Migration | Nummer 251 - Mai 1995

Die schwierige Flucht

Lateinamerika und die jüdischen Flüchtlinge der NS-Diktatur

Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht über­nahmen, waren weder die Mehrheit der deutschen Juden und Jüdinnen noch das Ausland auf eine Mas­senauswanderung vorberei­tet. Die Zeiten, in denen man Opfer politi­scher oder reli­giöser Ver­folgung unterstützt und mit offenen Armen aufgenom­men hatte, waren längst vor­über

Juliane Wetzel

Ihre beruf­lichen Qualifikatio­nen stellten sich für die jüdi­schen Flüchtlinge als großes Hin­dernis heraus. Der Auf­bau einer neuen Existenz in vielen Ein­wanderungslän­dern konnte nur unter be­stimmten be­ruflichen Vor­aussetzungen ge­lingen, in man­chen Staaten fanden nur ge­wis­se Berufsgrup­pen Einlaß.
Aber auch die Politik zahl­reicher überseeischer Län­der, die im 19. und begin­nenden 20. Jahr­hundert die Einwanderung in dem Be­streben zu forcieren ver­sucht hatten, ihre gewalti­gen Ge­biete zu erschließen und zu be­völkern, gehörte der Vergangen­heit an. Die besondere Tragik für die Juden lag darin, daß die na­tionalsozialistische Ver­folgung in eine Zeit fiel, in der die Auswanderungs­möglichkeiten we­gen der Weltwirtschafts­krise so ge­ring waren wie niemals zu­vor.
Bizarre Listen, bitterer Ernst
Besonders die USA, die bri­tischen Dominions und Latein­amerika waren durch den Zu­sam­menbruch der Agrar- und Roh­stoff­preise schwer getroffen worden und suchten, jede neue Einwanderung abzu­wehren bzw. nur unter be­stimmten Vorausset­zun­gen zuzulassen. So be­schränk­te sich einem Infor­ma­tions­blatt der jüdischen Aus­wan­de­rungsberatungsstelle in Berlin zufolge das Ange­bot im Sommer 1938 auf nur wenige ausge­fal­le­ne Möglichkeiten: ge­sucht wur­de für Pa­raguay ein perfek­ter, selb­ständiger Bonbon­kocher und für San Salvador ein un­ver­heirateter, jü­discher In­genieur für den Bau elek­trischer Ma­schinen. Die Li­ste, die noch weitere ähnlich bi­zar­re of­fene Stel­len in Afrika und den Bri­tish Dominions nennt, könnte einem Sketch ent­nom­men sein, war aber bitterer Ernst.1
Die Entscheidung für ein Auswande­rungsland hing von vielen Faktoren ab. Zunächst galt es sich eine Art “Auswanderer-Dia­lekt” anzueignen. Begriffe wie “Chamada” (Visum­voraus­set­zung für Brasi­lien), “Leu­munds­zeugnis”, “Unbe­denk­lich­keits­erklärung”, “Bord­geld” und “Ge­sundheits­attest” be­stimmten den Alltag, die Reise in ferne Län­der wurde erwogen, deren La­ge erst mühsam auf dem Glo­bus eruiert werden mußte.
Papiere entscheiden
über Leben und Tod
Die Wahl eines Aus­wan­de­rungs­lan­des und der Besitz der ent­sprechen­den Un­terlagen sollte sich bald als eine Frage von Le­ben und Tod erwei­sen. Nachdem sich ein Staat nach dem anderen der Aufnahme von Juden aus Deutschland ver­schlossen hatte, wurde die Suche nach einem auf­nah­me­be­reiten Einwande­rungs­land zu einer Art “Gesell­schafts­spiel”, wie die Berlinerin Inge Deutsch­kron be­richtet: “Viel­leicht könnte man hierhin oder auch dorthin … Und die Finger wan­derten unru­hig auf der Land­karte hin und her. Oder: ‘Was ist eigent­lich mit Para­guay?’ ‘Hast du schon Neusee­land pro­biert?’ ‘Ich habe gehört, daß der X ein Vi­sum für Panama bekommen hat.’ ‘Zehntausend Mark soll ein Visum nach Vene­zuela ko­sten’…”2
Tatsächlich zahlten manche Unsummen für ein Visum. Im­mer wie­der fielen die verzweifelt nach einer Auswanderungs­mög­lich­keit su­chenden Juden auf zwie­lichtige Geschäftemacher he­rein. Nicht selten stellte sich nach wochen- oder monatelanger Fahrt bei der Ankunft im neuen Land heraus, daß es sich um ge­fälsch­te, un­autorisierte oder be­reits abgelau­fene Visa han­del­te. Oft war es nur durch Über­re­dungs­kunst und durch die Hilfe von jüdischen Organisationen vor Ort möglich, doch noch ein­zu­reisen, aber manche wurden auch zurückge­schickt, wie die Ge­schichte der St. Louis und der Ver­such der Passagiere, in Kuba an Land zu gehen, zeigt (vgl. den folgenden Artikel).
