Chile | Nummer 351/352 - Sept./Okt. 2003

Ein Park gegen das Vergessen

In Santiago de Chile entstand auf dem Grundstück eines Folterzentrums eine Gedenkstätte

Ab 1973 benutzte der chilenische Geheimdienst DINA die Villa Grimaldi als geheimes Folterzentrum. Nach der Diktatur wurde das Gebäude abgerissen. Doch das jahrelange Engagement von Menschenrechtlern hat sich gelohnt: Heute ist das Grundstück der Villa eine Gedenkstätte. Ein Park erinnert an die Vergangenheit und bietet Platz zum Trauern und Nachdenken.

Dinah Stratenwerth

Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal den Schlüssel zu diesem Ort haben würde,“ sagte Cecilia Bottai, als sie das Tor zum Friedenspark Villa Grimaldi aufschließt. Nach der Eröffnung des Parks wurde sie zu einer der SchlüsselbewahrerInnen erklärt. Ihre Schwester und ihre Mutter hatten in dem ehemaligen Folterzentrum des chilenischen Geheimdienstes DINA (Dirección de Inteligencia Nacional) gelitten. Carmen Bottai und ihre Mutter Maria Teresa saßen 1975 eine Woche lang in der Villa ein.
Carmen Bottai lebt heute in Deutschland. Da ihr die ganze Zeit die Augen verbunden waren, sind Carmens Erinnerungen beschränkt auf den kleinen Spalt, durch den sie sehen konnte, wenn sie die Augenbinde ein wenig hob. Und auf die Schreie der gefolterten Männer und Frauen, die sie hörte, auf die Enge und die Angst. Viele Frauen schliefen mit ihr zusammen in einem Raum auf Eisenbetten. Jede Nacht um zwölf Uhr wurde eine von ihnen zur Folter abgeholt. Die Angst war ihr ständiger Begleiter: Werde diesmal ich es sein? Als sie Carmen holten, wollten sie von ihr wissen, wo ihre Schwester Cecilia sei, die damals im Untergrund arbeitete. Carmen tat so, als wisse sie nichts. Noch schlimmer als die am eigenen Leib war für sie die Folter an ihrer Mutter. Sie glaubt, dass die DINA die über 60jährige geholt hatte, weil sie ein einziges Mal einen Verwandten gewarnt hatte, der politisch aktiv und in Gefahr war. „Sie hatte nichts mit Politik zu tun“, erzählt Carmen, „Und wo Cecilia war, wusste sie auch nicht. Ich glaube, die DINA wollte sich einfach nur an ihr rächen.“
Wenn die Frauen am Tag zusammensaßen, erzählten sie sich gegenseitig von ihren Familien „draußen“. Sie lernten Telefonnummern, Namen und Nachrichten auswendig, um sie den Verwandten der Gefangenen zu überbringen, falls eine entlassen wurde. Carmen Bottai erinnert sich noch an ihre Nachrichten: Eine Frau hatte eine achtjährige Tochter. Man hatte der Mutter gedroht, sie abzuholen. Die wichtigste Botschaft nach draußen war daher: Bringt das Kind an einen sicheren Ort! Eine andere war Mutter von Drillingen, die sie bei der Hausangestellten lassen musste. Auch sie sollten sicher untergebracht werden. Als Carmen Bottai und ihre Mutter schließlich nach einer Woche entlassen wurden, bemühten sie sich gleich, die Botschaften weiterzugeben. Sie haben nie wieder etwas von diesen Frauen gehört. Carmen und ein Teil ihrer Familie konnten kurze Zeit später nach Italien und Deutschland emigrieren. Andere kehrten nie zurück oder blieben monatelang in der Villa.

Folter und Erholung unter einem Dach

Heute erstreckt sich ein Park rund um die Fundamente des Gebäudes, das nach der Diktatur abgerissen worden war. Vögel zwitschern, ein leichter Wind weht, bunte Kacheln sind in die Grundmauern eingelegt, an denen man noch immer die Anordnung der Räume erkennen kann. Für einen Besucher ist schwer vorstellbar, was an diesem Ort zur Zeit der Pinochet-Diktatur passiert ist: Man weiß von 4500 Menschen, die zwischen 1973 bis 1977 hier gefoltert wurden.
Bevor sie 1973 von der DINA in Besitz genommen wurde, war die Villa stets ein Ort der Begegnung und des kulturellen Austauschs gewesen: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts schrieb der venezolanische Dichter und Wahlchilene Andres Bello in der Abgeschiedenheit des Gartens Gedichte. Ab Mitte des Jahrhunderts war die Villa im Besitz eines uruguayischen Diplomaten, der in ihren Räumen regelmäßig Treffen mit KünstlerInnen, LiteratInnen und PolitikerInnen veranstaltete – auch der 1973 gestürzte sozialistische Präsident Allende soll sein Gast gewesen sein.
Der letzte legitime Besitzer wurde 1973 von der DINA gezwungen, die Villa dem Geheimdienst zu überlassen. Von da an wurden in dem alten Gebäude Menschen gefoltert. Nebenbei diente der Garten den Familien der Geheimdienstangestellten als Erholungsstätte, und in dem Pool, in dem nachts Gefangene ertränkt wurden, planschten tagsüber Kinder.

