Brasilien | Nummer 311 - Mai 2000

“Dies ist eine Gesellschaft voller Grenzen”

Interview mit der APOINME-Vertreterin Maninha Xukuru-Kariri

Maninha Xukuru-Kariri ist seit 1991 Vertreterin des Netzwerks der indigenen Völker des Nordostens, Minas Gerais und Espírito Santo, APOINME. In ihm haben sich 33 Völker zusammengeschlossen, um für Land und kulturelle Selbstbestimmung zu kämpfen.

Tina Kleiber

Der Anspruch auf Land ist doch letztlich immer wieder das Hauptanliegen und gleichzeitig der entscheidende Konflikt, der allen anderen Themen voran steht, warum?

Das Land hat für uns eine enorme Bedeutung, es ist nicht käuflich, es ist Teil unseres Lebens! Wir glauben, dass das Land, indigenes Land oder nicht-indigenes Land, geschützt und erhalten werden muss, dass es unsere Lebensgrundlage und die der nachfolgenden Generationen ist. Wir werden oft als faule Vagabunden bezeichnet, weil wir das Land nicht richtig nutzen, nicht monetär wertschätzen und ausbeuten. Aber die Ausbeutung des Landes geht mit der Ausbeutung der Menschen einher. So fing im Jahre 1500 alles an. Wir seien Nichtsnutze, die nicht arbeiten. Wir wurden zur Sklavenarbeit gezwungen. Diese Stigmatisierung tragen wir bis heute mit uns herum. Aber wir haben kein Interesse, kommerzielle Landwirtschaft zu betreiben – nur um den Weißen zu demonstrieren, dass wir keine Nichtsnutze sind.

APOINME setzt sich vor allem für die Demarkierung indigenen Landes ein. Warum ist das so wichtig?

Weil wir seit Jahrhunderten hier leben. Hier gab es um 1500 fünf Millionen Indigene. Damals machten wir 100 Prozent der Bevölkerung Brasiliens aus. Heute sind wir noch etwa 300.000 und der Anteil der Gesamtbevölkerung liegt bei 0,2 Prozent. Die Demarkierung unseres Landes ist wichtig, um zu garantieren, dass die indigenen Völker einen minimalen Raum zum Überleben zur Verfügung haben – physisch und kulturell. Die portugiesischen Kolonisatoren haben das Land einfach vergeben. Nicht einmal die Grenzen dieses vergebenen Landes wurden respektiert. Heute gibt es ganze Städte auf indigenem Territorium.
Zunächst ging es um die Missionierung; darum, aus Wilden, Zivilisierte zu machen. Aus Wilden Menschen zu machen war die Philosophie. Damit die Wilden den europäischen Gott anerkennen, zerstörten sie unsere Kulturen, Religionen und unsere Lebensweise. Sie haben unsere Häuser zerstört, unser Familienkonzept. Alles haben sie zerstört und uns die portugiesische Denkweise und Weltanschauung aufgezwungen.

Es kommt auch immer wieder zu Auseinandersetzungen um Land zwischen Schwarzen und Indigenen oder mit den Landlosen des MST. Wieso existieren diese Konflikte, wo sich die sozialen Bewegungen doch eigentlich zusammenschließen könnten?

Das ist der Fall der Xokó im Bundesstaat Sergipe, am Flussufer des São Francisco. Nach 15 Jahren intensiven Landkonfliktes mit vielen, vielen Besetzungen (retomadas), Schießereien und Rückschlägen wurde das Land der Xokó demarkiert. Um den bestehenden Konflikt in der Region nicht völlig eskalieren zu lassen, haben die Indigenen sich darauf eingelassen, die Siedlung Mocambo aus der Demarkierung auszuklammern. In diesem Siedlungsgebiet leben ebenfalls indigene Familien, die aber relativ gut mit der Nicht-Indigenen Mehrheit im Umkreis ihres Dorfes zusammenlebten. Also fand die Demarkierung ohne dieses Stück Land statt, was eigentlich bereits illegal war, weil auch diesen Familien die Anerkennung ihres Landanspruchs zusteht.
In Mocambo leben auch Schwarze und heute fordern die Schwarzen, als Nachfahren widerständiger Sklaven (remanescentes de quilombos) dieses Land für sich. Für diese Quilombo-Nachfahren gilt aus der Verfassung von 1988 ein ähnlicher Rechtsanspruch auf Land wie für indigene Völker.
Uns geht es nicht darum, den Schwarzen den Anspruch auf traditionelles Land zu verweigern. Ich denke, sie haben ebenfalls ein Recht auf demarkiertes Land. Alle Menschen haben ein Recht auf Land, aber es muss nicht indigenes Land sein. Da muss die Regierung eingreifen, den Fehler korrigieren, das Land der Xokó vollständig demarkieren und den Quilombo-Nachfahren Ersatzland stellen. Die Schwarzen wurden nach Mocambo gebracht, sie sind keine Ureinwohner des Landes, sie wurden hierher verschleppt. Die Regierung hat das angerichtet, also hat sie auch die Verantwortung, dieses Unrecht zu korrigieren.

