„Die Regierung versucht uns gegeneinander auszuspielen“
Interview mit Susy Paz von der Erwerbslosenorganisation „Bewegung Teresa Rodríguez“ (MTR)
Frau Paz, in Argentinien gibt es mittlerweile unzählige Piquetero-Bewegungen. Was ist das Besondere an Ihrer Erwerbslosenorganisation der MTR?
Unsere wichtigsten Grundsätze sind Moral und Ethik. Vereinbarungen, die wir treffen, brechen wir nicht, ganz gleich was passiert. Das unterscheidet uns von vielen anderen Piquetero-Bewegungen. Wir, die Bewegung Teresa Rodriguez, haben den landesweiten Piquetero-Block (Bloque Piquetero Nacional) gegründet, einen Zusammenschluss verschiedener radikaler Piquetero-Bewegungen. Später verließen wir den Block, weil es Differenzen gab, die sich nicht mehr durch Diskussionen beseitigen ließen.
Wann und warum haben Sie den Block verlassen?
Das war ungefähr vor einem Jahr. Wir hatten vor allem Probleme damit, wie mit Vereinbarungen umgegangen wurde. Viele hielten sich einfach nicht daran, während wir auf die Einhaltung pochten. Außerdem gab es immer wieder Differenzen, wenn es um die Frage der Methodik und Form unserer Arbeit ging. Und wir konnten auch nicht so tun, als sei alles in Ordnung und als seien wir Piqueteros die Avantgarde der Arbeiterbewegung. Das sind wir nicht. Wir sind eine Organisation, die entstanden ist, weil es keine Arbeit mehr gibt, weil Gewerkschaften und Staat sich aus ihrer Verantwortung gestohlen haben und weil die Vertreter der Gewerkschaften teilweise selbst Unternehmer sind. Aus dieser Notlage heraus entstand der Piquetero-Block.
Gehört Ihre Organisation auch einer Partei oder einer gewerkschaftlichen Gruppe an?
Nein, wir haben keine politischen Parteien hinter uns. Aber wir haben sehr wohl eine Ideologie. Unser politisches Engagement begann schon in den 70er Jahren. Wir sind marxistisch-leninistisch. Vielen gefällt das nicht. Aber wir haben uns nicht zusammengeschlossen, weil wir mit den Gruppen der traditionellen Linken besonders verbunden sind. Wir sind unabhängig. Die Repression in Argentinien war der Grund, warum wir uns zusammenschließen mussten. Nur so hatten wir eine Chance gegen unsere Gegner. Ein so große Vereinigung konnten die nicht so leicht zerstören.
Zurzeit gibt es bei allen Piquetero-Gruppen Abspaltungen, selbst bei den unabhängigen Piqueteros. Warum?
Die Regierung ist dafür verantwortlich. Sie ist sehr geschickt. Als sie anfing, Hilfen an die Erwerbslosen zu zahlen, kam es innerhalb der Organisationen zu Diskussionen, wie mit diesen Hilfen umzugehen sei. Diese Debatten führten oft zu Spaltungen. Bei uns ist das nicht passiert. Wenn wir irgendein Problem haben, dann setzen wir uns hin und diskutieren es aus.
Was fordert Ihre Bewegung Teresa Rodríguez von der Regierung?
Wir fordern die Schaffung fester Arbeitsplätze. Wir fordern von der Regierung auch ein stärkeres Engagement im Bereich der Bildung. Und für unsere Bäckereien, die wir betreiben, bräuchten wir Subventionen. Wir arbeiten dort mit einfachsten, oft veralteten Mitteln, genauso wie in unserem Gemüsegarten. Unsere compañeros müssen Werkzeugen von zu Hause mitbringen, um arbeiten zu können. Wir fordern einfach, dass Präsident Néstor Kirchner erfüllt, was er versprochen hat. Aber das wird er nicht tun, das ist schon jetzt klar.
Wie stehen Sie zu den staatlichen Hilfen? Was machen die compañeros mit diesem Geld?
Die Piquetero-Organisationen können nur überleben, weil es staatliche Unterstützung gibt. Nur so haben wir die Möglichkeit uns überhaupt in unserer jetzigen Form zu organisieren. Das wäre sonst unmöglich, da sich die compañeros in einer existentiellen Notlage befinden: Sie haben nichts zu essen und keine Milch für ihre Kinder. Die staatlichen Gelder sind hier eine Hilfe.
Ein Teil dieses Geldes unterhält also auch die Strukturen der Bewegung Teresa Rodríguez?
Alle Piqueteros bekommen 150 Peso durch den Plán Trabajar (staatliche Hilfe zum Lebensunterhalt). Bei uns gibt davon jeder fünf Peso an die Organisation. Von diesem Geld wird dann zum Beispiel Papier und das Fleisch für die Suppenküchen gekauft. Wir haben auch noch eine kleine Kasse für Notfälle. Wenn ein compañero dringend ein Medikament braucht, kann er in den Cabildo gehen – so nennen wir unseren Versammlungsraum – und dort nach Geld fragen.
Die Mindestlebenshaltungskosten einer Familie liegen in Argentinien bei rund 400 Peso. Die Piqueteros bekommen vom Staat aber nur 150 Peso. Wie kommen Sie damit über die Runden?
