Bolivien | Nummer 196 - September 1990

Ein (zu) langer Marsch für Territorium und Würde

Simone Bröschke

Mehr als eine “heroische Geste”

Nach 32 Tagen Fußmarsch haben rund 800 Angehörige verschiedener ethnischer Gruppen Boliviens in der Nacht vom 17. zum 18. September La Paz erreicht. Der lange und beschwerliche Weg von über 650 km von Trinidad aus führte Kinder, Frauen und Männer aus den Wäldern und Ebenen des Beni im Nordosten Boliviens über die Höhen der Anden bis zum Regierungssitz La Paz. Unter dem Motto “Für Territorium und Würde” erreichten die – zu oft vergessenen – Völker der Chimanes, Yuracarés, Mojeños, Sirionó u.a., ein regelrechtes “Erwachen des nationalen Bewußtseins”. Plötzlich scheint sich Bolivien seiner Tieflandbevölkerung bewußt zu werden.
Im ganzen Land gab es in den letzten Tagen und Wochen eine Welle der Solidarität, die die Menge von anfänglich 350 im Laufe des Marsches auf über 750 Menschen anwachsen ließ. Aymaras und Quechuas des Hochlandes schlossen sich dem Marsch an. Solidarische Gruppen begleiteten die Marschierenden, und es wurde für medizinische Betreuung gesorgt. Besonders für die Überwindung des Passes über die Anden vor La Paz, der bis auf eine Höhe von über 4500 Metern ansteigt, war warme Kleidung aus Sammlungen wichtig. Unter den fest entschlossenen DemonstrantInnen befand sich eine große Zahl alter Menschen, schwangerer Frauen und Kleinkinder, die fast alle bis zum Schluß durchhielten.
Während der 32 Tage ihres Marsches erfuhren sie an den Orten, durch die der Weg führte, immer wieder größte Anteilnahme. Sie wurden untergebracht und verpflegt. Die Gewerkschaftsverbände COB und CSUTCB, studentische Gruppen, Ärzteorganisationen und diverse religiöse Gruppen unterstützten die Marschierenden. Von allen Seiten also Zustimmung und Ansporn, selbst die Regierung Paz Zamora ließ gleich zu Anfang verlauten, sie werde alles versuchen, um auf die Forderungen der indianischen Völker einzugehen und für ihre Probleme Lösungen zu finden.

Eine “ökologische Pause”

Präsident Jaime Paz Zamora traf sich gar in Yolosa (Provinz Nor Yungas) mit den Sprechern der Marschierenden. Offiziellen Verlautbarungen zufolge sind sie im Dialog zu “vorläufigen Ergebnissen” gelangt. Aber wirklich ernstzunehmende Zusagen, die Lösungen der von den mehr als 30 ethnischen Gruppen aus dem Beni aufgeworfenen Problemen garantieren würden, gibt es noch nicht. Wohl inspiriert durch das weltweite Wirken der Öko-Bewegung erklärte Paz Zamora im Kongreß schleunigst eine “ökologische Pause” von fünf Jahren.
Im Juli kündigten die Indigena-Organisationen ihren Marsch an. Ca. 10.000 Indigenas laufen Gefahr, ihr Land zu verlieren. Expandierende Viehfarmen, profitsüchtige Holzfirmen und tausende von Coca-anbauenden Familien und neuen Siedlern bedrohen die Grundlage ihrer Lebensform und damit ihrer Identität. Sie gaben der Regierung bis Anfang August Zeit, ihre Organisationen als legitime Vertretung anzuerkennen und ihren Forderungen nachzukommen und drohten mit Demonstrationen und bewaffneten Aufständen. Auf dem zweiten Treffen der “Einheit der indigenen Völker für Territorium und Würde” Ende Juli wurde der Forderungskatalog erstellt, der Ausgangspunkt des Marsches war.

