Honduras | Nummer 450 - Dezember 2011

Ein Honduras der Vielfalt ist möglich

Interview mit dem Aktivisten und Filmemacher Fernando Reyes

Fernando Reyes ist LGBTI-Aktivist und Mitbegründer der queeren Gruppe Movimiento de Diversidad en Resistencia (Bewegung der Vielfalt im Widerstand) sowie der Artistas en Resistencia (Kunstschaffende im Widerstand). Sein Leben hat sich durch den Putsch am 28. Juni 2009 grundlegend geändert. Er hat den Dokumentarfilm En mis tacones (Auf meinen Highheels) über die Realität von Trans* in Honduras gedreht und darin verschiedene Aktivist_innen und ihren Kampf für eine gerechtere Gesellschaft porträtiert.

Sebastian Henning

Wer sind die Artistas en Resistencia (Kunstschaffende im Widerstand)?

Die Artistas en Resistencia sind ein Kollektiv von Kunst- und Kulturschaffenden, die Teil des honduranischen Widerstands sind. Die Gruppe wurde infolge des Putschs im Jahr 2009 gegründet. Aus einer Perspektive der Gegenkultur versuchen wir, mit kulturellen Mitteln eine Plattform für politisches Denken, Kritik und öffentlichen Protest zu sein. Zu unseren Aktionsformen gehören Soli-Konzerte für die Mitglieder des Widerstands im Landkonflikt des Bajo Aguán und anderer Gemeinschaften, visuelle Dokumentation, Recherche, Artikel, Texte und Projekte der politischen Aufklärungsarbeit.

Wie stellen Sie sich das Honduras der Zukunft vor?

Für eine Zukunftsvision müssen wir zunächst den Blick auf die aktuelle Situation in Honduras richten. In unserem Land gibt es keine individuellen Garantien, die die Bürger_innen davor schützen, Opfer von extremer Armut, Ausschluss, Machismus, Schwulen-, Lesben- und Trans*-Feindlichkeit, Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit Landbesitz oder dem Recht auf Nahrung und Bildung zu werden. Diese sozialen Konflikte sind es, die uns den Weg weisen, was für eine Gesellschaft wir aufbauen wollen. Dabei finden wir uns in einem Kampf gegen einen gierigen Kapitalismus wieder, der keine Anstalten macht, die traditionell angewandten neoliberalen Methoden zu verändern. Obwohl das Gesamtbild nicht gerade positiv erscheint, ist es uns durch gemeinsame und besser organisierte Arbeit gelungen, vielen der derzeitigen Missstände entgegenzuwirken, mit denen wir dank der korrupten und opportunistischen Politiker_innen des traditionellen Zwei-Parteien-Systems schon seit vielen Jahren zu leben haben. Der Widerstand, als Einheit zwischen politischen und sozialen Bewegungen, strebt einen Staat und eine Regierung an, die sich der Bedürfnisse der Honduraner_innen annehmen. Dies soll durch die Einberufung einer Nationalen Verfassunggebenden Versammlung erreicht werden, die säkular sein und im Interesse der ausgeschlossenen Mehrheit handeln muss. Dem liegt die Idee der Neugründung von Honduras zugrunde. Diese kann über den Aufbau von Macht hergestellt werden, also über Prozesse politischer Aufklärung der Menschen an der Basis, oder aber über die Erringung der Macht durch die Wahl von Kandidat_innen, die dem Widerstand nahe stehen. Neugründung bedeutet dabei nicht, die derzeitige Struktur zu reformieren, sondern das Bestehende einzunehmen und etwas Neues zu schaffen.

Was würde die Verfassunggebende Versammlung konkret bedeuten?

Sie würde die Sichtweise derer vertreten, die für den Fortschritt in Honduras eintreten. Sie könnte eine Gesetzgebung erarbeiten, die den Bedürfnissen der ausgeschlossenen Mehrheit näher ist. Die Menschen würden ermächtigt, gleichberechtigt zu agieren und von ihren Wahlmöglichkeiten Gebrauch zu machen. Obwohl klar ist, dass Veränderungen der Realität nicht von Gesetzen ausgehen, wäre eine Verfassung, die in größerem Maße die derzeitigen Einstellungen der Honduraner_innen reflektiert, sinnvoller als die bestehende. Ein Beispiel wäre die Festschreibung einer gleichberechtigten Partizipation von Frauen an Entscheidungsprozessen.

