Argentinien | Nummer 451 - Januar 2012

Erfolgsgeschichte mit Kehrseite

Argentiniens Wirtschaft prosperiert seit dem Staatsbankrott im Jahr 2001

Vor zehn Jahren legte Argentinien einen veritablen Staatsbankrott hin. Die politische Klasse leistete ihren Offenbarungseid. Fünf Präsidenten in zwei Wochen, wenn man die notverwaltenden Senats- und Parlamentspräsidenten hinzuzählt, gaben sich die Klinke in die Hand statt der Forderung „Que se vayan todos!“ auf den Massendemonstrationen nachzukommen und abzuhauen. Erst mit dem Amtsantritt im Mai 2003 von Néstor Kirchner stabilisierte sich die Lage deutlich. In der seitdem andauernden Ära des „Kirchnerismo“ legte Argentinien Wachstumsraten in annähernd chinesischen Dimensionen vor. Beeindruckenden wirtschafts- und sozialpolitischen Erfolgen stehen jedoch ökologische Verwerfungen durch den fortschreitenden Ausbau von Soja-Monokulturen entgegen.

Martin Ling

Alle reden von China, kaum einer von Argentinien. Wenn in den Medien von wirtschaftspolitischen Erfolgsgeschichten in Schwellenländern die Rede ist, wird seit Jahren zu allererst das Reich der Mitte genannt, das mit permanent hohen Wachstumsraten inzwischen zur zweitgrößten Ökonomie hinter den USA aufgestiegen ist. Auch Indien und Brasilien werden als positive Beispiele für prosperierende Schwellenländer erwähnt. Argentinien bleibt in diesem Kontext meist ausgespart und kann sich größerer medialer Beachtung erst wieder erfreuen, seit Griechenland dem Staatsbankrott entgegentaumelt. Denn Ende 2001 erklärte Argentinien den größten Staatsbankrott der jüngeren Geschichte und nun werden Überlegungen angestellt, inwieweit der argentinische Weg aus der Krise Athen als Modell dienen könnte. Dabei ist offensichtlich, dass Griechenland als Mitglied der EU und der Euro-Zone dem argentinischen „Modell“ nur mit Zustimmung Brüssels, Berlin und Paris folgen könnte und die wird es sowenig geben, wie einst vom Internationalen Währungsfonds und dem Pariser Club (Zusammenschluss von Gläubigerländern) für Argentinien. Denn diesen Institutionen und Regierungen geht es grundsätzlich darum, die Gläubigeransprüche soweit zu retten, wie es das Land eben zulässt, ohne dass die Interessen der Durchschnittsbevölkerung berücksichtigt werden. Dass Griechenland der EU und den internationalen Finanzinstitutionen die Stirn bietet und sich wie Argentinien „freiwillig“ in die Isolation der Finanzmärkte begibt, ist nicht zu erwarten, zumal das Land realökonomisch mit seiner geringen Produktivität und eingeschränkten Exportpalette nicht die Voraussetzungen hat, ein sich selbst tragendes Wirtschaftswachstum zu erzeugen, wie es Argentinien gelungen ist, nachdem es sich von den IWF-Rezepten losgesagt hat.
Oberflächlich jedoch ist die Situation Griechenlands durchaus mit der Argentiniens vergleichbar. Argentinien taumelte seit 1998 wie jetzt Griechenland mehrere Jahre durch eine schwere Rezession. Das Wachstum stagnierte, der Peso war per Gesetz an den Dollar gekoppelt, was eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt mittels Abwertung ebenso ausschloss wie jetzt bei Griechenland aufgrund der Gemeinschaftswährung. Wie in Athen folgte auch in Buenos Aires Sparpaket auf Sparpaket. Und hier wie dort mündeten diese immer tiefer in die Krise. Damit aber enden die Parallelen. Ein Einfrieren der Bankguthaben, um die Kapitalflucht einzudämmen, wie es die Regierung von Fernando de la Rúa im Dezember 2001 verfügte, ist jenseits des Handlungsspielraums eines griechischen Premiers, ebenso wie die einseitige Einstellung der Schuldenzahlungen, wie sie Übergangspräsident Adolfo Rodríguez Sáa nach dem Rücktritt de la Rúas verkündete. Dessen Abgang war durch massive Proteste erzwungen worden: Aufgebrachte Bürger_innen demonstrierten auf den Straßen, Supermärkte wurden geplündert, der Nationalkongress brannte. Bei den blutigen Unruhen kamen damals mindestens 22 Menschen ums Leben. Wenigstens de la Rúa leistete der Parole „Que se vayan todos“ (Alle sollen abhauen), die der ganzen Politikerklasse galt, Folge.