Obwohl die Emigration nach Süd­amerika bereits 1933 einge­setzt hatte, war ihr Anteil an der ge­samten Auswanderung an­fangs eher unbe­deutend. Insbe­son­dere we­gen der Sprachpro­ble­me blieb die Emigration dorthin lange Zeit nur zweite Wahl. Als sich die Lage in Eu­ropa allmählich zuzuspitzen be­gann, wurden ins­besondere Ar­gen­tinien und Bra­silien zu be­gehr­ten Auswande­rungszielen. Im­merhin rangierte Brasilien be­reits 1933 nach den Ver­einigten Staaten und Palä­stina an dritter Stel­le bei den Aufnahmeländern. Eine interes­sante Tatsache, vor al-lem weil zum damaligen Zeit­punkt die eu­ropäischen Länder noch einen erheb­lichen Teil der Emi­grantIn­nen aufnahmen und Süd­amerika eher exotisch und fern­ab er­schien. Deshalb wurden Län­der wie Ecua­dor, das von al­len latein­amerikanischen
Staa­ten die liberalste Einwanderungs­po­li­tik aufzu­weisen hatte, nur als letzte Hoffnung in Erwägung gezo­gen.3 Als nach der Pogromnacht im No­vember 1938 eine Massen­flucht einsetzte, hatten viele Län­der ihre Einwanderungspolitik neu geregelt und re­striktive Maß­nahmen eingeführt. 1937 ver­schärfte Brasilien die Ein­wan­derungsbestim­mungen dra­stisch, zunächst schien es so­gar, daß bereits eingewanderte Flücht­linge wieder ausgewie­sen wer­den sollten. Auch Argenti­nien, das seit 1935 zum Kreis der wichtigen Auswanderungs­länder ge­hörte, schränkte die Einwan­de­rungs­möglichkeiten deut­lich ein. Seit den Regierungsdekre­ten vom 28. Juli und 26. August 1938 hing die Aufnahmeerlaub­nis von der Einladung durch na­he Ver­wandte (Llamada) oder von spezieller beruflicher Quali­fi­kation ab. Danach sank die Zahl der Einwande­rerInnen ste­tig und er­reichte nach Beginn des Zweiten Weltkriegs den Nullpunkt. Auch in Uru­guay und Para­guay ver­schlechterte sich, vor allem durch die deso­late Wirt­schafts­lage, die Situa­tion seit 1937. Hinge­gen trat Kolum­bien 1937/38 mehr in den Vor­der­grund. Eine grö­ßere An­zahl Emi­gran­tInnen aus Deutschland fand in jener Zeit Zu­flucht in den klima­tisch gün­stigeren mittleren und höheren Lagen des Landes.
ワberleben in Avivgdor
Viele dieser EmigrantIn­nen wur­den in der Land­wirtschaft be­schäf­tigt. Daß es gerade hier noch einen Bedarf an Arbeits­kräf­ten gab, nutzten Organsatio­nen wie die 1891 als Auswan­derer- und Fürsor­gegesellschaft gegründet Jewish Colonisa­tion Asso­ciation (ICA) für Gruppen­aus­wanderun­gen. Die ICA ver­fügte über Ackerbauko­lonien in den Verei­nigten Staa­ten, Ka­nada, Argentinien und Bra­silien. So umfaßte etwa das Sied­lungsgebiet der ICA in Ar­gentinien ein Areal von 600.000 Hektar. 1936 hatte sie dort eine erste Grup­pe von 19 jü­dischen Fa­milien aus Deutschland in ih­rer Ko­lonie Avivgdor (Entre Rios) an­gesiedelt. Die Zeit­schrift “Jü­di­sche Wohl­fahrtspflege und So­zial­poli­tik” berich­tete dar­über: “Zum Zweck der An­siedlung er­hält jeder Kolo­nist von der ICA soviel Land zuge­wiesen, daß er bei dessen persön­licher Bear­beitung für sich und seine Fami­lie ein normales Aus­kommen hat und das Land im Verlauf einer Reihe von Jahren abzahlen kann. Es ist je nach Lage der Kolonie zehn bis hun­dert Hektar groß. Für jede Fami­lie wird auf dem ihr zugewie­senen Felde ein Haus aus zwei Zimmern und Küche gebaut. Sie ent­hält ferner die zur Be­wirtschaftung notwendige An­zahl von Pferden, Kühen und Acker­geräten und wird von land­wirt­schaft­lichen Experten wäh­rend der er­sten Zeit ihres Auf­ent­haltes zur Arbeit angesie­delt …
