Die schwierige Flucht
Lateinamerika und die jüdischen Flüchtlinge der NS-Diktatur
Ihre beruflichen Qualifikationen stellten sich für die jüdischen Flüchtlinge als großes Hindernis heraus. Der Aufbau einer neuen Existenz in vielen Einwanderungsländern konnte nur unter bestimmten beruflichen Voraussetzungen gelingen, in manchen Staaten fanden nur gewisse Berufsgruppen Einlaß.
Aber auch die Politik zahlreicher überseeischer Länder, die im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die Einwanderung in dem Bestreben zu forcieren versucht hatten, ihre gewaltigen Gebiete zu erschließen und zu bevölkern, gehörte der Vergangenheit an. Die besondere Tragik für die Juden lag darin, daß die nationalsozialistische Verfolgung in eine Zeit fiel, in der die Auswanderungsmöglichkeiten wegen der Weltwirtschaftskrise so gering waren wie niemals zuvor.
Bizarre Listen, bitterer Ernst
Besonders die USA, die britischen Dominions und Lateinamerika waren durch den Zusammenbruch der Agrar- und Rohstoffpreise schwer getroffen worden und suchten, jede neue Einwanderung abzuwehren bzw. nur unter bestimmten Voraussetzungen zuzulassen. So beschränkte sich einem Informationsblatt der jüdischen Auswanderungsberatungsstelle in Berlin zufolge das Angebot im Sommer 1938 auf nur wenige ausgefallene Möglichkeiten: gesucht wurde für Paraguay ein perfekter, selbständiger Bonbonkocher und für San Salvador ein unverheirateter, jüdischer Ingenieur für den Bau elektrischer Maschinen. Die Liste, die noch weitere ähnlich bizarre offene Stellen in Afrika und den British Dominions nennt, könnte einem Sketch entnommen sein, war aber bitterer Ernst.1
Die Entscheidung für ein Auswanderungsland hing von vielen Faktoren ab. Zunächst galt es sich eine Art “Auswanderer-Dialekt” anzueignen. Begriffe wie “Chamada” (Visumvoraussetzung für Brasilien), “Leumundszeugnis”, “Unbedenklichkeitserklärung”, “Bordgeld” und “Gesundheitsattest” bestimmten den Alltag, die Reise in ferne Länder wurde erwogen, deren Lage erst mühsam auf dem Globus eruiert werden mußte.
Papiere entscheiden
über Leben und Tod
Die Wahl eines Auswanderungslandes und der Besitz der entsprechenden Unterlagen sollte sich bald als eine Frage von Leben und Tod erweisen. Nachdem sich ein Staat nach dem anderen der Aufnahme von Juden aus Deutschland verschlossen hatte, wurde die Suche nach einem aufnahmebereiten Einwanderungsland zu einer Art “Gesellschaftsspiel”, wie die Berlinerin Inge Deutschkron berichtet: “Vielleicht könnte man hierhin oder auch dorthin … Und die Finger wanderten unruhig auf der Landkarte hin und her. Oder: ‘Was ist eigentlich mit Paraguay?’ ‘Hast du schon Neuseeland probiert?’ ‘Ich habe gehört, daß der X ein Visum für Panama bekommen hat.’ ‘Zehntausend Mark soll ein Visum nach Venezuela kosten’…”2
Tatsächlich zahlten manche Unsummen für ein Visum. Immer wieder fielen die verzweifelt nach einer Auswanderungsmöglichkeit suchenden Juden auf zwielichtige Geschäftemacher herein. Nicht selten stellte sich nach wochen- oder monatelanger Fahrt bei der Ankunft im neuen Land heraus, daß es sich um gefälschte, unautorisierte oder bereits abgelaufene Visa handelte. Oft war es nur durch Überredungskunst und durch die Hilfe von jüdischen Organisationen vor Ort möglich, doch noch einzureisen, aber manche wurden auch zurückgeschickt, wie die Geschichte der St. Louis und der Versuch der Passagiere, in Kuba an Land zu gehen, zeigt (vgl. den folgenden Artikel).
