schrieb, ohne zu wissen, wofür und für wen. 1993 wurde jeden Tag 16 Stunden der Strom abgestellt. Jetzt sind es im schlimmsten Fall zwei Stunden wöchentlich. Das Positive daran war, dass die Regierung begriffen hat, dass Künstler eine besondere Behandlung verlangen. Jetzt kann ein Musiker im Ausland Dollars kassieren und sie behalten. Dass ein Filmemacher im Ausland bezahlt wird, ist heute normal. In den 80er Jahren musste ein Maler, der in Europa, sagen wir einen Preis von 20.000 Dollar bekommen hat, dieses Preisgeld an den Staat abliefern und bekam 20.000 Pesos dafür. Dazu kommt, dass es in Kuba immer schwierig war, zu verreisen. Früher bekamst du nicht einmal mit einer Einladung eine Ausreisebewilligung. Nur zum Arbeiten oder Studieren. Jetzt genügt eine persönliche Einladung, sie muss nicht einmal von einer Institution sein. Die KünstlerInnen waren gezwungen, im Ausland Verleger zu finden oder ihre Platten aufzunehmen, wenn sie etwas publizieren wollten. Heute steht es mir völlig frei, mein Buch im Ausland zu drucken.

Vorher gab es so etwas wie Freelance nicht.

Praktisch nicht. Jetzt herrscht Wettbewerb. Obwohl der Staat in seiner Struktur sozialistisch bleibt und alles kontrolliert, funktioniert das tägliche Leben wie in jedem anderen kapitalistischen Staat Lateinamerikas: es gibt Arme und Reiche. Man kann in jeder Bäckerei Brot kaufen, es gibt auf der Straße Pizza und Süßigkeiten für ein paar Pesos. Für manche Dinge ist es sogar besser, Pesos als Dollars zu haben. Allerdings kommst du mit einem Gehalt nicht durch, denn die Löhne sind noch immer auf dem Niveau von vor 30 Jahren, während sich die Preise verzwanzigfacht haben, manche sogar verhundertfacht. Das funktionert, weil fast jede Familie ein Mitglied im Ausland oder in der Tourismusbranche hat. Die anderen müssen halt alle Gehälter zusammenlegen.

Der jüngste Kuba-Boom in Europa hat nichts mehr mit der Revolution zu tun. Im Gegenteil, er ist unpolitisch und hängt vor allem an der vorrevolutionären Musik.

Die Kultur funktioniert über Klischees. Darum geht es auch in dem Film „Hacerse el sueco“: wir glauben, dass AusländerInnen reich und kultiviert sind, dass alle Deutsche kalt, alle Französinnen Huren, alle Mexikaner klein und dick und dass in Afrika alle schwarz sind. In Europa glaubt man, alle KubanerInnen sind Mulatten, die arm sind aber Salsa tanzen. Diese Klischees haben manchmal einen wahren Kern, aber auch nicht mehr. Der Kuba-Boom um den Buena Vista Social Club verstärkt diese europäischen Klischeevorstellungen von Kuba. Ich freue mich für die Musiker. Ich finde es toll, dass 90jährige weltweit Triumphe feiern. Aber dieser Boom verdrängt die Existenz wichtiger Kultursparten wie die Troubadoure der 60er Jahre, die für meine und die nachfolgenden Generationen so wichtig waren, den Rock, Symphonien und Kammermusik. Es scheint, als gäbe es in Kuba nur von alten Leuten gespielten Salsa und Son. Der Film „Buena Vista Social Club“ (von Wim Wenders) vermittelt den Eindruck, ganz Havanna bricht nach und nach zusammen, dass wir alle arm und fast alle schwarz sind. Für mich gibt es in diesem Film zu viel Effekthascherei: die Armutsszenen, die Begeisterung der Musiker über New York. Ich komme hierher und die Leute wundern sich, dass ich keine Salsa tanzen kann, dass ich weiß bin, lange Haare habe und gerne Rock and Roll höre.

Ist Buena Vista also nur ein Exportartikel?

Es ist das Problem der EuropäerInnen, erst jetzt erkannt zu haben, dass die Mitglieder von Buena Vista tolle Musiker sind. In Kuba waren Leute wie Compay Segundo und Omara Portuondo immer schon berühmt. Plötzlich wurden sie von Europa entdeckt: Ry Cooder kommt wie Indiana Jones nach Kuba und entdeckt dort ein paar Eingeborene, die gut singen. Die Salsa ist auch in Kuba beliebt, seit einigen Jahren schon wird sie verstärkt gehört. Da hat sich einiges verändert. Als ich auf der Uni war, lehnten wir alles Kubanische ab. Wir hörten Led Zeppelin und die Stones. In den Achtzigern kam dann der venezolanische Salsa-Sänger Oscar d’Leon und plötzlich kam die kubanische Musik mit großer Kraft zurück. Man erkannte, dass Compay Segundo noch lebte. Wenn er in Havanna ein Konzert gibt, füllt sich das Theater. Seit Anfang der 80er Jahre sind Salsa und Latin Jazz bei uns wieder in. Die NachzüglerInnen sind die EuropäerInnen, die haben das erst jetzt entdeckt.

Wenn man das kubanische Filmschaffen betrachtet, entsteht der Eindruck, es werden vor allem Komödien gedreht.