Die­se Kolonie ist im 32. Grad süd­licher Breite gele­gen, ihr Kli­ma ist gesund und für Eu­ropäer gut er­träglich … Jede Siedlung ist umzäunt und besitzt fol­gende An­lagen: 1 Haus, be­stehend aus 2 Zimmern und Kü­che mit not­wendig­ster Einrich­tung (1 Tisch, 4 Stühle, 4 Betten, 1 Schrank, 1 Herd und et­was Ge­schirr), eine of­fene Scheune, einen Hüh­ner­stall, ein Klosett und eine Dusch­vorrichtung. Ein Brun­nen wird im­mer gemeinsam für 2 oder 4 Sied­lungen angelegt. An le­ben­dem In­ventar wird je­der Sied­lungs­familie über­geben: Kü­he, Pferde, Hüh­ner. Eine Zucht­station ist für die Verbesse­rung des Vieh­bestandes vorgese­hen. Das Vieh wird dem Siedler ent­sprechend der Entwick­lung sei­ner Siedlung zuge­teilt. An Ma­schinen und Geräten erhält jede Sied­lungsfamilie 1 Wagen, 1 Pflug, 1 Egge, Milcheimer, Schau­feln, Hacke usw.”4 Die An­siedlung jü­discher Familien auf den ICA-Ko­lonien in Ar­gen­ti­nien blieb – neben der nach Pa­lästina – die wichtigste Form der Grup­pen­aus­wan­derung.
Ähnliche Organisationen wur­den in Brasilien tätig: Sie leiste­ten Bürgschaften, die ga­rantieren sollten, daß die Einwande­rerInnen nicht der Für­sorge zur Last fielen, und zahlten die gefor­derte Landungsgarantie­summe, in Höhe von rund 700 RM pro Per­son. Nach Uruguay konn­ten auf diese Weise mit ei­ner Ausnahmegeneh­migung des Prä­siden­ten 50 Bauernfamilien und einige land­wirtschaftliche Ar­beiter einwandern. Auch Chile nahm durch die Interven­tion ei­ner amerikanischen Hilfsorgani­sation 50 Fami­lien auf, Bedin­gung war, daß sie mit 4.000 RM aus­gestattet wurden.
Die schwierige Integration
Die südamerikanischen Län­der wurden seit 1936, besonders duch die indivi­duelle Immigra­tion, neben den USA und Palä­stina zu den bevorzugten Flucht­zie­len. Die schwierigen Le­bens­be­dingungen, das Klima und die Be­schäfti­gungssituation veran­laßten jedoch viele, später, als sich die Möglichkeiten boten, in die USA weiterzuwandern. Die kli­matischen Bedingun­gen waren zwar in Palästina ähnlich schlecht, aber dort versetzte der Wille, einen jüdischen Staat auf­zubauen, Berge. Die Arbeitssu­che war über­all, auch in den USA, kompliziert, aber in Süd­amerika war die Kluft zwischen den Einheimi­schen und den Zuwande­rerInnen besonders schwer zu überbrücken.
Die Emi­grantInnen wurden von der ansässi­gen Bevölkerung als Gringos – Weiße – angese­hen, die eigent­lich der Oberklasse an­gehören müßten. Sie verrichteten aber niedere Arbeiten, wa­ren in der Landwirtschaft tätig, eine Tatsache, die nicht in das Erscheinungs­bild passen wollte. Kon­flikte konnten nicht aus­blei­ben, eine Integration war kaum möglich, weder in die Gruppe der Indí­genas und Me­stizInnen noch in jene der “Wei­ßen”. Hin­zu kamen antise­mitische Vor­ur­tei­le, die von den dort lebenden Deutschen, ins­besondere dem Bot­schafts­per­sonal und ande­ren of­fiziellen VertreterIn­nen der NS-Re­gierung, geschürt wurden. So zeigt gerade Südamerika deut­lich, daß die Emigration, die Rettung vor der Verfol­gung, nicht gleichbedeu­tend war mit einer sicheren Existenz und ge­re­gel­ten Lebensumständen. Für die mei­sten be­deutete die Aus­wan­de­rung einen völligen Neu­an­fang, einen gänzlich verän­derten Kulturkreis und zumeist einen ge­sell­schaftlichen Abstieg mit all sei­nen Konsequenzen, insbeson­de­re dem Verlust eines per­sön­li­chen Umfelds, das dem eigenen so­zialen Niveau ent­sprach.

1 Walter Laqueur, Heimkehr. Reisen in die Vergangenheit, Berlin 1964, S. 53.
2 Inge Deutschkron, Ich trug den gelben Stern, Köln 1978, S. 46.
3 Marie-Luise Kreuter, Wo liegt Ecuador? Exil in einem unbekannten Land 1933-1945, Diss. Ms. Berlin 1995, S. IX
4 Jüdische Wohlfahrtspflege und So­zialpolitik, April 1936, S. 138f, Die Bedingungen der ICA-Kolonisation in Argenti­nien.

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