Als Rodríguez Sáa in der letzten Dezember-Woche des Jahres 2001 verkündete, die Schulden nicht mehr bedienen zu können, stand das Land mit mehr als 100 Milliarden Dollar bei Gläubiger_innen auf der ganzen Welt in der Kreide. Es war der größte Zahlungsausfall in der Geschichte der Schwellenländer. Anfang 2002 hob der neue Präsident Eduardo Duhalde dann die seit 1991 gesetzlich festgeschriebene Bindung der Landeswährung Peso an den Dollar auf, die bedeutende Teile der heimischen Exportwirtschaft wegen der sukzessiv angestiegenen Überbewertung in den Ruin getrieben hatte. Seit dem Staatsbankrott 2001/2002 ist Argentinien ein „Paria“ auf den internationalen Finanzmärkten. Zudem kam der harte Kurs des von 2003 bis 2007 amtierenden Präsidenten Néstor Kirchner gegenüber den privaten Gläubiger_innen nicht gut an. Nach dem sonst nur vom IWF bekannten Motto „Friss oder stirb“ bot er 2005 den privaten Anleger_innen an, entweder auf 75 Prozent ihrer sich insgesamt auf 104 Milliarden US-Dollar belaufenden Forderungen zu verzichten oder ganz leer auszugehen. Die Rechnung ging für Argentinien zu 80 Prozent auf, nur Gläubiger_innen in Höhe von insgesamt 20 Milliarden Dollar verweigerten sich damals der Zwangsumschuldung und versuchen teils bis heute, juristisch ihre Forderungen zu realisieren. Nach zwei weitere Umschuldungsaktionen im Dezember 2010 sind inzwischen rund 93 Prozent der 2001 notleidend gewordenen Anleiheschulden umgeschuldet. Die Regierung der 2007 ihrem Mann an der Staatsspitze folgenden Cristina Fernández de Kirchner hegt nun die Hoffnung, dass jene Altgläubiger_innen, die weiterhin auf volle Rückzahlung ihrer Forderungen klagen, bei Richter_innen auf taube Ohren stoßen. Noch immer beläuft sich der vor Gerichten in aller Welt verhandelte Streitwert aus Argentinien-Anleihen auf mehr als vier Milliarden US-Dollar. Nach ihrer triumphalen Wiederwahl Ende Oktober wird erwartet, dass Cristina Fernández die laufenden Verhandlungen mit dem Pariser Club bald zu Ende bringt. Den dort versammelten Gläubigerländern schuldet Argentinien seit 2001 rund 7 Milliarden Dollar, die nun beglichen werden sollen, wobei um die Konditionen noch gefeilscht wird.
Zwar hat die „Paria-Stellung“ Argentinien de facto vom internationalen Kapitalmarkt abgeschnitten, doch das Land konnte das gut verkraften. Das beträchtliche Wirtschaftswachstum von 2003 bis 2007 mit jährlichen Raten von über acht Prozent kam ohne Zufluss von ausländischem Kapital zustande – in Griechenland wäre ein solches Szenario aufgrund der Schwäche der Binnenwirtschaft undenkbar. Und auch nach dem Einbruch 2009 durch die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise kombiniert mit einer Dürre, konnte Argentinien bereits 2010 wieder über sieben Prozent Wachstum verzeichnen. Ein generelles Ende dieses Wirtschaftsbooms ist nicht in Sicht, auch wenn Argentinien nicht frei von weltwirtschaftlichen Konjunkturen und Verwerfungen sowie interner Probleme wie relativ hoher Inflation und Kapitalflucht ist.
Eine kurz vor Fernández‘ Wiederwahl erschienene Studie des Centre for Economic Policy Research (CEPR) in Washington belegt, wie bemerkenswert gut sich die wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren seit der Zahlungsunfähigkeit des Landes vor neun Jahren entwickelt haben. Argentinien erzielte dieses Wachstum während der letzten neun Jahre trotz der Zahlungsunfähigkeitserklärung, trotz der Schwierigkeiten, auf den internationalen Kapitalmärkten Geld zu bekommen, und trotz relativ geringer ausländischer Direktinvestitionen (FDI), so die Autor_innen Mark Weisbrot, Rebecca Ray, Juan Montecino und Sara Kozameh. Laut der Studie hat die Armut gegenüber ihrem höchsten Punkt um zwei Drittel abgenommen, von fast der Hälfte der Bevölkerung in 2001 auf ungefähr ein Siebtel Anfang 2010. Die extreme Armut sei ebenso stark gesunken, von über einem Viertel der Bevölkerung in 2001auf rund ein Fünfzehntel. Vier Millionen Arbeitsplätze entstanden unter dem „Kirchnerismo“.
