Entwicklungspolitik | Nummer 291/292 - Sept./Okt. 1998

Ein düsterer Tag dämmert den Göttern!

Zu den Perspektiven der Entwicklungspolitik

Die Entwicklungshilfe ist in der Krise. Nicht gerade eine erregende Neuigkeit, gehört die Krise doch zur Entwicklungspolitik wie die Evaluierung zum Projekt. Als einziges Alternativkonzept kursiert derzeit die Forderung einer Entwicklungspolitik als internationaler Struktur- und Ordnungspolitik.

Peter Wahl

Schon 1969 konstatierte der von den Vereinten Nationen in Auftrag gegebene “Pearson-Bericht” eine Krise der Entwicklungspolitik. Nichtsdestotrotz folgte Anfang der siebziger Jahre die Blüte der Entwicklungspolitik in der Bundesrepublik, untrennbar mit den Namen Brandt und Eppler verbunden. Selbst die inhaltliche Krise der Entwicklungspolitik, die in Epplers Rücktritt gipfelte, änderte nichts daran, daß die Mittel für die (west)deutsche Entwicklungshilfe ein Jahrzehnt lang weiter anstiegen, bis zum Höchsstand 1983 mit 0,48 Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP).
Notorisch sind auch die Theorie-Krisen der Entwicklungspolitik. Dies gilt sowohl für ihre kritischen Varianten als auch für die Mainstream-Konzeption von Entwicklung. So wurde die kritische Dependenz-Theorie zu Beginn der achtziger Jahre zu Grabe getragen und die Vision von „Entwicklung als Befreiung“ zerschellte spätestens mit der Niederlage der Sandinisten bei den freien Wahlen 1990. Die konventionelle Vorstellung nachholender Modernisierung nach westlichem Vorbild ist mit der Einsicht in die ökologischen Grenzen des Wachstums obsolet geworden. Spätestens seit der Rio-Konferenz ist offiziell aktenkundig, daß die westliche Art des Produzierens und Konsumierens nicht universalisierbar ist.
Davon unberührt hat die entwicklungspolitische Expertendiskussion ununterbrochen sektorale Innovationen hervorgebracht. Fast so schnell wie die Mode wechselten die Stichworte in den entwicklungspolitischen Publikationen: Grundbedürfnisstrategie, ländliche Entwicklung, informeller Sektor, Umwelt- und Ressourcenschutz, Frauenförderung, Armutsbekämpfung, Good Governance, Partizipation und vieles anderes mehr. In dieser Saison ist PPP (Public Private Partnership) der letzte Schrei.
Liegt angesichts dieser unverdrossenen Produktivität nicht der Schluß nahe: „Totgesagte leben länger!“?

Neue Qualität der Krise

Anders als in ihrer bisherigen Krisengeschichte ist die Konstellation heute jedoch eine grundsätzlich andere. Es gibt einige Umstände, die darauf verweisen, daß es zum letzten Gefecht der Entwicklungshilfe kommen könnte. An erster Stelle steht hier, daß die wichtigste Funktion der Entwicklungshilfe gegenstandslos geworden ist: Entwicklungshilfe als Instrument zur Eindämmung dessen, was im Kalten Krieg als „Kommunismus“ definiert wurde. Inzwischen gesteht selbst das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) dies nur noch leicht verklausuliert ein, wenn es in der entwicklungspolitischen Konzeption von 1996 heißt: „Die Entwicklungspolitik wird nicht mehr von geostrategischen Erwägungen des Ost-West-Konflikts überlagert.“ Da die Gefahr, daß Entwicklungsländer sich für einen anderen Entwicklungsweg als den kapitalistischen könnten, derzeit nicht besteht, entfällt eine entscheidende Legitimationsgrundlage für Entwicklungspolitik.
Hinzu kommt, daß die neoliberale Globalisierung, die sich zunächst vor und unabhängig von der historischen Wende von 1989/90 entwickelte, in Wechselwirkung mit dem Ende des Kalten Krieges zu einer Dynamik geführt hat, deren Konsequenzen nur mit den historischen Brüchen nach den beiden Weltkriegen vergleichbar ist. Damit sind die Rahmenbedingungen für Entwicklungspolitik völlig andere. Kamen Forderungen nach Abschaffung der Entwicklungshilfe früher nur von Teilen der Linken – mit der Begründung, es handele sich um verkappten Neokolonialismus – oder in Form immanenter, aber randständiger Kritiken wie von Brigtte Erler in ihrem Buch „Tödliche Hilfe“, so wird die staatliche Entwicklungshilfe heute aus zentralen Positionen in Frage gestellt. So meint Wolfram Engels von der Universität Frankfurt: „Für staatlich administrierten Kapitalverkehr in Form der Entwicklungshilfe ist in dieser Welt kein Raum mehr. Sie hat sich ohnehin nicht bewährt. ….Nun zeigt es sich, daß der Markt den Kapitaltransfer wirkungsvoller bewältigt als Entwicklungsbürokratien, wenn man ihm nur geeignete Rahmenbedingungen bietet.“ (Wirtschaftswoche 9/94).
Wenn es richtig ist, daß die Finanzen ein unbestechlicher Indikator für Interessenlagen und Prioritätensetzungen in der Politik sind, so finden wir die empirische Bestätigung Engels’ im freien Fall der Ausgaben für Öffentliche Entwicklungshilfe (ODA). Die Auszehrung der staatlichen Budgets der Industrieländer, die weithin als Begründung für den Rückgang der Entwicklungshilfe angeführt wird, ist dabei nur Symptom. Ursache für den Rückgang ist der systemische Anti-Etatismus des Neoliberalismus, nach dem der keynesianische Umverteilungs- und Sozialstaat tedenziell auf Null gebracht werden soll.