Wie läuft der Prozeß vom Anspruch auf Land bis zur Anerkennung dieses Gebietes ab?

Ein indigenes Volk weiß durch die mündliche Überlieferung der Geschichte und durch Mythen, die sich auf das Land beziehen, über die Grenzen des eigenen Landes bescheid. Das sind Landesgrenzen, die bereits Resultat von Vertreibungen sind. Die heutigen Forderungen beziehen sich schon auf das absolute Minimum, auf Vermessungen aus dem 18./19.Jahrhundert. Davor gab es keine Grenzen. Die indigenen Völker stellten keine Grenzen auf, so wie heute, wo alles voller Grenzen ist: Grenzen der Stadt, des Munizips, des Bundesstaats, internationale Grenzen, dies ist eine Gesellschaft voller Grenzen!
Um die Territorien zurückzuerlangen muss enormer Druck ausgeübt werden. Im Nordosten funktioniert diese Druckausübung über Landbesetzungen – wir nennen das Wiederaneignung. Das Volk schließt sich zusammen und organisiert die Besetzung des Landes eines Großgrundbesitzers (fazendeiro), dadurch wird ein Konflikt sichtbar gemacht. Wenn der daraus entstehende Konflikt eskaliert, gibt es meistens Tote. Niemand von uns hat je einen Großgrundbesitzer oder einen Administrator umgebracht. Es sind immer die Indigenen, die umkommen.
Wenn es zu einer Landbesetzung kommt, schickt die Regierung meistens eine Sachverständigengruppe (grupo técnico), bestehend aus Anthropologen, Soziologen und Agraringenieuren von der Indigenenbehörde FUNAI und der brasilianischen Agrarreformbehörde INCRA. Diese Gruppe kommt in das Gebiet, um es zu vermessen (delimitacao) und zu identifizieren. Die Vermessung bedeutet einfach, die Markierung des Gebiets vorzunehmen.
Nach der Veröffentlichung des Berichts können die aktuellen Besitzer des Landes Widerspruch gegen die Markierung einlegen. Bis 1995/96 gab es diese Einspruchsmöglichkeit nicht. Vorher fand die Demarkierung statt, wie es in der Verfassung vorgeschrieben ist. 1996 erließ der neue Präsident Cardoso ein Dekret und räumte diese Einspruchsmöglichkeit ein. Die Interessierten sind natürlich nicht wenige, alle melden Interesse an indigenem Land an. Das Absurde daran ist, dass die Verfassung unmissverständlich bestimmt, dass nicht mal Landtitel einen Rechtsanspruch geltend machen können, wenn es sich um indigenes Land handelt!
Jedes Jahr veröffentlicht die Regierung die Regulierung zahlreicher indigener Gebiete. Aber in Wirklichkeit sind das keine aktuellen Regulierungen, sondern sie wurden vor 10-15 Jahren beansprucht, als es keinen Einspruch gab. Sie demarkieren also dieses Land und stellen es als ihren großen Verdienst dar, dabei sind das lediglich Altlasten. Außerdem heißt die Registrierung eines Gebietes noch lange nicht, dass das Land auch in der Praxis den Indigenen zur Verfügung steht und in ihren Besitz kommt, meistens ist das nicht der Fall. Registrierung schön und gut, aber es bedarf natürlich des Abzugs der bisherigen Siedler, das heißt die Umsiedlung der Kleinbesitzer und deren Entschädigung und auch die Entschädigung der Großgrundbesitzer. Und daran hat die Regierung überhaupt kein Interesse, sie macht es einfach nicht! Um das zu erreichen, müssen die indigenen Völker also Land wiederbesetzen, worauf sie formal längst Anspruch haben.