Platz für Trauer

Heute erinnert eine große Mauer mit Namen an die Verstorbenen. Darüber ein Spruch von Mario Benedetti: Das Vergessen ist voller Erinnerung. Der ganze Park ist eine Institution gegen das Vergessen. Alle Überreste der Villa wurden für die Parkanlage verwendet, so auch zahlreiche Kacheln, die jetzt als Mosaik den Brunnen und die Skulptur in Form eines Blattes am Eingang schmücken. Im hinteren Teil des Grundstücks, wo die Zellen der Gefangenen waren, lässt sich die Anordnung der Räume noch an den Grundmauern erkennen. Sie sind umgeben von Birken, die sich im Wind bewegen. Der Ort strahlt Frieden aus. Und so lässt er Platz für Trauer.
1978 wurde die DINA als Geheimdienst aufgelöst und durch einen anderen Geheimdienst ersetzt. Ein Jahr später war die Villa kein Folterzentrum mehr, sondern nur noch Erholungsstätte für dessen Mitglieder. Mitte der 80er Jahre verkaufte der ehemalige Geheimdienstchef Hugo Salas Wenzel das Grundstück an die Immobiliengesellschaft EGPT. Die ließ die Villa abreißen, weil sie Parzellen mit Wohnhäusern auf dem Grundstück errichten wollte. Zufällig bestand diese Immobilienfirma ausschließlich aus Mitgliedern der Familie Salas Wenzel. Als der Schwindel aufflog, war es für das Haus schon zu spät: Es war verschwunden, wie viele der Menschen, die in ihm gelitten hatten.
Im Bezirk gründeten sich Initiativen, die forderten, aus der ehemaligen Villa eine Gedenkstätte zu machen. 1990 übernahm schließlich die Menschenrechtskommission des Abgeordnetenhauses das Grundstück. Sechs Jahre später bildeten einige der Initiativen die „Kooperation Friedenspark Villa Grimaldi“. Am 22. März 1997 war es schließlich so weit: Das große Tor, das einst zur Villa Grimaldi geführt hatte, öffnete sich erneut – diesmal zum Friedenspark.

Absichtlich vernachlässigt

Aber meist blieb das große Tor geschlossen, der Park verwilderte, und kaum jemand wusste von dem Projekt. Schuld war die Kommunalverwaltung des Santiagoer Bezirks Peñalolén mit dem Bürgermeister Carlos Alarcón Castro von der rechten Partei UDI. Alarcón Castro war schon zu Diktaturzeiten dort Bürgermeister gewesen und hatte damals den Verkauf durch Wenzel an die EGPT zugelassen. Er hatte keinerlei Interesse an einer funktionierenden Gedenkstätte in seinem Bezirk. Erst im Jahr 2000 konnte die Vereinigung den Park übernehmen. Jetzt zahlt der Staat noch Strom und Licht, ansonsten wird alles mit Spenden finanziert. Dafür ist das Gelände jeden Tag geöffnet und es ist immer jemand da, der BesucherInnen empfängt und sie herumführt. Oft ist es einer der Direktoren der Vereinigung. Von ihnen gibt es sieben, die alle ehrenamtlich arbeiten und alle zwei Jahre neu gewählt werden.
Rubi Maldonado ist eine von ihnen. Eigentlich ist sie Ärztin, aber seit sie für die Villa arbeitet lässt sie, wie alle anderen, ihren Job ein wenig links liegen. „Durch den Park sollen die Menschenrechte verbreitet werden“ sagt sie. Um das zu erreichen, gibt es nicht nur Führungen, sondern auch Theatervorstellungen, Musikveranstaltungen und Konferenzen auf dem Gelände. Doch noch immer ist die Finanzierung ein Problem. Rubi Maldonado hofft, dass der Park bald ganz vom Staat übernommen wird. „Schließlich ist die Gedenkstätte etwas, was die Geschichte des ganzen chilenischen Volkes betrifft“ sagt sie. Ein Antrag ist im Kongress bereits eingebracht. Der soll den Park zum historischen Monument erklären und damit die Finanzierung durch den Staat sichern. Die OrganisatorInnen hoffen, binnen eines Jahres Klarheit zu haben.

Dicke Mauern schluckten die Schreie

Als Carmen und Cecilia Bottai mit ihrer großen Schwester Patricia den Park besuchten, weinten sie lange. „Meine Schwester hatte keine Ahnung, was dort eigentlich passiert war“ erzählt Carmen. Sie hatte zu Zeiten der Diktatur kaum Kontakt zur Familie. „Aber als ich ihr zeigte, in welchem Raum meine Mutter und ich gefangen gewesen waren, hat sie das sehr berührt. Sie hat sich seitdem völlig verändert.“
In den 70er Jahren war die Gegend kaum besiedelt. Heute ist der Park von Häusern umgeben und es ist schwer vorstellbar, dass niemand etwas von dem mitbekam, was in der Villa vor sich ging. „Die Leute begannen zu vermuten, was dort passierte“, sagt Rubi Maldonado, „aber die Mauern waren dick, und es war ein sehr geheimer Ort“.
Viele Menschen, die die Gedenkstätte besuchen, können wie Patricia das Gesehene nicht mehr vergessen. Rubi Maldonando erzählt, dass häufig Spenden von ehemaligen BesucherInnen kommen, die einfach das Gefühl haben, etwas beitragen zu müssen. Gerade Jugendliche aus den Vereinigten Staaten sind oft sprachlos angesichts der Grausamkeiten, von denen sie dort erfahren und die ihre eigene Regierung unterstützte.
Am 11. September 2003, 30 Jahre nach dem Putsch, wird der Park wie immer für alle offen sein. Abends werden in der ganzen Gedenkstätte Kerzen angezündet, jemand wird Violine spielen und die Namen der Toten werden verlesen. Jeder kann kommen und mit den Anwesenden trauern.
Und Cecilia Bottai hat noch immer den Schlüssel. „Irgendwo muss er sein“, sagt sie und lacht.

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