Flucht nach vorne

Angesichts dieser Perspektiven bleiben Rettungsversuche nicht aus, angefangen beim BMZ und großen Teilen der umgruppierten Development Community (kursiv) aus entwicklungspolitischen Consulting-Unternehmen und Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO), die an ihrer Abschaffung natürlich wenig Interesse haben. An die Stelle des sowjetischen Lagers treten jetzt neue Feindbilder als Legitimationsgrundlage wie Migration, die demographische Entwicklung im Süden, religiöser Fundamentalismus, Terrorismus und Umweltkatastrophen. Mit diesen wird der Süden zu einem Bedrohungskomplex aufgebaut, aus dem Entwicklungspolitik als zukunftsorientierte Risikovorsorge neu begründet werden soll.
Gleichzeitig wird eine Anpassung an den neoliberalen Mainstream gesucht, indem Entwicklungspolitik als Beitrag zur Sicherung des „Standorts Deutschland“ deklariert wird. Allerdings sollten solche Äußerungen in den offiziellen Verlautbarungen nicht überbewertet werden, da sie in hohem Maße rhetorische und taktische Züge tragen. Ziel der Anpassung ist es, wieder mehr Akzeptanz in Politik und Öffentlichkeit zu finden. Noch immer gibt es beim Personal des BMZ und den Durchführungsorganisationen zu viel Erfahrungsschatz, der einer umstandslosen Übernahme der neoliberalen Markt- und Standortreligion entgegensteht.
Gleichwohl findet schrittweise eine reale Orientierung der Entwicklungspolitik am neoliberalen Leitbild statt. Zentrale Momente dieses Ampassungsprozesses waren zum Beispiel:
– die uneingeschränkte Gefolgschaft gegenüber den Strukturanpassungsprogrammen von IWF und Weltbank, und in deren Schlepptau der EU-Entwicklungspolitik,
– die Aufnahme des Kriteriums „Einführung einer sozialen Marktwirtschaft“ in den Katalog, nach dem die bilaterale Hilfe vergeben wird,
– die wirtschaftsfreundliche Umformulierung des Regionalkonzepts für Lateinamerika und von Sektorkonzepten,
– sowie das Konzept der Public Private Partnership.
Das Dilemma dieser Strategie ist, daß sie die eigene Basis untergräbt: Je mehr sie sich auf die neoliberale Logik einläßt, desto eher macht sie staatliche Entwicklungshilfe überflüssig.