Wie ist Eure Haltung zu den offiziellen Feierlichkeiten des 500. Jahrestages?

Die Regierung Bahias will von dem Volk der Pataxó in Coroa Vermelha 20 Hektar Land – und ihr Land ist sehr klein, es umfaßt ca. 800 Hektar – für ein, sagen wir mal, indigenes Disneyland. Mir fehlen die passenden Worte für diese Absurdität – nach 500 Jahren des Eindringens in unsere Gebiete, der Vertreibung, des Landraubs, der Ermordung in allen Variationen wollen sie heute ein Monument bauen, um die Entdeckung zu feiern. Es nennt sich “Freilichtmuseum der Entdeckung”. Sie wollen die Indigenen da reinstellen und mit aufwendige Nachbildungen das indigene Leben um 1500 rekonstruieren. Und die Indios sollen sich anmalen und traditionelle Kleidung tragen, um darin indianisches Kunsthandwerk zu verkaufen. Sie wollen also einen Zirkus aufbauen, um die Indios zu präsentieren und die Künstler – besser gesagt die Marionetten, denn sie würden zu Marionetten der Regierung werden – und das Objekt der Belustigung wären die Pataxó.
Zum einen können sie damit der ganzen Welt, die zur 500 Jahr-Feier auf Porto Seguro schaut, zeigen, dass sie etwas für die Indigenen tun. Aber das ist eine Verzerrung der Lage, denn es gibt seitens der Pataxó einen verfassungsmäßig festgeschriebenen Anspruch auf dieses Land. Dieses Recht kann nicht zum Verhandlungsgegenstand werden. Die Regierung hat die Pflicht, den Indigenen ihr Land zurückzugeben und die derzeitigen Eigentümer zu entschädigen! Diese Pflicht kann sie gegen nichts eintauschen. Diese Regierung, die sich so demokratisch und engagiert für die sozialen Bewegungen gibt, ist meiner Meinung nach eine der schlimmsten Regierungen, die wir bisher hatten. Sie verkauft vor allem international ein Bild des sozialen Engagements, aber gleichzeitig verweigert sie Bürgerrechte, Wohnraum, das Recht auf Arbeit, Lohn. Und diese Verweigerung betrifft die Bevölkerung als Ganzes, die Indigenen als kleine Minderheit leiden darunter nochmal besonders.

Wie ist das Verhältnis zwischen APOINME und MST, die auch immer wieder indigenes Land besetzen? Bringt sie das Thema „500 Jahre“ näher?

Was den MST anbetrifft glaube ich, dass es auf nationaler Ebene das Gebot gibt, kein indigenes Land zu besetzen. Aber das ist durchaus schon passiert. Im Süden Bahias zum Beispiel gibt es einen heftigen Konflikt. Die INCRA hat im MST organisierte Landlose auf dem Gebiet der Pataxó angesiedelt. Die Landlosen und die Pataxó sind in einen üblen Streit verwickelt. Das ist nichts, was man dem MST anlasten kann, dafür ist die Regierung verantwortlich. Auf der Führungsebene gibt es keinerlei Probleme, an der Basis gibt es ab und an kleine Probleme wie diese, die wir in Gesprächen zu klären versuchen.
Bündnisse sind nicht nur deshalb schwierig, sondern weil die Unterschiede zwischen beiden Bewegungen so groß sind. Diese Unterschiede zu verstehen ist glaube ich nur möglich, wenn man sie wenigstens in Grundzügen kennt. Ich glaube, das ist keiner der Bewegungen so richtig klar. Und in einem so vielfältigen so pluri-ethnischen Land wie Brasilien braucht man viel Sensibilität und Verständnis füreinander, und das ist leider nicht die Regel in den sozialen Bewegungen. Das führt zu Konflikten, Korporativismus, Isolierung, Ethno-Zentrismus usw. Da bedarf es vieler Aufeinanderzugehen. Ich muss nicht landlos sein, um den Kampf der Landlosen zu unterstützen, und ich muss nicht Indigene sein, um die Demarkierung indigenen Landes zu fordern.

Interview: Tina Kleiber

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