Am 30. Oktober wurden beim Obersten Wahlgericht die Unterlagen zur Zulassung der neuen Partei LIBRE (Freiheit und Neugründung) als parlamentarischer Arm der Widerstandsbewegung FNRP eingereicht. Wie kann eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen LIBRE und der außerparlamentarischen Bewegung aussehen?

Eine echte politische Umwälzung – und das ist es, was Honduras in diesem Augenblick braucht – lässt sich nicht bewerkstelligen, wenn politische und soziale Bewegungen voneinander getrennt sind. Sie müssen eine Einheit darstellen, damit LIBRE wirklich kraftvoll den Widerstand repräsentieren kann, und auch die Interessen derer, die sich nicht an der Bewegung gegen den Putsch beteiligt haben. Eine solche Zusammenarbeit müsste die traditionelle Zwei-Parteien-Herrschaft und den politischen Opportunismus aufbrechen und würde eine größere Breite der Bewegung schaffen. Dadurch könnten die ursprünglichen Vorstellungen der FNRP – Bildung, Organisierung, Mobilisierung – umgesetzt werden. Konkret bedeutet das: eine über die Wahlen aufgeklärte Bevölkerung, die Aufgabe des alten Politikstils und Offenheit, neue Generationen mit Führungsaufgaben zu betrauen.

Die Serie von Morden an kritischen Journalist_innen und an Bauern und Bäuerinnen im Bajo Aguán hört nicht auf; die seit dem Putsch des Jahres 2009 begangenen Verbrechen blieben in den allermeisten Fällen straflos. Welchen Beitrag kann die Arbeit der alternativen Wahrheitskommission hier leisten?

Die von Pepe Lobo und seiner in der Nachfolge des Putsches stehenden Regierung eingesetzte offizielle Wahrheitskommission hat ja bereits einen Bericht vorgelegt, der ebenfalls die schweren Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen während des Putschs und danach dokumentiert. Sie sind eine Tatsache und lassen sich einfach nicht vertuschen. Dennoch brachte die Ausschöpfung der nationalen gerichtlichen Instanzen keine Ergebnisse. Die alternative Wahrheitskommission hat als unabhängiges Organ systematisch die von den Menschenrechtsverletzungen betroffenen Personen und Gruppen befragt und wurde dabei von namhaften Menschenrechtsorganisationen unterstützt. Ihr derzeit noch in Arbeit befindlicher alternativer Bericht wird daher erheblich detailliertere Informationen enthalten als der offizielle. Obwohl die gerichtlichen Instanzen in Honduras kein Interesse an einer Aufarbeitung haben, werden sie noch bis zum Ende beschritten, um sich dann an die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte oder sogar den Internationalen Strafgerichtshof wenden zu können.

In Ihrem Film En mis tacones geht es um die traditionell schwierige Situation von Trans* in Honduras, die durch den Putsch noch verschärft wurde. Was hat sich inzwischen in der LGBTI-Bewegung getan? Welche Erfolge konnten in der Gesellschaft erzielt werden?