Das alternative Konzept

Weiter greift dagegen ein anderer Ansatz, der mit der Formel „Entwicklungspolitik als internationale Struktur- und Ordnungspolitik“ die aktuelle Diskussion zu dominieren beginnt. Politisch ist diese Debatte vor allem im Rot-Grünen Spektrum und bei zahlreichen NRO angesiedelt. So heißt es zum Beispiel im Memorandum entwicklungspolitischer Experten zur Bundestagswahl 1998, in dessen Titel bereits die Formel „Entwicklungspolitik als internationale Strukturpolitik“ auftaucht, es müsse „an die Stelle der bisherigen Entwicklungspolitik und der ihr entgegenwirkenden Dominanz der internationalen Finanzakteure eine verantwortliche weltweite Strukturpolitik treten.“ Und der jüngste Bericht über „Die Wirklichkeit der Entwicklungshilfe“ (herausgegeben von terre des hommes und der Welthungerhilfe), der alle Jahre eine Kritik der staatlichen Entwicklungspolitik aus Sicht dieser NRO übt, argumentiert, es müsse „staatliche Entwicklungspolitik als übernationale Ordnungspolitik“ gestaltet werden. Auch in der internationalen Development Community spielt der Ansatz unter der Bezeichnung Global Governance eine große Rolle.
Auch wenn es sich nicht um besonders präzise Begriffe handelt, so läßt sich hinter internationaler Struktur- und Ordnungspolitik respektive Global Governance doch ein diskursives Feld mit einigen festen, immer wiederkehrenden Größen ausmachen:
– das Konzept versteht sich als Alternative zur neoliberalen Globalisierung im allgemeinen und zur Strukturanpassungspolitik von IWF und Weltbank im besonderen,
– die internationalen wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen sollen im Sinne dieses Leitbilds verändert werden,
– Strukturveränderungen innerhalb der Industriegesellschaften in Richtung „nachhaltiger Entwicklung“ werden für notwendig gehalten,
– zusammen mit anderen Politikfeldern, wie Außen-, Umwelt-, Landwirtschafts-, Verkehrs- und Energiepolitik soll Entwicklungspolitik zu einem neuen, „ganzheitlichen“ Politiktypus integriert werden,
– institutionell soll ein Netz aus reformbedürftigen internationalen Organisationen (UNO, Welthandelsorganisation (WTO), Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung etc.) sowie ein Geflecht von völkerrechtlichen Abkommen die globalisierte Wirtschaft regulieren und globale Probleme lösen,
– NRO wird eine gewichtige Funktion als demokratisierender Faktor und Träger von Kompetenz zugewiesen.

Wie alternativ ist die Alternative?