Obwohl die Emigration nach Südamerika bereits 1933 eingesetzt hatte, war ihr Anteil an der gesamten Auswanderung anfangs eher unbedeutend. Insbesondere wegen der Sprachprobleme blieb die Emigration dorthin lange Zeit nur zweite Wahl. Als sich die Lage in Europa allmählich zuzuspitzen begann, wurden insbesondere Argentinien und Brasilien zu begehrten Auswanderungszielen. Immerhin rangierte Brasilien bereits 1933 nach den Vereinigten Staaten und Palästina an dritter Stelle bei den Aufnahmeländern. Eine interessante Tatsache, vor al-lem weil zum damaligen Zeitpunkt die europäischen Länder noch einen erheblichen Teil der EmigrantInnen aufnahmen und Südamerika eher exotisch und fernab erschien. Deshalb wurden Länder wie Ecuador, das von allen lateinamerikanischen
Staaten die liberalste Einwanderungspolitik aufzuweisen hatte, nur als letzte Hoffnung in Erwägung gezogen.3 Als nach der Pogromnacht im November 1938 eine Massenflucht einsetzte, hatten viele Länder ihre Einwanderungspolitik neu geregelt und restriktive Maßnahmen eingeführt. 1937 verschärfte Brasilien die Einwanderungsbestimmungen drastisch, zunächst schien es sogar, daß bereits eingewanderte Flüchtlinge wieder ausgewiesen werden sollten. Auch Argentinien, das seit 1935 zum Kreis der wichtigen Auswanderungsländer gehörte, schränkte die Einwanderungsmöglichkeiten deutlich ein. Seit den Regierungsdekreten vom 28. Juli und 26. August 1938 hing die Aufnahmeerlaubnis von der Einladung durch nahe Verwandte (Llamada) oder von spezieller beruflicher Qualifikation ab. Danach sank die Zahl der EinwandererInnen stetig und erreichte nach Beginn des Zweiten Weltkriegs den Nullpunkt. Auch in Uruguay und Paraguay verschlechterte sich, vor allem durch die desolate Wirtschaftslage, die Situation seit 1937. Hingegen trat Kolumbien 1937/38 mehr in den Vordergrund. Eine größere Anzahl EmigrantInnen aus Deutschland fand in jener Zeit Zuflucht in den klimatisch günstigeren mittleren und höheren Lagen des Landes.
ワberleben in Avivgdor
Viele dieser EmigrantInnen wurden in der Landwirtschaft beschäftigt. Daß es gerade hier noch einen Bedarf an Arbeitskräften gab, nutzten Organsationen wie die 1891 als Auswanderer- und Fürsorgegesellschaft gegründet Jewish Colonisation Association (ICA) für Gruppenauswanderungen. Die ICA verfügte über Ackerbaukolonien in den Vereinigten Staaten, Kanada, Argentinien und Brasilien. So umfaßte etwa das Siedlungsgebiet der ICA in Argentinien ein Areal von 600.000 Hektar. 1936 hatte sie dort eine erste Gruppe von 19 jüdischen Familien aus Deutschland in ihrer Kolonie Avivgdor (Entre Rios) angesiedelt. Die Zeitschrift “Jüdische Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik” berichtete darüber: “Zum Zweck der Ansiedlung erhält jeder Kolonist von der ICA soviel Land zugewiesen, daß er bei dessen persönlicher Bearbeitung für sich und seine Familie ein normales Auskommen hat und das Land im Verlauf einer Reihe von Jahren abzahlen kann. Es ist je nach Lage der Kolonie zehn bis hundert Hektar groß. Für jede Familie wird auf dem ihr zugewiesenen Felde ein Haus aus zwei Zimmern und Küche gebaut. Sie enthält ferner die zur Bewirtschaftung notwendige Anzahl von Pferden, Kühen und Ackergeräten und wird von landwirtschaftlichen Experten während der ersten Zeit ihres Aufenthaltes zur Arbeit angesiedelt …
Diese Kolonie ist im 32. Grad südlicher Breite gelegen, ihr Klima ist gesund und für Europäer gut erträglich … Jede Siedlung ist umzäunt und besitzt folgende Anlagen: 1 Haus, bestehend aus 2 Zimmern und Küche mit notwendigster Einrichtung (1 Tisch, 4 Stühle, 4 Betten, 1 Schrank, 1 Herd und etwas Geschirr), eine offene Scheune, einen Hühnerstall, ein Klosett und eine Duschvorrichtung. Ein Brunnen wird immer gemeinsam für 2 oder 4 Siedlungen angelegt. An lebendem Inventar wird jeder Siedlungsfamilie übergeben: Kühe, Pferde, Hühner. Eine Zuchtstation ist für die Verbesserung des Viehbestandes vorgesehen. Das Vieh wird dem Siedler entsprechend der Entwicklung seiner Siedlung zugeteilt. An Maschinen und Geräten erhält jede Siedlungsfamilie 1 Wagen, 1 Pflug, 1 Egge, Milcheimer, Schaufeln, Hacke usw.”4 Die Ansiedlung jüdischer Familien auf den ICA-Kolonien in Argentinien blieb – neben der nach Palästina – die wichtigste Form der Gruppenauswanderung.
