Argentinien | Nummer 334 - April 2002

Die Republik auf den Plätzen

Die Bevölkerung übt sich seit drei Monaten in direkter Demokratie

Mehr als hundert Volksversammlungen treten inzwischen in der Bundeshauptstadt, dem Großraum Buenos Aires und den Provinzstädten zusammen. BürgerInnen diskutieren und entscheiden ihre Angelegenheiten selbst und schmieden Aktionsbündnisse mit Arbeitslosen- und Menschenrechtsorganisationen. Am 17. März trafen sich die Versammlungen aus dem ganzen Land zum ersten Mal in Buenos Aires.

Timo Berger

Schwere Regenwolken hingen am Abend des 17. März über Buenos Aires, als sich die 3500 TeilnehmerInnen des ersten landesweiten Treffens von Volksversammlungen auf den Weg zur Bruckman-Fabrik machten. Die Textilfabrik wird seit Monaten von den ArbeiterInnen besetzt und in Eigenregie betrieben, nachdem sich der Besitzer angesichts des drohenden Bankrotts zurückgezogen hatte. Die Polizei hatte am Vortag versucht, die Fabrik gewaltsam zu räumen. Die DemonstrantInnen brachten mit ihrem Marsch zur Fabrik nicht nur ihre Solidarität mit den ArbeiterInnen zum Ausdruck, sondern versuchten, weitere Räumungsversuche der Polizei mit einer Menschenkette um das Gelände herum zu verhindern.
Die Unterstützung der ArbeiterInnen von Bruckman war der erste Beschluss der landesweiten Versammlung gewesen. Wie über alle Forderungen wurde auch über diesen Antrag demokratisch abgestimmt, und der Vorschlag wurde mit großer Zustimmung angenommen.
Mehr als 100 Asambleas (Versammlungen) aus den über zehn Provinzen und der Stadt Buenos Aires fanden sich in den Centenario-Park ein. Nach einem ersten Antrag, mit dem die generelle Ablehnung der Regierung Duhalde und deren Wirtschaftspolitik zum Ausdruck gebracht wurde, debattierten die TeilnehmerInnen über sehr viel konkretere Forderungen in Bezug auf Gesundheit und Arbeit, Protestmöglichkeiten und die Kooperation verschiedenster Verbände.
Zu Wort kamen zunächst die VertreterInnen von 80 verschiedenen Asambleas, die über die Ziele, Erfahrungen, Probleme und Erfolge ihrer Arbeit berichteten. Die Versammelten betonten, wie wichtig die enge Zusammenarbeit aller Asambleas sei, um gemeinsame Ziele erreichen zu können. Außerdem beschlossen sie, in Zukunft monatlich nur noch ein Cacerolazo (Kochtopfkonzert) in Buenos Aires zu veranstalten, um zu verhindern, dass der Protest langsam ritualisiert wird und damit an Bedeutung und an Beachtung verliert.

Der Alltag der Proteste

Damián Ríos nimmt regelmäßig an der Versammlung im Viertel Congreso teil, die jeden Freitagabend um 20 Uhr auf dem Platz vor dem Kongressgebäude stattfindet. Eines der wichtigsten Merkmale der Versammlungen ist, dass sie das Prinzip der Repräsentation ablehnen. Es werden keine Delegierten gewählt, sondern nur so genannte Sprecher bestimmt. Alle anfallenden Ämter haben ein weisungsgebundenes, jederzeit aufhebbares Mandat. Ríos, der sich seit längerem mit Gelegenheitsjobs durchschlägt, betont, dass die Versammlungen nicht ein Phänomen der Mittelklasse seien, wie in der Presse vielfach verbreitet wurde. Schließlich nehmen an der Versammlung nicht nur Nachbarn teil, sondern auch Studierende, ArbeiterInnen und Angehörige von Menschenrechtsorganisationen und Linksparteien.
Inzwischen ist man dazu übergegangen Kommissionen zu gründen, die sich verschiedener Aufgaben annehmen. In der Versammlung von Congreso zum Beispiel gibt es eine Kommission, die im Austausch mit den Krankenhäusern steht, um herauszufinden welche Probleme diese haben und welche Lösungen gefunden werden können. Zudem versuchen sie die Herausgabe von Medikamentepaketen für Bedürftige auszuhandeln. Eine andere Kommission organisiert gemeinschaftliche Einkäufe. Bei der Abnahme größerer Mengen von Lebensmitteln können so niedrigere Preise herausgeschlagen werden. Eine der wichtigsten Gruppen, so Rìos, sei die Kommission „Solidarität“, die eine Liste der Arbeitslosen im Viertel erstellt. Diesen Bedürftigen wird im Rahmen der Möglichkeiten der Versammlung geholfen. Außerdem dient die Liste als Begründung für die Forderungen, die die Versammlung gegenüber der Stadtverwaltung und den Strom-, Gas- und Wasserlieferanten stellt. Es gibt auch eine Kommission für politische Arbeit, die die „Scratches“ von Politikern organisiert. Diese Form der öffentlichen Bloßstellung wurde von der Menschenrechtsorganisation H.I.J.O.S. erfunden, um die straflos ausgegangenen Schergen der Militärdiktatur zu brandmarken. Dabei versammeln sich Menschen vor der Wohnung oder dem Amtssitz des Betreffenden und beschimpfen ihn öffentlich und lautstark. Da es in der Asamblea del Congreso inzwischen zu einer stärkeren Institutionalisierung und personellen Kontinuität gekommen sei, schätzt Ríos, dass die Bewegung nicht von heute auf morgen wieder verschwinden wird.
In anderen Stadtteilen, wie in Flores, organsieren die Versammlungen wöchentliche Märkte, auf denen die Leute selbst hergestellte Produkte und Lebensmittel verkaufen können, und betreiben gemeinschaftliche Gärten, in denen sie Obst und Gemüse anbauen. Parallel dazu haben sich im ganzen Land Menschen zu Tauschringen zusammengefunden, einer alternativen Form der Ökonomie (s. Folgeartikel).