Internationale Struktur- und Ordnungspolitik ist also nicht mehr und nicht weniger als ein umfassendes Reformkonzept, das weit über das traditionelle Koordinatensystem von Entwicklungshilfe hinausgeht. Auch wenn über weite Strecken noch unvollständig formuliert, gewinnt es auf dem Hintergrund sinkender Akzeptanz des neoliberalen Leitbildes politische Bedeutung. In dem Maße, wie die Chancen auf einen politischen Paradigmenwechsel zunehmen, wird das Konzept an Attraktion gewinnen, und es ist nicht auszuschließen, daß es sich zum hegemonialen Diskurs für das kommende Jahrzehnt entwickelt.
So attraktiv das Konzept auf den ersten Blick erscheint, so geraten bei näherem Hinsehen auch seine Grenzen und Schwächen in den Blick.
So werden zum Beispiel die normative und analytische Ebene nicht deutlich voneinander getrennt, was zu einer blauäugig-idealistischen Aura führt, die das Ganze diffus umgibt, ähnlich wie bei dem Begriff der „nachhaltigen Entwicklung“. Besonders deutlich wird dies daran, daß das Konzept weitgehend Interessen, Macht- und Herrschaftsstrukturen im real existierenden Kapitalismus ausblendet. Ohne eine Kritik der politischen Ökonomie der Globalisierung dürfte aber auch eine tragfähige Alternativstrategie nicht zu haben sein.
Für die Handlungsempfehlungen steht demzufolge eine einseitige Konsensorientierung im Vordergrund, während Konflikt und die Entwicklung von emanzipatorischer Gegenmacht als Agent sozialen Wandels nicht vorgesehen sind.
Problematisch ist auch die Überschätzung von NRO als soziale Träger des Wandels. Neben Staat(en) und den dominanten Wirtschaftsakteuren wie den Transnationalen Konzernen, sollen sie ebenfalls als global players eine wesentliche Gestaltungsaufgabe in der internationalen Struktur- und Ordnungspolitik wahrnehmen.
Anders als Regierungen verfügen NRO kaum über Machtmittel. Anders als große Marktakteure verfügen sie auch nicht über nennenswerte finanzielle Mittel, mit denen sie Macht und Einfluß ausüben könnten. Ihre Ressourcen sind machtpolitisch „weiche“ Instrumente: Eine gewisse Sachkompetenz, Motivation und Engagement, das Image von Dynamik und Unverbrauchtheit, der Charme der Neuartigkeit sowie der Ruf moralischer Integrität, Unbestechlichkeit und selbstloser Idealismus. All dies verschafft den NRO hohe Akzeptanz in der Bevölkerung.
Wenn es ihnen gelingt, auf dieser Grundlage Öffentlichkeit herzustellen, gewinnen sie eine gewisse politische Relevanz und sind dann in der Lage, etwas mehr Transparenz in Entscheidungsprozesse zu bringen. Dennoch sollte die medienvermittelte Spektakularität einiger NRO-Aktionen (vor allem Greenpeace) und die Umarmungspolitik von staatlicher Seite nicht den Blick für die realistische Einschätzung verstellen, daß NRO im Vergleich zu Staat und Markt der Floh zwischen Rhinozeros und Krokodil ist. Ihre Stärke ist eine geliehene Stärke, denn erstens nutzt das neoliberale Projekt NRO gerne, um ihnen kostengünstig einige Aufgaben des demontierten Sozialstaates zu geben, darunter auch entwicklungspolitische. Der neoliberale Anti-Etatismus trifft sich hier mit der bei zahlreichen NRO zu findenden kommunitaristischen Mittelstandsphilosophie von der „Bürgergesellschaft“. Zweitens nutzen reformorientierte Regierungen und internationale Institutionen wie zum Beispiel die Entwicklungsorganisationen der Vereinten Nationen UNDP und UNEP die NRO gerne, um ihre Defizite an Problemlösungskompetenz in globalen Fragen zu decken.
In beiden Fällen droht Instrumentalisierung und Kooption.
Last but not least ist das politische Gewicht von NRO in hohem Maße von den elektronischen Medien abhängig. Wenn deren dramaturgischen Bedürfnisse nach Schwarz-Weiß- oder David-Goliath-Schemata, politische Action und Farbtupfern im Grau der offiziellen Politik nachlassen sollten (zum Beispiel weil neue soziale Bewegungen ihnen die Schau stehlen), werden NRO in die Unauffälligkeit zurückfallen, in der ihr Vorläufer, das traditionelle Verbandswesen, schon immer steckte.

Potential für emanzipatorische Politik

Mit kritischen Einwänden ist allerdings die Frage nicht beantwortet, ob und gegebenenfalls welches Potential für emanzipatorische Politik in diesem Konzept liegt und wie man sich politisch dazu verhält.
Tatsache ist, daß außer dem Konzept internationaler Struktur- und Ordnungspolitik bisher andere Alternativkonzepte weder existieren noch in Sicht sind. Zwar folgt daraus nicht, daß man sich deshalb dem Konzept schon anschließen müßte, dennoch ist unverkennbar, daß versucht wird, zahlreich Momente emanzipatorischer Kritik an der herrschenden Entwicklungspolitik zu integrieren. Zum Beispiel ist die Einbeziehung weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen als wesentlicher Parameter für Entwicklung ein Leitmotiv der Solidaritätsbewegung, von der UNCTAD-Kampagne (Handelskonferenz der Vereinten Nationen) der siebziger Jahre bis hin zur aktuellen Bewegung gegen das Multilaterale Investitionsabkommen (MAI). Ähnliches gilt für die Einsicht in die Notwendigkeit gesellschaftlicher Umgestaltungen im Norden – eine Logik, die durchaus strukturelle Affinitäten zu traditionellen Denkmustern aus der Solidaritätsbewegung aufweist.

Mit dem Diskurs die Welt verändern

Selbst der Begriff „nachhaltige Entwicklung“ kann, auch wenn er derzeit hauptsächlich ideologisch verwendet wird, produktiv gemacht werden, wenn man ihn nicht als irreversibel festgelegte Größe definiert, sondern als diskursives Terrain, auf dem das Ringen um Interpretationshoheit stattfindet.
Daß die Welt verschieden interpretiert wird, ist nicht neu. Es kommt darauf an, den Diskurs zu verändern und ihn über die Grenzen des Konzepts hinauszutreiben. Mit der Verschiebung der diskursiven Hegemonie verschieben sich auch die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Und genau hier liegt die Herausforderung für die Solidaritätsbewegung beziehungsweise das, was von ihr derzeit noch übrig ist.

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