Chile | Nummer 378 - Dezember 2005

Eine Präsidentin zum Anfasssen?

Wahlkampf in Chile – ein Stimmungsbild

Am 11. Dezember 2005 wird in Chile gewählt. Michelle Bachelet, Kandidatin des Regierungsbündnisses Concertación, versucht im Wahlkampf das Bild einer bevölkerungsnahen Politikerin zu schaffen, die auf die Lösung sozialer Probleme setzt. Ihre Gegner sind zwei Kandidaten aus dem gespaltenen rechten Lager, sowie Tomás Hirsch, der für das außerparlamentarische linke Bündnis Juntos podemos más antritt.

Peter Simon

Die Fernsehspots, mit denen am 11. November die „heiße Phase“ des Wahlkampfes eröffnet wurde, zeigten ein hoffnungsfrohes Land: Zuversichtliche Menschen aus vorwiegend einfachen Verhältnissen an der Seite der jeweiligen KandidatInnen. Ein Slogan verspricht „Allen Flügel zu verleihen“, „Estoy contigo“ („Ich steh’ an deiner Seite“) ein anderer. Diese Mut machenden Wahlkampagnen stehen in grellem Kontrast zu dem düsteren Bild Chiles, das die erste Fernsehdebatte mit den vier KandidatInnen Mitte Oktober bei den ZuschauerInnen hinterlassen haben mochte. Da waren es JournalistInnen, die Fragen stellten, und nicht WerbespezialistInnen, die den heiteren Ton vorgaben. Die Debatte wurde nicht nur von einem chilenischen Sender organisiert und übertragen, sondern auch von CNN Español.
Nach den aktuellen Prognosen wird Chile ab kommendem Jahr von einer Präsidentin regiert werden: Michelle Bachelet vom Regierungsbündnis Concertación, das seit dem Übergang zur Demokratie 1990 an der Macht ist. Neben der Präsidentschaft werden am 11. Dezember 120 Abgeordnete und ein Teil der SenatorInnen neu gewählt. Erreicht im Dezember kein/e KandidatIn die absolute Mehrheit, entscheidet eine Stichwahl im Januar zwischen den beiden Bestplatzierten.

Rivalitäten der Rechten

Neben Bachelet kandidieren zwei Vertreter der rechten Parteienkoalition Alianza por Chile (Allianz für Chile UDI-RN): Joaquín Lavín von der Unión Democrática Independiente (Unabhängige Demokratische Union, UDI), der schon bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 gegen den amtierenden Präsidenten Ricardo Lagos angetreten war, und Sebastián Piñera von der Renovación Nacional (Nationale Erneuerung, RN). Lavín hatte sich als Bürgermeister von Las Condes, einem reichen Stadtbezirk von Santiago, vor Jahren das Image des erfolgreichen Machers erworben. In seiner Amtszeit als Bürgermeister von Santiago, mit bescheideneren Mitteln, galt er als weniger erfolgreich, dennoch war er bis März dieses Jahres der unbestrittene Kandidat der Rechten. Es mag sowohl am arroganten Führungsanspruch des Opus Dei Mitglieds Lavín und seiner konservativen UDI als auch an persönlichen Rivalitäten gelegen haben, dass schließlich im März eine starke Fraktion der RN Piñera als eigenen Kandidaten präsentierte. Dieser ist Senator, in erster Linie jedoch erfolgreicher Unternehmer, dessen Vermögen auf eine Milliarde US-Dollar geschätzt wird.
Beide Parteien der Allianz kämpfen zwar weiterhin mit einer gemeinsamen Liste um die Parlamentssitze, mit jeweils einem eigenen Kandidaten für das Präsidentenamt machen sie sich jedoch gegenseitig die Wählerstimmen streitig. Lavín und Piñera konkurrieren nicht nur miteinander, gelegentlich kritisieren sie sich auch heftig. Das Abschneiden bei der ersten Runde im Dezember wird gegebenenfalls entscheiden, wer im Januar in dem möglichen zweiten Wahlgang gegen Bachelet antreten wird – und wer in Zukunft das rechte Bündnis führen wird.
Dem Mitte-Links-Bündnis Concertación war es im Gegensatz zur Allianz für Chile gelungen, interne Differenzen rechtzeitig auszuräumen und die eigenen AnhängerInnen recht geschlossen auf die gemeinsame Kandidatin einzuschwören. Bis Mai dieses Jahres gab es auch innerhalb der Concertación zwei Bewerberinnen für das Präsidentenamt: Die Christdemokratin Soledad Alvear sollte bei den internen Vorwahlen für die Kandidatur gegen die von Lagos favorisierte Michelle Bachelet, die der sozialistischen Partei (PS) angehört, antreten. Nach der Aufstellung von Piñera sanken Alvears Umfragewerte drastisch, und sie trat zu Gunsten von Bachelet von der Kandidatur zurück.
Der vierte und letzte Kandidat ist Tomás Hirsch, Präsident der Humanistischen Partei (PH). Er tritt für das außerparlamentarische linke Bündnis Juntos podemos más (Gemeinsam erreichen wir mehr) bei den Präsidentschaftswahlen an. In diesem Parteienbündnis sind außerdem noch die Kommunistische Partei Chiles (PC) und zahlreiche kleinere Gruppierungen vertreten. Tomás Hirsch weiß, dass weder seine eigene Kandidatur noch die der ParlamentskandidatInnen von Juntos Podemos reale Chancen hat. Es geht um Proteststimmen und darum, ein anderes als das neoliberale Wirtschaftsmodell überhaupt wieder vorstellbar zu machen. Die Stimmen, die er gewinnen kann, gehen zu Lasten Bachelets und machen eine Stichwahl im Januar wahrscheinlicher.