Wenn man davon sprechen kann, dass der Putsch irgendetwas Positives gebracht hat, dann vielleicht, dass die sozialen Bewegungen einander nun anerkennen, stärker geworden sind und die Notwendigkeit erkannt haben, sich politisch zu organisieren und weiterzubilden. Das gilt auch für die Bewegung der sexuellen Vielfalt in Honduras, die als wichtiger Teil der sozialen Bewegungen anerkannt wird. Sie wird auch von Parteipolitiker_innen gewürdigt und übernimmt Entscheidungen innerhalb der Basisbewegungen, der FNRP und nun auch innerhalb von LIBRE.
Nach dem Putsch haben die Gruppen des Widerstandes, unabhängige Unterstützer_innen und solidarische Organisationen die mutige Beteiligung von Mitgliedern der Community der sexuellen Vielfalt, also Lesben, Schwule, Transsexuelle, Transgender, Travestis, Bisexuelle, Intersexuelle, an der historischen Aufbauarbeit eines bewussteren und politisierteren Honduras zunehmend anerkannt. 54 Personen der Community sind seit dem Putsch ermordet worden. Menschenrechtsorganisationen haben angefangen, sich dafür zu interessieren; politische Gruppen, die nie zuvor die Belange der Community in ihre Arbeit einbezogen haben, begannen, die staatliche Strategie der sozialen Säuberung gegen diese Bevölkerungsgruppe zurückzuweisen. Diese Repression sollte die Community einschüchtern und davon abhalten, sich als integraler Bestandteil des revolutionären Prozesses zu engagieren. Dieser Prozess, der vom Widerstand nun in eine Phase der Transformation übertritt, ist – so würde ich sagen – nicht mehr aufzuhalten.

Wie war die LGBTI-Bewegung vor dem Putsch?

Die Bewegung für sexuelle Vielfalt entstand in Honduras in den 1980er Jahren mit dem Auftauchen von HIV. Am Anfang war sie ein Raum, wo über die Infektion gesprochen werden konnte, es gründeten sich Organisationen, die der Epidemie etwas entgegenzusetzen versuchten. Die Bewegung musste sich in einen harten Kampf gegen den honduranischen Staat begeben. Schon die eigenständige Organisierung von LGBTI wurde behindert; oft wurde ihnen das Recht auf Vereinsgründung verweigert – mit der Begründung, sie verstießen gegen die Moral und die Traditionen der honduranischen Gesellschaft. Durch den Staatsstreich von 2009 schließlich wurden die Organisationen politisiert. Es war unmöglich, keine politische Position gegenüber den Vorkommnissen des 28. Juni einzunehmen.

Was sind die zukünftigen Aufgaben der Bewegung und wie können sie angegangen werden?

Eines der größten Defizite der Bewegung für sexuelle Vielfalt ist die fehlende politische Bildung ihrer Mitglieder, der Mangel an kämpferischem Engagement und an realer Beteiligung an Entscheidungsprozessen auf Regierungsebene. Die Organisationserfahrung im Bereich der sexuellen Vielfalt in Honduras ist noch recht jung. Es lässt sich aber nicht abstreiten, dass es beträchtliche Anstrengungen für die Veränderung dieser Situation gegeben hat – durch die Ausbildung von Multiplikator_innen und Aufklärungsarbeit in der Bevölkerung. Dabei wurde zunächst versucht, vor allem den kulturell tief verwurzelten Machismus anzugehen – beginnend in unserer eigenen Community – und nun mit der Überwindung von Schwulen-, Lesben- und Trans*-Feindlichkeit in verschiedenen Bereichen fortzufahren. Ein solches Ziel zu erreichen ist auch bei guter Planung und kontinuierlicher Arbeit nicht einfach, es geht ja um den Wandel von Einstellungen und dann erst um die Veränderung von Realitäten.

Kann das gelingen?

Ja, es kann! Seit dem Putsch hat es erstaunliche Fortschritte gegeben, was die Solidarität mit LGBTI innerhalb der im Widerstand organisierten Gruppen angeht. Nie zuvor gab es in unserer Gesellschaft eine solche Offenheit und Bereitschaft, einander vorurteilsfrei kennenzulernen. Innerhalb des Widerstands wird schon die zukünftige neue Gesellschaft gelebt, in der eine Vielfalt möglich ist, in der das Verbindende wichtiger ist als individuelle Unterschiede. Ein Honduras ohne Schwulen-, Lesben- und Trans*-Feindlichkeit ist keine Utopie. Es gibt bereits Räume, in denen Respekt gegenüber unterschiedlichen Denkansätzen, Idealen oder sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten herrscht. Um das zu verbreitern ist es notwendig, weiterhin auf Bildung, Aufklärung, Dialog zwischen den Gruppen, Arbeit, Organisation, Kooperation und Kreativität zu setzen. Und auf einen revolutionären Geist, der ein besseres Honduras vertritt – ein Honduras, von dem viele träumen.

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