Der allgemein verbreiteten Auffassung, dass Argentiniens Wachstum allein von hohen Preisen für seine Agrarexporte, insbesondere Soja, getrieben sei, wiederspricht die Studie. Diese Position vertritt auch Roberto Lavagna, der als Wirtschaftsminister von 2002 bis 2005 den Grundstein für die wirtschaftliche Entwicklung legte, inzwischen aber ein Kritiker der Wirtschaftspolitik des „Kirchnerismo“ ist, den nach dem Ableben von Néstor Kirchner im Oktober 2010 seine Frau alleine anführt. Lavagna verweist darauf, dass zum Zeitpunkt der Restrukturierung der Schulden 2005 die argentinischen Agrarexporte bei zwölf Milliarden US-Dollar lagen und nicht bei 40 Milliarden Dollar wie derzeit. „Der Export hat geholfen. Aber er kam erst viel später.“ In der Tat hatte Argentinien schon vor dem Soja-Boom hohe Wachstumsraten, die vor allem auf der Revitalisierung der argentinischen Wirtschaft infolge der durch die massive Abwertung des Peso gestiegenen Wettbewerbsfähigkeit beruhten. Soja wird inzwischen auf der Hälfte der verfügbaren Ackerfläche angebaut – auf 19 Millionen Hektar. Eine Ausfuhrsteuer von 35 Prozent lässt den Staat mitverdienen und verschafft ihm Mittel für Sozialprogramme zur Armutsbekämpfung. Über die ökologischen und sozialen Folgen wird hinweggesehen: Die Felder werden meist mit einem Cocktail aus Agrochemikalien besprüht, gegen die das genveränderte Soja resistent ist. Hauptwirkstoff: Glyphosat. Die Folgen sind unter anderem Fehlgeburten und Missbildungen und eine Zunahme der Krebserkrankungen. Eine gesellschaftliche Debatte über Gensoja findet kaum statt.
Neben den Sojaexporten sind es vor allem die Autoindustrie und die Telekommunikations- und Softwarebranche, die neben dem hohen privaten Konsum Argentiniens Wirtschaft antreiben. Auch ein massiver Ausbau des Bergbaus ist geplant – im Fokus steht die Produktion von Gold, Silber, Kupfer, Lithium und Kaliumchlorid. Hier wird sich erweisen, ob das 2010 verabschiedete Gletscherschutzgesetz Bergbauprojekten wenigstens dort Grenzen setzt, wo Gletscher oder deren Umfeld gefährdet sind.
Das Potenzial für anhaltendes Wirtschaftswachstum ist gegeben. Für Lavagna besteht allerdings Grund zur Besorgnis: „Die Inflation ist hoch, die Preise steigen immer weiter, die Haushaltsdisziplin wurde aufgegeben. Während die Steuereinnahmen sinken, steigen die Ausgaben des Staates. 2005 hatten wir noch ein Plus im Haushalt von 16 Milliarden US-Dollar, in diesem Jahr wird die Regierung ein Defizit aufweisen. Investitionen, die nötig wären, werden nicht getätigt.“
Die Regierung steuert mit unorthodoxen Mitteln dagegen: Seit Jahresbeginn 2011 verlangt Argentinien, dass Autohersteller genauso viel exportieren wie importieren, um die Handelsbilanz zu verbessern und den schneller als die Exporte steigenden Importen entgegenzuwirken. Seitdem tritt Porsche als Weinhändler auf, Nissan will seine Quote unter anderem durch die Ausfuhr von Sojaöl und Biodiesel erfüllen. BMW musste zeitweise seinen Import aus Deutschland stoppen, weil mangels Einigung die Autos im Hafen auf Halde lagen. Erst Mitte Oktober einigte sich BMW einem Sprecher zufolge mit der Regierung auf den Export von Fahrzeugteilen, argentinischem Leder und Agrarprodukten im Gegenzug zu den Autoimporten aus Deutschland. Solche Gängelung von Unternehmen kann sich nur eine Regierung leisten, die weiß, dass diese auf den Absatzmarkt ihres Landes angewiesen sind. Die von Lavagna angesprochenen Defizite bei den Investitionen könnten sich allerdings zur Achillesferse des argentinischen Wirtschaftswunders entwickeln: Ohne Innovation und Erneuerung des Kapitalstocks kann die wirtschaftliche Dynamik nicht aufrechterhalten werden. Ganz zu schweigen davon, dass die Böden auslaugende Soja-Monokultur ebenso wie der private Konsum natürliche beziehungsweise monetäre Grenzen hat.

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