Dieser Eindruck ist richtig. Der Grund ist, dass in Kuba Presse und Fernsehen sehr dogmatisch und offizialistisch sind. Kino und Theater sind hingegen immer sehr offen gewesen. Im Kino kannst du Probleme ansprechen, die im Fernsehen tabu sind. In den 90er Jahren, als die Situation hier ziemlich schwierig war, erschien die Komödie als geeignetes Mittel, sich über Missstände lustig zu machen und die Probleme auf eine Art und Weise anzusprechen, so dass die Leute nicht Selbstmord begehen. Aber es gibt verschiedene Arten von Komödien. „La Vida es silbar“ ist Komödie und Drama in einem.

Gibt es eine Kinoproduktion für den Export und eine andere für das einheimische Publikum?

Natürlich nicht. Alle Filme, die gedreht werden, sind auch in Kuba zu sehen. „Alicia en el Pueblo de las Maravillas“ war eine Ausnahme. 1991 wurde der Streifen vier Tage lang gezeigt, dann verschwand er aus der Öffentlichkeit. Es gibt ihn in keinem Video-Geschäft zu kaufen. Es ist aber nicht verboten, eine Kopie zu besitzen. Ich habe welche für all meine Freunde gemacht.

Hat diese Erfahrung bewirkt, dass die Drehbuchschreiber jetzt vorsichtiger sind?

Ganz im Gegenteil. Die Regierung hat dazugelernt. Sie hat eingesehen, dass sie bei „Alicia“ zu weit gegangen ist. Der Beweis ist, dass Filme, die noch viel kritischer sind, wie „Fresa y Chocolate“ oder „Guantanamera“ von Tomás Gutiérrez Alea, oder auch „La Vida es Silbar“ von Fernando Pérez, keine Probleme bekamen. Im Kino gibt es nur ein einziges großes Tabu: Man darf nicht schlecht über Fidel reden. Bei allen anderen Themen findet man eine Art, sie metaphorisch darzustellen. Ich glaube, es gibt wenige Länder, die ein so kritisches Kino wie Kuba haben.

Der Regisseur Tomás Gutiérrez Alea hat einmal gesagt, das Kino erfüllt die Funktion des kritischen Journalismus, den es in Kuba nicht gibt.

Ich glaube, Presse und Fernsehen werden viel stärker kontrolliert, weil sie alltägliche Kommunikationsmittel sind, über die die Regierung ihre „Wahrheiten“ verbreitet. Kino und Theater lassen sich schwerer kontrollieren. Außerdem wäre es wirtschaftlich fatal. Kein deutscher Produzent würde ein Filmprojekt in Kuba unterstützen, wenn er fürchten müsste, dass der Film verstümmelt wird. Ich habe ein paar Mal für die Printmedien geschrieben, bin aber schließlich beim Kino gelandet, weil es ein Refugium für freies kulturelles Schaffen ist. Die meisten Filme werden aber nicht im Fernsehen gezeigt, nicht einmal „Fresa y Chocolate“, obwohl er im Ausland mit Preisen überhäuft wurde.

Wie geht Kuba mit den KünstlerInnen im Exil um?

Von offizieller Seite werden sie ignoriert. Man kann ihre Platten nicht kaufen, sie werden weder im Fernsehen noch im Radio gespielt. Aber verboten sind sie nicht. Keiner wird festgenommen, weil er mit einer CD von Célia Cruz auf der Straße erwischt wird. Im Gegenteil: wahrscheinlich sagt der Polizist: „Kannst du mir nicht eine Kopie machen?“ Je mehr ein Künstler totgeschwiegen wird, desto populärer ist er natürlich. Auf privaten Festen werden ExilkünstlerInnen oft gespielt. Exilliteratur ist eher etwas für die intellektuelle Elite. Cabrera Infante wird sehr respektiert. Bei anderen wie beispielsweise bei Zoe Valdés ist das nicht der Fall. Ich finde, sie ist ein künstliches Produkt und ich glaube, die meisten KubanerInnen sehen das auch so.

Du bist oft im Ausland gewesen und immer wieder nach Kuba zurückgekehrt. Würden die anderen genauso handeln, wenn plötzlich Reisefreiheit herrschte?

Wenn sie immer Reisefreiheit gehabt hätten, dann schon. Es war einer der größten Fehler seit der Revolution, diese Freiheit einzuschränken. Wenn die Leute einmal die Gelegenheit haben, raus zu kommen, dann denken sie, es ist ihre einzige und sie kommen nicht zurück. Viele suchen einfach bessere wirtschaftliche Perspektiven. Heute ist es einfacher zu reisen. Viele Leute kennen AusländerInnen und werden eingeladen. Aber mein bester Freund ist 38 und war noch nie im Ausland. Das ist schrecklich. Wenn du 40 bist und in Kuba herrscht Wirtschaftskrise, du siehst keine Perspektive für dein Leben und plötzlich hast du die Gelegenheit nach, sagen wir Kolumbien, zu reisen. Natürlich fährst du. Natürlich hast du dort auch Probleme, aber zumindest sind es andere Probleme. Dieses Problem wird stark politisiert. Schau dir Mexiko an: ein kapitalistisches Land und eine Demokratie nach westlichen Maßstäben. Und trotzdem verlassen tausende MexikanerInnen illegal das Land. Wenn ich zehn Minuten hätte, um Fidel Castro alles zu sagen, was mich in Kuba stört, dann wäre die Reisefreiheit eines der ersten Themen. Dafür gibt es einfach keine Rechtfertigung.

Interview: Ralf Leonhard

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