Wir haben Suppenküchen und die Kinder bekommen von uns eine Schulspeisung. So garantieren wir unseren Mitgliedern Essen für den ganzen Monat. Zudem gibt es die Lebensmittelpakete, die sich die Piqueteros gemeinsam erkämpft haben. Die bekommen wir vom Ministerium für soziale Entwicklung. Wir haben auch Kleiderkammern eingerichtet, in denen gebrauchte Kleidung gesammelt. Und wenn es nicht ausreicht, dann demonstrieren wir alle. Allerdings kosten die Demonstrationen die companeros auch Geld. Sie müssen die Anreise zur Demo zahlen.
Sie sagten, dass die Regierung sehr geschickt darin sei, die große Widerstandsbewegung der Piqueteros zu spalten. Liegt dieses Geschick nur in der Zahlung staatlicher Hilfen?
Nein. Kirchner hat bei allen Piquetero-Organisationen große Erwartungen geweckt, vor allem wegen seiner politischen Vergangenheit. Er und seine Frau kommen ja aus der Bewegung der Montoneros – 15.000 Mitglieder dieser Guerilla sind während der Militärdiktatur umgekommen. Die Arbeitslosen setzten viel Hoffnung in Kirchner. Das lag vor allem an seinen Versprechungen und an seinem Populismus. Er brach mit den Protokollen, küsste die Kinder und umarmte die Leute. Das mögen die Menschen.
Was genau hat Kirchner versprochen?
Er versprach, die still gelegten Fabriken wieder in Betrieb zu nehmen. Und er versprach, die Verträge mit den Unternehmern zu prüfen, deren Firmen früher in staatlicher Hand waren und dann unter Ménem privatisiert wurden. Außerdem versprach Kirchner die Streichung der Amnestiegesetze. Er sagte, dass er die Militärs vor Gericht und ins Gefängnis bringen würde und dass er den Großmüttern dabei helfen würde, ihre Enkel wiederzufinden, die während der Militärdiktatur in Gefangenschaft geboren wurden. Er versprach eine Erhöhung der Löhne und Verbesserungen im Bildungs- und Gesundheitswesen. Aber nichts davon hat Kirchner bisher erfüllt.
Das ist doch ein Grund wieder auf die Straße zu gehen. Oder sind die Piqueteros „protestmüde“ geworden? Laut der argentinischen Presse fanden 2003 im Vergleich zum Vorjahr nur halb so viele Straßensperrungen statt. Warum?
Es stimmt, dass Kirchner einen gewissen Einfluss auf die Piquetero-Bewegung hat. Wenn wir zum Beispiel gemeinsam mit anderen Organisationen auf die Straße gehen und Forderungen stellen, dann gibt er uns einen Termin, um uns anzuhören. Wenn wir dann kommen, hat die Regierung bereits mit ein paar Organisationen verhandelt und unter der Hand alles geregelt. Und genau damit versucht Kirchner uns gegeneinander auszuspielen..
Kirchner inszeniert einen Politikwandel. Unter anderem hat er die Allianz mit den Gewerkschaften gestärkt und mit den weniger kampfbereiten Piquetero-Bewegungen, wie der FTV. Gleichzeitig sagt der argentinische Innenminister, Straßensperrungen seien ein veraltetes Mittel, um Forderungen durchzusetzen. Wie hat sich das Bild der Piqueteros dadurch in der breiten Bevölkerung verändert?
Die Mittelklasse hat uns Anfang 2002 noch unterstützt. Als die Familien der Mittelklasse sahen, dass ihre Ersparnisse konfisziert wurden, haben sie gesungen „piquete y cacerola- la lucha es una sola“ (Straßensperre und Kochtopf, es ist ein Kampf). Damals brauchten sie uns. Auch nach dem 26. Juni 2002 dem Tag, als wir vom Staat brutal unterdrückt wurden, gingen sie für uns auf die Straße. Zwei unserer compañeros wurden getötet und viele andere durch Bleikugeln oder Gummigeschosse verletzt. Wir sind dann in das Lokal der kommunistischen Partei (PC) geflüchtet. Wir hatten Glück, dass die Presse dann kam. Sonst hätten sie uns umgebracht. Dieser Gewaltakt war kein Zufall. Der war lange vorbereitet.
Was macht Sie so sicher, dass dieser Gewaltakt am 26. Juni geplant war?
Es gibt Aussagen, dass am 23. oder 24. im Hospital Fiorito, ganz in der Nähe des Demonstrationsortes, große Mengen Blutspenden angeliefert wurden. Dort gab es sonst so gut wie nie Blutspenden. Aber am 26., als es zu dieser gewaltsamen Repression kam, gab es dort alles. Man hatte sich also anscheinend auf eine große Anzahl Verletzter eingestellt.
Wie reagierte die Mittelklasse darauf? Und inwieweit unterstützt sie die Piquetero-Bewegungen heute?
Die Mittelklasse stand voll hinter uns. Am 27. Juni ging sie auf die Straße, um gegen diese Repression zu demonstrieren. Das zwang unseren damaligen Präsidenten Duhalde, vorzeitige Wahlen auszurufen. Damals brauchte wir uns gegenseitig. Das ist jetzt nicht mehr so. Die Mittelklasse hat Teile ihrer Ersparnisse wiederbekommen und sagt sich jetzt: ,Wir warten lieber ab, bis uns die Regierung auch den Rest zurückzahlt.’
Aber warten wir den Zeitpunkt ab, an dem auch sie feststellen, dass sich nichts verändert. Dann werden wir sehen, wie sich die Mittelklasse verhält. Die Ersten von ihnen sind schon wieder auf die Straße gegangen, um gegen die hohen Steuern auf Hypotheken zu demonstrieren. Sie haben Angst ihre Wohnungen zu verlieren.