Bedrängte Völker

Drei Territorien werden schon seit 1988 von den BewohnerInnen des Beni gefordert: Der “Bosque de Chimanes, “El Ibiato” und der Nationalpark “Isiboró-Sécure”. Die Probleme sind im immer wieder die gleichen.
Im “Wald der Chimanes” leben etwa 6.000 Menschen, die nicht nur dem Volk der Chimanes angehören, sondern auch anderen Ethnien, so z.B. den Trinitarios, Ignacianos, Yucarés und Movimas. 1978 wurde ein Großteil der Region, 1,2 Mio. ha, zur “Reserva de inmovilización forestal” (eine Art Waldschutzgebiet) erklärt. Dies sollte den dort lebenden Gruppen eine relative Sicherheit und Aufrechterhaltung ihrer Lebensweise erlauben. Der Dachverband der indigenen Völker des Beni (CPIB) berichtete, daß die größten Probleme anfingen, als die Hälfte der Region zur wirtschaftlichen Ausbeutung freigegeben wurde. Sofort drangen viele Holzunternehmen in das Gebiet ein, um die Edelhölzer auszubeuten. Wege und Straßen wurden angelegt und Sägewerke gebaut. Mit den Straßen kamen die SiedlerInnen und beschleunigten die unkontrollierte Ausbeutung der natürlichen Ressourcen des Waldes. Die Abfälle der Sägewerke verunreinigen die Gewässer. Die Gesetzgebung bezüglich der Ausbeutung des Waldes hat bestenfalls symbolischen Wert. Innerhalb von vier Jahren wurde von sieben Firmen über die Hälfte des Mahagoni-Bestandes abgeholzt. Inzwischen fordern die Firmen von der Regierung schon Nutzungsverträge über 10-20 Jahre statt der jährlich zu erneuernden Genehmigungen.
Vor einem Jahr schlug eine Kommission die Landzuweisung an die Chimanes am Rand des von den Holzfirmen genutzten Waldes vor. Für die Chimanes ein völlig unannehmbarer Vorschlag, denn, so die CPIB, es fehlen die notwendigen Gebiete für Feldbau, Fischfang, Jagd- und Sammelwirtschaft, die unentbehrlich für das Überleben der BewohnerInnen der Region sind. Die Chimanes fordern, das Gebiet als “indianisches Territorium” auszuweisen. Dies impliziert, daß die Holzfirmen das Gebiet verlassen müßten, um eine selbstbestimmte Nutzung des Waldes durch dessen BewohnerInnen zu ermöglichen. Auch die Sirionó im “Ibiato”, die sich schon in bewaffneten Auseinandersetzungen mit den Viehzüchtern befanden, und die ca. 700 Familien im Nationalpark Isiboró-Sécure, die vom Massenansturm der SiedlerInnen aus dem Hochland bedroht werden, kämpfen für das alleinige Nutzungsrecht auf ihrem Land. Sie wehren sich nicht prinzipiell gegen die Kolonisierung, aber wollen in Verhandlungen mit den Organisationen der “Colonos” Grenzen der Kolonisierungsgebiete und Regelungen über den Landverkauf festlegen. Paz Zamoras “ökologische Pause” soll dem Zweck dienen, “den unbarmherzig ausgebeuteten Waldressourcen eine Erholung zu ermöglichen und das Überleben der Waldbewohner zu sichern.” Nur, wer setzt dies im bolivianischen Oriente durch? Eine der BeraterInnen des Präsidenten, Carmen Pereira, ist selbst wichtigste Aktionärin eines der großen Edelholzunternehmen – ein Schlaglicht auf die Macht der Firmen. Es verwundert nicht, daß die Territorialentscheidungen umstritten sind, denn es geht, wie inzwischen alle Beteiligten zugeben, um politische Entscheidungen über Millioneninvestitionen und -gewinne.

Lama-Opfer, Menschenkette und Kirchenglocken

Die Begrüßung der Marschierenden auf der Paßhöhe durch Hunderte von Aymaras und Quechuas war schlicht ergreifend. Das ganze Land konnte auf dem Bildschirm verfolgen, wie gefeiert und musiziert wurde. Größtes Ereignis für die Kameras war schließlich die Opferung eines Lamas, dessen Blut aus der durchschnittenen Kehle der Mutter Erde dargebracht wurde. Eine Menschenkette aus StudentInnen, ArbeiterInnen, LehrerInnen und anderen BürgerInnen aus La Paz umgab die Menschenmenge, um sie sicher in die Stadt zu begleiten. Unter Glockengeläut der Kathedrale warteten nun die VertreterInnen der indigenen Völker auf der Plaza Murillo auf das erste Treffen mit der Regierung. Ein erster Vorschlag der Regierung, die Holzfirmen sollten sich innerhalb von elf Monaten nach Ablauf (!) ihrer Konzessionen aus dem Gebiet der Chimanes zurückziehen, wurde von den Indigenas natürlich abgelehnt, weil dadurch das Tempo der rücksichtslosen Ausbeutung der Ressourcen nur beschleunigt würde.
Am 20. September kam es zu ersten Ergebnissen: Im Bosque de Chimanes sollen 160.00 – 170.000 ha Land den Indigenas zugewiesen werden. Die drei Holzfirmen, die in diesem Gebiet arbeiten, haben nur noch eine Frist bis Ende Oktober diesen Jahres. Auch im Ibiato sollen über 50.000 ha den BewohnerInnen zurückgegeben werden. Für den Nationalpark Isiboró-Sécure liegen noch keine genauen Zahlen vor. Für die Indigenas ist dies allerdings erst ein Zwischenergebnis. Teilzugeständnisse reichen ihnen nicht mehr. Vorerst bleiben sie in La Paz.

Kasten:

Der Marsch in der bolivianischen Presse

“Der Marsch ist eine entschiedene Aufforderung an den Staat, an das nationale Bewußtsein, um uns daran zu erinnern, daß dort in den amazonischen Wäldern andere tausende Bolivianer leben, deren Bürgerrechte bis heute nicht berücksichtigt wurden – gleichzeitig ist er eine Anklage gegen die brutalen und unabänderlichen ökologischen Schäden, die durch die unersättliche Gier der Ausbeuter von Wald, Wildtieren und anderen natürlichen Reichtümern verursacht wurden. Und endlich warnen uns die indianischen Völker; wenn es uns nicht gelingt, diese Region zu integrieren, wird die nationale Souveränität weiterhin von Plünderungen und von fremden Interessen bedroht werden.”
(Los Tiempos, Cochabamba, 16.9.1990)

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