„Alle sollen abhauen!“ – Und dann?

Die Losung „Alle sollen abhauen!“ ist zum Banner der Widerstandsbewegung geworden. Adressiert anfänglich an den politischen Klüngel aus Radikalen und Peronisten, wird ihr Geltungsbereich mittlerweile auf alle Amts- und Würdenträger, Abgeordnete und Senatoren, Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre, Oberste Richter, Bankenchefs und Firmenbosse ausgedehnt. Jahrelang hatten diese ein klientelistisches Politik- und Wirtschaftssystem am Laufen gehalten und rechtsstaatliche und demokratische Prinzipen nur zum Teil befolgt.
In den Asambleas werden bereits verschiedene Vorschläge für die Zeit nach Duhalde diskutiert. Die von der Partido Obrero bereits Ende vergangenen Jahres in Umlauf gebrachte Forderung nach der Einberufung einer verfassunggebenden Volksversammlung findet sowohl bei den übrigen Linksparteien, den Piqueteros (s. Folgeartikel) wie bei einigen Asambleas Zustimmung. Eine andere Alternative wären vorgezogene Wahlen. Allerdings gibt es noch keinen gemeinsamen Kandidaten der Linksparteien. Da die Bewegung der Asambleas bisher kaum Unterstützung der Medien hat, konnten sich aus ihren Reihen noch keine aussichtsreichen KandidatInnen profilieren. Generell ist immer noch strittig, in wie weit sich die TeilnehmerInnen der Asambleas auf einen parlamentarischen Weg einlassen wollen. Inzwischen haben die meisten von ihnen Gefallen gefunden an der direkten Demokratie, die auf den Plätzen ausgeübt wird. Außerdem werden die Stimmen von TeilnehmerInnen laut, die sich nicht mehr vor einen parteipolitischen Karren spannen lassen wollen.
In den letzten Wochen haben sich die Beschlüsse der Asambleas gewandelt. Zwar finden sich immer noch Forderungen mit nationaler Ausrichtung, wie die Verstaatlichung des Bankwesens, die Wiederverstaatlichung der öffentlichen Versorgung und der Rohstoffindustrien, die Aufhebung der Kontensperrung und die Einstellung der Zahlung der Auslandsschulden. Vor allem aber haben die Versammlungen angefangen, die Angelegenheiten in Angriff zu nehmen, die sie direkt betreffen. Da das staatliche Wohlfahrtssystem fast völlig in sich zusammengebrochen ist, versuchen die Leute nun, in Eigenregie das Schlimmste zu verhindern.
Für die aktiven Mitglieder der Asambleas gibt es einen festen wöchentlichen Zeitplan: donnerstags findet die Demonstration vor dem Obersten Gerichtshof statt, reitag abends der Marsch auf die Plaza de Mayo und sonntags die Versammlung im Centenario-Park. Dazu kommen die wöchentlichen Versammlungen innerhalb des Stadtteils und die Treffen von Koordinationsgruppen, die sich um die Kooperation zwischen den einzelnen Versammlungen bemühen, die stadtweite Versammlung vorbereiten und Möglichkeiten zu gemeinsamen Aktionen mit anderen Gremien, den streikenden Dozenten, den Rentnern und den Müttern von der Plaza de Mayo ausloten.
Sonntags gegen fünf beginnen im Zentrum von Buenos Aires erste Gruppen von Asambleístas – wie sich die Leute, die an den Versammlungen teilnehmen mittlerweile stolz nennen – die üblichen BesucherInnen des Centenario-Parks abzulösen. Ein Mann ergreift ein Mikrofon und erklärt den Modus operandi der Veranstaltung: Zuerst werde denjenigen das Wort erteilt, die letzte Woche nicht mehr dran kamen, jedem werde ein Sprechzeit von drei Minuten eingeräumt. Die Leute fangen an, sich in eine RednerInnenliste einzutragen. Nach und nach versammeln sich um die 2.000 Menschen im Park. Jeder erhält die Möglichkeit, die Vorschläge vorzustellen, die in seiner Stadtteilversammlung während der Woche erarbeitet wurden. Auf jeden Antrag folgt eine Abstimmung per Hand. Auch nach dem Dunkelwerden bleiben viele der Anwesenden, immer noch stoßen Neue hinzu. Die Reden gehen weiter, man will von den Protesten zu konstruktiven Vorschlägen gelangen.