Wahlkampf via Fernsehdebatte

In der einstündigen Fernsehdebatte erklärten die vier KandidatInnen, auch die rechten, verblüffend einhellig die soziale und ökonomische Ungleichheit im Land zum Problem. Arbeitslosigkeit, soziale Absicherung und Bildung waren die Problemfelder, die sowohl die Fernsehdebatte als auch den sonstigen Wahlkampf bestimmten. Mit etwa acht Prozent mag die Arbeitslosigkeit in Chile als moderat erscheinen, trifft jedoch vor allem (schlecht ausgebildete) Jugendliche hart. Und noch fehlt, was als soziales Netz bezeichnet werden könnte.
Die Arbeitslosigkeit im Verlauf der nächsten vierjährigen Regierungsperiode auf fünf Prozent (Juntos podemos: vier Prozent) zu senken, ist erklärtes Ziel aller KandidatInnen. Wie das erreicht werden soll, bleibt jedoch vage. Piñera spricht gar davon, 200.000 Jobs pro Jahr zu schaffen. Aber wie? Es versteht sich von selbst, dass in Chiles neoliberal ausgerichtetem Wirtschaftsmodell das nicht Aufgabe des Staates sein wird. Die Lösung: Vor allem kleine und mittlere Betriebe durch günstige Kredite fördern, um mehr Arbeitsplätze und damit mehr Wohlstand zu schaffen. Lediglich Hirsch vom Linksbündnis forderte auch höhere Abgaben von den ausländischen Firmen, die Chiles Rohstoffe abbauen. Ein sozialistisches Wirtschaftsmodell steht jedoch auch für Junto Podemos nicht auf der Tagesordnung.
Ein gravierendes Problem zeichnet sich für die private Altersvorsorge ab, die in den 80er Jahren unter der Pinochetdiktatur eingeführt wurde: Wegen des Übermaßes informeller Arbeitsverhältnisse und damit unregelmäßiger Beitragszahlungen werden viele Menschen die Minimalvoraussetzungen für eine angemessene Rente nicht erfüllen können. Die bisherige zusätzliche staatliche Grundsicherung verhindert Altersarmut nicht. Die KandidatInnen wollen sich des Problems annehmen.
Und auch das öffentliche Schulwesen Chiles krankt trotz erheblicher finanzieller Zuwendungen von der Regierung an seiner geringen Qualität. Leistungsmessungen über mehrere Jahre ergeben nur geringfügige Verbesserungen. Mehr Chancen durch bessere Bildung, der Slogan ist griffig, seine Umsetzung verlangt allerdings einen langen Atem – und Geduld von den bislang Benachteiligten.
Die größten Diskrepanzen unter den KandidatInnen zeigten sich in der Fernsehdebatte beim Thema Kampf gegen Kriminalität. Lavín hatte es schon zuvor zum Schwerpunktthema des Wahlkampfes machen wollen, indem er forderte, Gefängnisse auf abgelegene Inseln zu verlegen. Die übrigen KandidatInnen mussten sich der Herausforderung stellen und ebenfalls eine Stärkung des Polizeiapparates versprechen. Lediglich Hirsch versuchte, den Begriff der Prävention weiter zu fassen. Er will durch Bekämpfung der Armut eine der Ursachen für Kriminalität beseitigen. Anders als kalkuliert hat das Thema für Lavín jedoch keine erkennbare Steigerung der Umfragewerte erbracht. Es hat seitdem sowohl im Wahlkampf als auch, verblüffenderweise, in den abendlichen Fernsehnachrichten massiv an Brisanz verloren.
Umfragen nach dieser Fernsehdebatte zeigten kaum veränderte Werte der KandidatInnen. Piñera und Lavín lagen jeweils unter 20 Prozent, während Michelle Bachelet leichte Einbußen hinnehmen musste. Sie erreichte aber immer noch circa 42 Prozent. Hirsch nutzte die Chance, sich und sein Bündnis zu profilieren, indem er sich als einziger gegen das neoliberale System aussprach. Dadurch grenzte er sich deutlich von den anderen KandidatInnen ab. Im Anschluss an die Debatte übertraf er in den Umfragewerten plötzlich weit die bis dahin übliche Fünf-Prozent-Marke. Wie aussagekräftig solche Demoskopien sind, ist fraglich, denn sie basieren häufig lediglich auf telefonischen Umfragen in den größeren Städten.