Ähnliche Organisationen wurden in Brasilien tätig: Sie leisteten Bürgschaften, die garantieren sollten, daß die EinwandererInnen nicht der Fürsorge zur Last fielen, und zahlten die geforderte Landungsgarantiesumme, in Höhe von rund 700 RM pro Person. Nach Uruguay konnten auf diese Weise mit einer Ausnahmegenehmigung des Präsidenten 50 Bauernfamilien und einige landwirtschaftliche Arbeiter einwandern. Auch Chile nahm durch die Intervention einer amerikanischen Hilfsorganisation 50 Familien auf, Bedingung war, daß sie mit 4.000 RM ausgestattet wurden.
Die schwierige Integration
Die südamerikanischen Länder wurden seit 1936, besonders duch die individuelle Immigration, neben den USA und Palästina zu den bevorzugten Fluchtzielen. Die schwierigen Lebensbedingungen, das Klima und die Beschäftigungssituation veranlaßten jedoch viele, später, als sich die Möglichkeiten boten, in die USA weiterzuwandern. Die klimatischen Bedingungen waren zwar in Palästina ähnlich schlecht, aber dort versetzte der Wille, einen jüdischen Staat aufzubauen, Berge. Die Arbeitssuche war überall, auch in den USA, kompliziert, aber in Südamerika war die Kluft zwischen den Einheimischen und den ZuwandererInnen besonders schwer zu überbrücken.
Die EmigrantInnen wurden von der ansässigen Bevölkerung als Gringos – Weiße – angesehen, die eigentlich der Oberklasse angehören müßten. Sie verrichteten aber niedere Arbeiten, waren in der Landwirtschaft tätig, eine Tatsache, die nicht in das Erscheinungsbild passen wollte. Konflikte konnten nicht ausbleiben, eine Integration war kaum möglich, weder in die Gruppe der Indígenas und MestizInnen noch in jene der “Weißen”. Hinzu kamen antisemitische Vorurteile, die von den dort lebenden Deutschen, insbesondere dem Botschaftspersonal und anderen offiziellen VertreterInnen der NS-Regierung, geschürt wurden. So zeigt gerade Südamerika deutlich, daß die Emigration, die Rettung vor der Verfolgung, nicht gleichbedeutend war mit einer sicheren Existenz und geregelten Lebensumständen. Für die meisten bedeutete die Auswanderung einen völligen Neuanfang, einen gänzlich veränderten Kulturkreis und zumeist einen gesellschaftlichen Abstieg mit all seinen Konsequenzen, insbesondere dem Verlust eines persönlichen Umfelds, das dem eigenen sozialen Niveau entsprach.
1 Walter Laqueur, Heimkehr. Reisen in die Vergangenheit, Berlin 1964, S. 53.
2 Inge Deutschkron, Ich trug den gelben Stern, Köln 1978, S. 46.
3 Marie-Luise Kreuter, Wo liegt Ecuador? Exil in einem unbekannten Land 1933-1945, Diss. Ms. Berlin 1995, S. IX
4 Jüdische Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik, April 1936, S. 138f, Die Bedingungen der ICA-Kolonisation in Argentinien.