Eine Bewegung formiert sich

„Es handelt sich um eine völlig neuartige Bewegung“, wertet der Soziologieprofessor Rubén Dri von der Universität von Buenos Aires das Auftauchen der Volksversammlungen, „eine Art von direkter, nicht repräsentativer Demokratie.“ Das Bewusstsein der Menschen beginne, sich zu verändern, und das beinhalte gleichzeitig eine politische Veränderung. Zwar sei alles noch im Prozessstadium, dennoch sei unübersehbar, dass zur Zeit eine neue Macht entstehe.
Eine Besonderheit der Bewegung liegt darin – so die Ergebnisse einer Feldforschung der Psychologinnen Fernández, Borakievich und Rivera –, dass Menschen jeden Alters und Geschlechts und aus verschiedenen sozialen Schichten gemeinsame Ziele verfolgen – auch wenn die sozialen Gegensätze damit nicht überbrückt werden. Dies sieht man schon an der räumlichen Trennung der Protestierenden: Während die Bedürftigsten auf der Lavalle-Straße zur Linken des Justizpalastes stehen, protestieren die Bessergestellten zur Rechten des Palastes und die Stadtteilversammlungen in der Mitte.
Gerade der Schulterschluss der Asambleas mit den Piqueteros bringt weit reichende Folgen mit sich: War vorher der Status des Arbeitslosen gleichbedeutend mit dem Ausschluss aus den sozialen Institutionen, so wird inzwischen der politische Kampf der Piqueteros als Wegbereiter der neuen Protestbewegung angesehen. Zu ihrem Aushängeschild wurden seit Mitte der 90er Jahre die Piquetes, die Straßenblockaden. Mit den dadurch angerichteten hohen Schäden konnten sie Druck auf die Regierung ausüben, um Subventionen für gemeinnützige Arbeit und Lebensmittelpakete zu erhalten. Bisweilen errichten auch die Versammlungen Straßenblockaden, und auf den großen Versammlungen nehmen immer Delegierte der Piquetero-Organisation teil.
Der zunehmenden Vernetzung verschiedener Protestbewegungen sehen die Sicherheitskräfte nicht tatenlos zu. Ihre Taktik der „Befriedung“ des schwelenden Konflikts besteht in einer Gratwanderung zwischen Duldung und gezielt eingesetzten Repressionen. Viele Asambleas müssen sich mittlerweile gegen Polizeispitzel schützen. Aktivisten werden zum Teil direkt angegriffen. In der stadtweiten Versammlung wurden Fälle von Übergriffen peronistischer Schlägerbanden auf Versammlungen in Haedo, Merlo, Boulogne und Villa Adelina angeprangert. Insgesamt ist die Angst vor Repressionen gestiegen. Bislang führte das aber nicht zu einem Rückgang der Proteste. Zwar nehmen an den wöchentlichen Märschen auf die Plaza de Mayo immer weniger Menschen teil, dafür aber steigt die Beteiligung an den Aktivitäten in den einzelnen Vierteln. Der landesweite Widerstand fällt mit dem Engagement und zivilem Ungehorsam der Menschen auf Stadtteilebene zusammen. Mit dem Barrio als Solidargemeinschaft entsteht vielleicht die Keimzelle einer Zivilgesellschaft in Argentinien.

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