„Bachelet ist mit dir“

Michelle Bachelet profitiert davon, dass der scheidende Präsident Ricardo Lagos sich bemerkenswerter Zustimmung erfreut – die Rate liegt bei circa 60 Prozent. Die Kandidatin der Concertación betont stärker soziale Akzente für ihre Regierung, was die breite Skala von besserer Bildung, Ausbau des Gesundheitswesens und Einsatz für bessere Chancen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt umfasst. Letzteres soll durch die Möglichkeit von Teilzeitarbeit und vor allem durch Kindergartenplätze, denen auch bei der Behebung der Bildungsmisere eine wichtige Rolle zugemessen wird, erreicht werden. Bachelet war unter Lagos zunächst Gesundheits-, dann Verteidigungsministerin. Es dürften weltweit nicht viele Länder sein, die diesen Job einer Frau anvertrauen. Dass sie ihn vor einem Jahr wieder aufgab, hängt mit dem Reglement für PräsidentschaftskandidatInnen zusammen: ihnen soll kein Amtsbonus zugute kommen. Ihr Vater, ein Luftwaffengeneral, wurde nach dem Putsch 1973 vom Militär als „Verräter“ umgebracht – er hatte ein Amt in der Regierung Allende inne.
Ihr Slogan „Estoy contigo“ setzt auf das Element, das ihr bisher breite Zustimmung in der Bevölkerung eingebracht hat: keine routinierte Politikerin zu sein, sondern eine Frau, die menschliche Wärme ausstrahlt. Eine Präsidentin zum Anfassen.
Bachelet kämpft weiterhin um einen Sieg in der ersten Runde – das würde ihre Position als Präsidentin stärken und sie politisch unabhängiger von ihrem Parteienbündnis machen. In einer zweiten Runde, so Hirsch, würden seine WählerInnen frei entscheiden – ein deutliches Signal. Im rechten Lager ist es weniger eindeutig, dass die Stimmen für den Drittplatzierten im Fall einer zweiten Runde automatisch dem „Sieger“ im rechten Duell zugute kämen. Es gibt Umfrageergebnisse, nach denen ein Teil des Lavín-Lagers im zweiten Urnengang keineswegs für Piñera stimmen würde – und umgekehrt. Die jeweiligen Ergebnisse für die beiden rechten Kandidaten lassen sich also für den hypothetischen zweiten Wahlgang nicht einfach summieren.
Nach den neuesten Umfrageergebnissen des Centro de Estudios Públicos (CEP) vom 15.11., einen Tag vor der zweiten und letzten Fernsehdebatte, schwinden Bachelets Chancen auf einen direkten Wahlsieg in der ersten Runde. Bachelet kommt laut dieser Umfrage nur noch auf 39 Prozent. Die Ergebnisse von Piñera und Lavín hingegen steigen nach derselben Umfrage auf 22 beziehungsweise auf 21 Prozent. Hirsch lag bei drei Prozent, gegenüber früheren zwei Prozent.
Erstmals läge das rechte Lager mit der Summe seiner Stimmen vor Bachelet. Bei einer Stichwahl sieht die Umfrage Bachelet mit 45 Prozent vor Piñera (37 Prozent) beziehungsweise mit 48 Prozent vor Lavín (33 Prozent) Es muss jedoch in Betracht gezogen werden, dass es sich beim CEP um ein privates Meinungsforschungsinstitut handelt, das den Interessen der chilenischen Oligarchie zuzuordnen ist.
Sein Präsident Eliodoro Matte ist Chef eines der drei größten Wirtschaftskonsortien Chiles und der zweitreichste Mann des Landes, der 2000 den Wahlkampf Lavíns finanziell unterstützt hatte. Ob diese Umfrageergebnisse als repräsentativ für die öffentliche Meinung Chiles anzusehen sind oder diese eher zu beeinflussen suchen, bleibt also fraglich.

