Kunst | Nummer 371 - Mai 2005

Ein französisches Glaubenbekenntnis

Der Bildband Schwarze Götter im Exil von Pierre Verger

Beobachtungen eines Freundes: Der Fotograf Pierre Fatumbi Verger hat die Natürlichkeit moderner multiethnischer Gesellschaften und ihre religiöse Vielfalt dokumentiert. Mit liebevollem Blick spürte der Franzose im vergangenen Jahrhundert dem gemeinsamen afrikanischen Erbe Brasiliens, der Karibik und Nordamerikas nach. In Lateinamerika gelten seine Aufnahmen als Klassiker moderner Fotografie.

Stephanie Zeiler

Sie ist weiß gepunktet. Die Kreide zieht sich wie Sahnetupfen auf einem Schokoladenkuchen über ihren kahl geschorenen Schädel, ihre Wangen, Arme und Brust. In einem weißen Kleid liegt sie auf einem Laken – die Augen geschlossen und die Hände gefaltet. Die Brasilianerin ist zum Greifen nahe – und ist es doch nicht.
Es ist ein magischer Moment, der sich vor mehr als fünfzig Jahren ereignete. Pierre Verger (1902-1996) drückte damals den Auslöser seiner Rolleiflex und verewigte so die Anmut dieser jungen Frau, als sie eine rituelle Begrüßungsgeste ausführte. Vorurteilslos dokumentierte der Fotograf kulturelle Riten der Schwarzen Brasiliens und Westafrikas. Zugleich porträtierte er ihren Alltag: Einen Jungen, der auf einer Hafenmauer mit einem Drachen spielt, Arbeiter am Strand, Menschen, die ausgelassen Karneval feiern und solche, die sich mitten in der Stadt in den Schatten gelegt haben.
Der Bildband Schwarze Götter im Exil, der anlässlich der gleichnamigen Ausstellung 2004 im Ethnologischen Museum in Berlin erschien (siehe LN 370), entführt in multiethnische Gesellschaften fernab der bürgerlichen Welt und zeigt deutlich, wie sich neue und alte Eigenheiten vermischen. Pierre Verger beobachtete die Menschen wie ein Freund: intuitiv, ohne Distanz. Mit jeder Aufnahme auf den 352 Seiten des Bildbandes werden sie dem betrachtenden Auge vertrauter.
Der erste Blick auf das Bild einer blutüberströmten Frau, die Blut aus dem Hals eines vermutlich gerade geköpften Huhns saugt, löst Ekel und Entsetzen aus. Aber nach dem dritten oder vierten Umblättern und längerer Betrachtung der Aufnahmen dominiert die Faszination der Natürlichkeit dieser Menschen und ihrer Rituale.
Pierre Verger schaut den Menschen ins Gesicht, aber er entblößt sie damit nicht. Graphische Schärfe und starke Kontraste sind das Markenzeichen seiner Schwarzweiß-Bilder, die – entstanden zwischen den 1930er und 1960er Jahren – heute in Lateinamerika zu den Klassikern moderner Fotografie zählen. In ihnen zeigt sich die Zeichnung weißer Lilienblätter im Sonnenlicht ebenso nuanciert filigran wie Tausende funkelnder Schweißperlen auf dem Gesicht eines schlafenden Haitianers.
Der Franzose sah sich selbst weder als Künstler noch als Ethnograf, wie ihn seine Umwelt oft bezeichnete. „Ich mag es nicht Menschen zu erforschen, als handelte es sich um Käfer oder exotische Pflanzen. Was ich auf Reisen liebe, ist, mit den Menschen zusammen zu sein, ihnen bei einem Leben zuzusehen, das anders ist als meines“, sagte er 1990 in einem Interview. Seine intuitive Begegnung mit dem Fremden unterscheidet seine Aufnahmen deutlich von dem vermessenen Gestus ethnographischer Fotografie.
Die Wissenschaft schätzt Pierre Verger heute als Vorläufer der visuellen Anthropologie. Seine Fotografien afro-brasilianischer und karibischer Religionsgemeinschaften beschreiben die wechselseitigen Beziehungen im transatlantischen Dreieck (Afrika – Europa – Amerika) bis in unsere Gegenwart.
Pierre Verger verewigte in seinen Aufnahmen autarke gesellschaftliche Systeme, die gerade in Lateinamerika den Spagat zwischen moderner Staatlichkeit und traditionellen Wurzeln ermöglichen. Dabei dokumentierte er insbesondere die Wandlung von afrikanisch-religiösen Praktiken zu spezifisch afrobrasilianischen: dem Candomblé. Der afrikanische Glaube mischte sich mit einem aus Europa importierten, barocken Volkskatholizismus. „Der Glaube hat ihnen ermöglicht, ihre Würde und Selbstachtung zu wahren“, sagte der Fotograf einmal.
Der Bildband Schwarze Götter im Exil zeichnet ein Stück des Weges nach, den Pierre Verger durch Afrika und Amerika ging. Der erste Teil dokumentiert Alltag und Riten in Brasilien, dann folgen Aufnahmen aus Westafrika. Im hinteren Drittel findet sich schließlich eine direkte Gegenüberstellung von Fotografien, die auf entgegengesetzten Seiten des Atlantiks entstanden sind. Die Ähnlichkeit ist verblüffend, das kulturelle Erbe eindeutig.
1946 kam der Franzose erstmals nach Salvador de Bahía, das fortan seinen Lebensmittelpunkt darstellte. Der fotografierende Nomade unterlag dem Charme der ehemaligen Hauptstadt Brasiliens und ihrer tiefgläubigen Menschen. Die Stadt wurde Ausgangsbasis für seine zahlreichen Reisen nach Afrika. Pierre Verger wurde zum transatlantischen Botschafter der bahianischen candomblé-Gemeinden in Westafrika und erreichte so, dass sich die Beziehungen zwischen beiden Seiten des Atlantiks wieder intensivierten.
Endgültig Abschied von seinen bürgerlichen Wurzeln nahm er 1952 in Ketou (im heutigen Benin), wo er sich als Babalao (Heiler) initiieren ließ und den Namen Fatumbi annahm. In Bahía wurde der Fotograf auf Xango, den afrikanischen Gott des Donners, initiiert.
Seine Fotografien spiegeln die Eingebundenheit der Schwarzen in Natur und Gesellschaft ebenso wider wie die Faszination des Franzosen für diese Menschen und ihr kulturelles Erbe. Die Aufnahmen lassen die Grenzen zwischen den Kontinenten verschwimmen und illustrieren menschliche Spiritualität: Trance und Ekstase. Gleichzeitig enthält sein Werk auch eine immanente Kritik am vorherrschenden Selbstverständnis der brasilianischen Gesellschaft, die bis heute ihr afrikanisches Erbe gerne verdrängt.

Pierre Verger: Schwarze Götter im Exil. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2004, 352 Seiten., 49,90 Euro.
Mehr Infos über den Fotografen und laufende Ausstellungen seiner Werke gibt‘s im Internet unter www.schwarze-goetter-im-exil.de.

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