Kasten:

Wahlen und Schwarzhalsschwäne

Anfang Oktober wollte eine Delegation des Europaparlaments unter dem Vorsitz von André Brie nach Valdivia im Süden Chiles reisen, um sich über die von der Zellulosefabrik Celco verursachte Naturkatastrophe im international geschützten Feuchtgebiet Santuario de la Naturaleza zu informieren. Der für die zehnte Region zuständige Senator, Gabriel Valdés, verhinderte diesen Besuch. Warum? Den Europa-ParlamentarierInnen sagte er, es sei eine im Wahlkampf zu brisante Region. Man solle diese nicht antasten. Den BewohnerInnen von Valdivia erklärte er, er lasse nicht zu, dass Fremde nach Chile kämen, um hier Fabriken zu kontrollieren.
Ex-Präsident Frei (1994-2000) hatte den Grundstein für die Zellulosefabrik Celco gelegt, unter dem amtierenden Präsidenten Ricardo Lagos war sie in Betrieb gesetzt worden. Diese Fabrik vernichtete innerhalb eines halben Jahres das größte Reproduktionsgebiet der Schwarzhalsschwäne in Südamerika und zerstörte auch das sonstige Leben im Naturschutzgebiet. Von den ehemals 6.000 Schwänen waren bei der letzten Zählung nur noch 20 vorhanden. Eine von der staatlichen Umweltbehörde Conama in Auftrag gegebene wissenschaftliche Studie der Universidad Austral stellte eindeutig fest, dass Celco der Verursacher dieser Katastrophe sei. Als Reaktion darauf hatte sich die Bürgerinitiative Acción por los Cisnes (Aktion für die Schwäne) gebildet und mehrere tausend Menschen mobilisiert, um gegen dieses Umweltverbrechen zu demonstrieren.
Am 19. Oktober kam es schließlich zum Eklat, als Präsident Lagos auf einer öffentlichen Kundgebung in Valdivia die Akten zur Bildung einer „neuen Region“ unterzeichnete. Die Schaffung von „neuen Regionen“ ist Teil eines Dezentralisierungsprojekts der Regierung. „Neue Region – ohne Umweltverschmutzung, ohne Celco und ohne Frei“ (derzeitiger Kandidat der Concertación für den Senatorenposten) war das Motto der Bürgerinitiative Acción por los Cisnes, die bei diesem Anlass friedlich demonstrierte. Die Veranstaltung endete mit einem wütenden Präsidenten und 25 verhafteten DemonstrantInnen – illegal verhaftet, wie ein Richter am nächsten Tag feststellen musste.
Celco, einige andere Zellulosefabriken, verschiedene Monokulturwälder, die Tankstellenkette Copec gehören zu einem der größten chilenischen Trusts, dessen Besitzer Anacleto Angelini ist. Angelini finanzierte 2000 die Wahlkampagne für Lagos. Der Präsident von Celco, Etchegaray, war Minister unter der Regierung Frei. Und da die Parteienfinanzierung in Chile nicht transparent ist, weiß man nicht, wie viel Geld Angelini nun in die derzeitige Wahlkampagne der Concertación steckt. Jedenfalls ist das Geld gut angelegt. Es fließen weiterhin täglich 77 Millionen Liter Abwasser in das Naturschutzgebiet. So dankt man alten Freunden – auf Kosten der Umwelt und einer regionalen Wirtschaft, die auf den Tourismus setzt, der laut einer Studie allerdings seit der Eröffnung der Zellulosefabrik um 40 Prozent zurückgegangen ist.
Celco zählt zu den chilenischen Unternehmen, die am meisten Gewinn einbringen, im Zeichen der Globalisierung. Für die Region bedeutet das Armut und Zerstörung. „Das ist der Preis des Fortschritts“ – so Präsident Lagos im Originalton.
Albert Engelke
weitere Informationen:
www.accionporloscisnes.org, www.surda.cl

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